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# taz.de -- Geschäft Während die Polizei in der Vorstadt Plantagen räumt, de…
> Tausend Deutsche sind abhängig von Cannabis, 1,3 Millionen von Alkohol.
> 4,7 Millionen Deutsche rauchen
von Daniel Schulz, Plutonia Plarre, Elisa Britzelmeier und Luciana Ferrando
In einer anderen Welt wäre Pascal N. als Cannabis-Züchter vielleicht längst
reich geworden. Es hätte eigentlich schon gereicht, in einem anderen Land
aufzuwachsen. Weil er allerdings in Berlin-Spandau, Deutschland, lebt und
nicht in Denver, USA, erfuhr N. während einer Schicht als
Fahrkartenkontrolleur in der U-Bahn, dass zu Hause ein Mannschaftswagen der
Polizei vor seiner Tür stand. Pascal N. fuhr also los, eine Stunde vom
Berliner Osten ganz in den Westen, zu den Männern und Frauen, die seine
Wohnung aufgebrochen hatten.
Das war am 11. September 2014. N. erinnert sich noch daran, dass die
Polizisten ihn auf dem Weg in die Untersuchungshaft fragten, ob sie ihm
Handschellen anlegen müssten. Er fand das ziemlich nett damals.
Als Pascal N. ins Gefängnis musste, durften Menschen im US-Bundesstaat
Colorado seit neun Monaten Marihuana kaufen. Inzwischen ist das auch in
Washington an der Westküste und in Oregon so, 23 Staaten der USA und Kanada
erlauben den Verkauf von medizinischem Cannabis. Die Erben von Bob Marley
wollen ins Geschäft einsteigen, der Rapper Snoop Dogg hat eine soziales
Netzwerk nur für Kiffer gegründet. Für Colorados Hauptstadt Denver listet
der Touristenführer „Colorado Pot Guide“ mehr als 100 Geschäfte auf und
liefert dazu Adressen von kifferfreundlichen Hotels und Pensionen.
Die Boxen, in denen die Angeklagten im Gerichtssaal in Berlin-Moabit
sitzen, sehen aus wie Fahrkartenschalter auf einem Bahnhof, Streben aus
braunem Holz und Metall, dazwischen Glas. In einem dieser Kästen sitzt ab
Februar 2015, als sein Prozess beginnt, Pascal N. Er ist 26, hat blaue
Augen, helle Brauen, ein Gesicht zwischen Junge und Mann, das rund wird,
wenn er lächelt. Im Gefängnis haben ihm Justizbeamte gesagt, er sei ein
guter Junge. Während des Prozesses trägt er graue Pullover, blaue Jeans,
Turnschuhe.
Unauffälligkeit sei die Strategie seines Anwalts, wird Pascal N. später
erzählen. Der Richter soll vergessen, dass er überhaupt da ist. Heute aber
steht er im Mittelpunkt, er wird reden.
In Deutschland verfolgt die Polizei Haschischraucher und Hanfanbauer immer
noch. Sie ermittelte 2014 in 161.000 Cannabis-Delikten. Der höchste Wert
der vergangenen sechs Jahre. Doch auch hier ändert sich gerade etwas. Die
Grünen haben einen Entwurf für ein Cannabis-Kontrollgesetz vorgelegt,
Erwachsene sollen bis zu 30 Gramm Marihuana kaufen und besitzen dürfen. Der
Regierende Bürgermeister in Bremen sagte als erster Landesregierungschef,
die Kriminalisierung von Cannabis sei nicht mehr zeitgemäß. Sogar der
wirtschaftspolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Joachim
Pfeiffer, fordert einen legalen Cannabismarkt.
Und in Berlin-Kreuzberg sitzt im August ein Mann in einem Café im Görlitzer
Park und hat einen Plan, der das Land verändern könnte. Horst-Dietrich
Elvers ist Suchthilfekoordinator des Bezirksamts Friedrichshain-Kreuzberg.
Er will Deutschland seine ersten Coffeeshops bescheren. „Ich habe noch nie
gekifft“, sagt Elvers, 41 Jahre alt, Ohrring, Ehering, helle Hose,
kurzärmeliges Hemd. Trotzdem hat er beim Bundesinstitut für Arzneimittel
und Medizinprodukte vier Marihuana-Fachgeschäfte für den Bezirk beantragt:
Alle erwachsenen Einwohner von Friedrichshain-Kreuzberg sollen dort bis zu
60 Gramm Cannabis im Monat kaufen können.
Es ist heiß, Elvers sitzt draußen. Ein paar Wochen wird es noch dauern, bis
der Herbst kommt und sein Plan fürs Erste scheitert.
Man muss die Coffeeshops, die er beantragt hat, wohl als Abwehr verstehen.
Gegen die Dealer im Park, die eine Zeit lang nicht nur Berlin, sondern ganz
Deutschland beschäftigten. Gegen die Gewalt, die die Geschäfte mit sich
bringen. Vor allem aber will er Jugendliche schützen. Elvers hofft, dass
man mit ihnen besser über die Gefahren reden kann, wenn man Gras nicht
verdammt, sondern es wie Alkohol oder Nikotin betrachtet – als
Genussmittel.
17,7 Prozent der jungen Menschen zwischen 18 und 25 haben in den
vergangenen 12 Monaten Cannabis konsumiert. Das zeigt eine aktuelle Studie
der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. 2008 waren es nur 11,6
Prozent. Bisher ist Cannabis in Deutschland nur als Medikament zugelassen
und nur in Ausnahmefällen, zum Beispiel bei Multipler Sklerose, ADHS oder
depressiven Störungen.
Wenn Angeklagte in einem Prozess aussagen, lassen sie ihre Verteidiger
meist vom Blatt ablesen. Pascal N. redet an diesem Prozesstag selbst. Es
ist Frühjahr 2015. N. gegenüber sitzt einer seiner ältesten Freunde, Sven
W. Beide kennen sich schon so lange, dass Pascal N. sich nicht erinnern
kann, seit wann. Der Freund fragte ihn, ob er sich nicht ein bisschen was
dazuverdienen wolle. Jemand suchte Räume für Hanfplantagen.
N. kifft selbst nicht, Gras mache ihn müde, sagt er. Ihn reizte die
Aussicht, schnell an Geld zu kommen. Außerdem wollte er seine Mutter mit
billigem Gras versorgen. Sie war früher Finanzbeamtin, leidet nach einer
Borreliose an Muskelschwäche und kann seit Jahren nicht arbeiten. 358 Euro
im Monat gebe ihr der Staat, sagt sie. Wenn sie die Treppen zum
Gerichtssaal hinaufgeht, hat sie Schmerzen. Gras vom Arzt zu bekommen, ist
ihr zu teuer und zu kompliziert. Sie sagt, sie kriege das Gramm noch für
zehn Euro, wo gebe es das schon noch in Berlin, sie sei eine treue Kundin.
Vom März bis Dezember 2012 gehörte Pascal N.s Wohnzimmer Harry. So sollte
er den Holländer nennen, der seine Fenster abklebte, damit die Nachbarn
nichts merkten, der die Hanfpflanzen in seine Wohnung brachte und die
Lampen anbaute, die grünen Setzlinge brauchen das richtige Licht.
Einhundert Pflanzen könnten da gestanden haben, vielleicht auch
zweihundert. „Mir wurde nichts weiter verraten“, sagt Pascal N. zum
Richter, er berlinert, die Stimme dunkel und rau, „aber ich wollte es auch
nicht wissen.“ Seinem Freund Sven W., der ihn an Harry vermittelt hatte,
gab er einen Wohnungsschlüssel. Harry düngte die Pflanzen, goss sie,
manchmal an einem Tag pro Woche, mal an dreien.
N. hatte Angst vor der Polizei und schlief öfter bei Freunden. Nicht nur
die Plantage war ihm unheimlich, der Holländer war es auch. „Wenn es nicht
so lief, ist er ausgerastet“, sagt N. Es lief öfter nicht. Ungeziefer
befiel die Pflanzen, „so kleine Spinnentiere“. Harry sprühte Gift. Sie
ernteten alle zehn bis zwölf Wochen.
Pascal N. half, die Blütenstände von den Pflanzen zu schneiden und sie in
Pappkartons zu legen. Karton nimmt die Feuchtigkeit der Pflanzen auf, das
half gegen Schimmel.
Es war ihm nicht egal, was mit den Pflanzen passierte, er wollte
profitieren, aber dabei so wenig wie möglich involviert sein. Beim Wiegen
des Grases war er nicht dabei, er hörte aber, wie die anderen von drei
Kilogramm pro Ernte redeten. Wieder war der Holländer unzufrieden, er hatte
das Doppelte erwartet.
Nach drei Ernten, im Winter 2012, war plötzlich Schluss. N. merkte es, als
er nach Hause kam und in einem leeren Wohnzimmer stand. Die Pflanzen, die
Lampen, die Kartons – alles weg. Wahrscheinlich hatte der Holländer es
mitgenommen.
Eine Bande sollen sie sein, sagt der Staatsanwalt. „Eine Familienbande wohl
eher“, sagt Pascal N.
Sieben Männer und eine Frau sind mit ihm angeklagt, die meisten, weil sie
in Wohnungen Hanf angebaut haben. Einer hat die Ware aufgekauft und
weitergedealt.
N. kennt sie fast alle. Sie sind in Spandau zusammen aufgewachsen. Da sitzt
ein Mann, der jetzt mit der Frau zusammenlebt, mit der N. eine fünfjährige
Tochter hat. Der arbeitete früher bei Obi, kam billig an Baumaterialien für
die Plantagen heran und mietete für den Grasanbau extra eine Wohnung. Neben
ihm Sven W., der Freund, der N. mit dem Holländer zusammengebracht hat. W.
ist mit der Schwester von N.s Exfreundin liiert. Die vier – der
Obi-Mitarbeiter, die Mutter von N.s Tochter, Sven W. und die Schwester von
N.s Exfreundin – wollten am 12. September 2014 heiraten, Doppelhochzeit,
der Raum war gemietet, die Gäste hatten Salate gemacht. Dann kam am Tag
davor die Polizei.
In den Verhandlungspausen ziehen seine Freunde Pascal N. auf, weil man ihm
ansieht, dass er Angst hat, nervös ist. Einer holt eine Packung
Papiertaschentücher heraus und sagt: „Hier, die brauchst du noch.“ Es ist
ein Running Gag, über den alle immer wieder lachen, weil Pascal N. geweint
hat, als sie ihn aus der Untersuchungshaft entlassen haben. Dabei ist er
doch der Rapper in der Gruppe, King Avatar, erster Song mit 13 Jahren,
Scheißbullen und Huren, alles dabei. Seine Mutter singt seine Lieder mit,
er findet das peinlich, lächelt aber, wenn er sie deswegen anpöbelt.
N. hat seinen Job als Fahrkartenkontrolleur verloren, sein Mikro für 300
Euro und den Verstärker musste er verkaufen, wegen der Prozesskosten.
Harry, der Holländer, ist auch da. Roland May heißt er, erfährt Pascal N.
in der Haft und dass er ein Großunternehmer mit mehr als 30 Mitarbeitern
und Plantagen in brandenburgischen Kleinstädten gewesen sein soll. Damit
Richter und Staatsanwälte den Fall bewältigen können, splitten sie ihn in
drei Prozesse, May ist in allen die zentrale Figur. Über ihn wollen sie an
weitere „holländische Investoren“ rankommen. Pascal N.s Wohnung in einem
vierstöckigen grauen Mietshaus im Westen Berlins war nur eine kleine
Filiale.
Zwanzig Kilometer weiter östlich sitzt Horst-Dietrich Elvers im Café im
Park und sagt, dass das Marihuana für die Coffeeshops möglichst in der
Region angebaut werden sollte. „Ideal wäre Gras aus Berlin. Kurze Wege,
kein unnötiger CO2-Ausstoß.“ Wenn sich die Idee von Elvers langfristig
durchsetzt, könnten aus Menschen wie Pascal N., die heute noch als
Verbrecher gelten, vielleicht einmal Unternehmer werden.
Leute wie Elvers sind die neue Hoffnung von allen, die eine Freigabe von
Cannabis wollen. Sie sind keine Altkiffer, die endlich ihre Drogen
unbesorgt kaufen wollen und an ein Recht auf Rausch glauben. Sondern
nüchterne Politiker in Anzügen. Sie argumentieren, die bisherige Politik
gefährde die Gesundheit der Bevölkerung und treibe dem organisierten
Verbrechen Kunden in die Arme.
Vor allem bei den Sozialdemokraten bewegt sich derzeit etwas. Da ist der
Berliner Gesundheitspolitiker Thomas Isenberg, der mit seiner weißen Tolle
aussieht wie ein Reeder. Oder der Koordinator des Arbeitskreises
Drogenpolitik Burkhard Blienert, Kurzhaarschnitt, randlose Brille, der
könnte bei einer Sparkasse arbeiten. Sie wollen eine Freigabe von Cannabis,
aber mit strengem Jugendschutz.
Das Betäubungsmittelgesetz entsprechend zu ändern, lehnt
Gesundheitsminister Hermann Gröhe ab, die Drogenbeauftragte der
Bundesregierung ebenfalls. Aber Veränderungen müssen nicht per Bundesgesetz
deklariert werden. Dass sich tatsächlich etwas verändert, liegt vor allem
an den Kommunen.
In Düsseldorf haben die Abgeordneten des Stadtparlaments ihre Verwaltung
aufgefordert, einen Entwurf für ein Musterprojekt wie in Berlin zu
entwickeln. In Hamburg-Altona diskutieren sie das ebenfalls. Elvers wird
oft zu Veranstaltungen dort eingeladen. Wenn von ganz oben nichts kommt,
dann gibt es vielleicht eine kommunale Graswurzelbewegung. Eine Revolution
von unten.
Der, den sie auf den Fluren des Gerichtssaals den „Casanova“ nennen, will
offenbar auch seinen Beitrag dazu leisten, mit seinen Anträgen. Heinz-H.
Möller ist einer der Verteidiger im Prozess. Er liest so schnell, das
manche im Gerichtssaal gar nicht mitkommen. Der Holländer und seine
Übersetzerin zum Beispiel. Seit über dreißig Jahren tue er sich solche
Prozesse an, sagt Möller. Cannabis, immer wieder.
Dabei habe es doch noch keinen einzigen bekifften Amokläufer gegeben, dafür
umso mehr besoffene. Deswegen spricht Möller wie einer, der Wut in sich
trägt, den Arm auf die Bank vor ihm gestützt, ein Schluck aus der
Wasserflasche, Blick auf den Richter, weiter, fünf Anträge, der kürzeste
zwei Seiten, der längste sechs.
Möller will einen medizinischen Sachverständigen laden lassen, der sagt,
Marihuana führe bei Schwerkranken zu einer „spürbaren Verbesserung des
Allgemeinbefindens“, einen Professor von einer psychiatrischen Klinik, der
zwar gegen eine Freigabe von Cannabis ist, aber sagt, Cannabis sei vor
allem für die schädlich, die es in sehr jungem Alter konsumieren. Außerdem
will Möller einen Psychotherapeuten aus Bremen reden lassen, der 2013 eine
Streitschrift für die Entkriminalisierung mitinitiiert hat – 122
Strafrechtsprofessoren haben sie unterschrieben. Ein Substitutionsmediziner
soll sagen, dass die „Verwahrlosungs- und Delinquenztendenzen nicht kausal
auf die Einnahme der Droge selber“ zurückzuführen seien, sondern deshalb
auftreten, weil die Droge verboten sei und illegal beschafft werden müsse.
Ein anderer Mediziner soll kommen und sagen, chemische Drogen seien
gefährlicher als natürliche Rauschmittel.
Es ist das volle Programm, die Drogendebatten der vergangenen Jahrzehnte.
Möller will die geringe Schuld seines Mandanten belegen, aber der
Rechtsanwalt macht das Spektakel auch, weil es ihm um das Grundsätzliche
geht.
Pascal N. und die anderen Angeklagten finden ihn cool, sie haben ihm wegen
seines dramatischen Auftritts den Spitznamen „Casanova“ verpasst.
Während Pascal N.s Prozess läuft, sprechen in der Verwaltung von Kreuzberg
Unternehmer und Investoren vor, erzählt Horst-Dietrich Elvers, der
Suchthilfekoordinator. Sie wollen bei den ersten Coffeeshops Deutschlands
dabei sein. „Nach dem Motto: Wir haben Kapital. Was braucht ihr?“, sagt
Elvers. Sogar ein CDU-Naher sei dabei gewesen. Wenn er an den Auftritt des
Mannes denkt, muss er schmunzeln. „Sein Bestreben war, Cannabis mit einem
modernen Geschäftsmodell und einer seriösen Finanzierung aus der
Schmuddelecke zu holen“, sagt er.
Im Frühjahr vergangenen Jahres warf einer der vielen Dealer im Görlitzer
Park einen Rucksack auf das Gelände eines Kinderbauernhofs, der sich im
Park befindet. Die Polizei fand darin eineinhalb Kilo Gras und einen Scheck
über 65.000 Euro. Wer bringt das Marihuana in den Park? Laufen Verbindungen
zu dem, was die Polizei organisiertes Verbrechen nennt? Das wollen viele
der Legalisierungsbefürworter verhindern.
Auf den Zuschauerbänken im Gerichtssaal in Berlin-Moabit sitzen meistens
wenige Menschen, Pascal N.s Eltern kommen immer, und die Freundinnen zweier
Angeklagter. An einem der Prozesstage sitzen da drei massige Typen, Rocker.
Es ist ein sonniger Nachmittag im März, eine Kommissarin erzählt gerade,
wie sie eine der Wohnungen entdeckt haben, die für den Cannabis-Anbau in
Spandau gemietet wurden.
Auf einmal Unruhe, ein Wachmann geht auf die drei Männer zu, versucht,
einem das Handy wegzunehmen. „Was willst du?“, grollt der zurück. „Die
versuchen zu fotografieren“, sagt der Wachmann zum Richter. Er ist groß und
schmal, er wirkt wie ein Baum zwischen drei Felsen. Jetzt reizen die Rocker
ihn, stellen sich dumm. „Das siehst du falsch mit deiner Brille!“, sagt
einer. „Wir fühlen uns diskriminiert!“, ein anderer.
Als der Richter verlangt, dass die drei ihre Handys herzeigen, ist dort
kein Foto. Sie könnten es gelöscht haben, vielleicht gab es nie ein Bild,
aber eines haben sie geschafft: Sie wurden gesehen, jeder weiß jetzt, dass
dieser Prozess von ihnen beobachtet wird. Die Wörter „Hells Angels“ fallen
an diesem Tag nicht, aber lange schon erzählen Angeklagte, und es steht
auch in den Zeitungen, dass Roland May, der Holländer, von Rockern bedroht
worden sei oder das zumindest behaupte. Ab diesem Tag wird jeder, der in
den Gerichtssaal will, einmal öfter kontrolliert.
Später, als Anwalt Möller den Gewerkschaftsvorsitzenden der Polizei laden
will, scherzen zwei andere Verteidiger, zurückgelehnt in ihren Stühlen,
dass in Colorado schon mehrere Konzerne ins Geschäft eingestiegen seien.
Einer der beiden sagt, er müsse mal schauen, ob seine Lebensversicherung
nicht schon in den Anbau von Haschisch investiere.
Möller will diesen Scherz nicht so stehen lassen, fünf Tage später hat er
wieder einen Antrag dabei, zwei Seiten, er wird laut, er sieht ohnehin
immer ein wenig wütend aus, wegen seines geröteten Gesichts, der dichten
Augenbrauen, die wie spitze Dächer nach oben ragen. Ihm sei gar nicht an
einer ungehemmten Legalisierung der Droge gelegen, sagt Möller, sondern an
deren Lizenzierung und Besteuerung. Was in den USA passiert, nennt er
„nahezu apokalyptisch wirkende kapitalistische Ausuferungen.“
So würden auch viele der neuen deutschen Cannabiskämpfer die Situation in
den USA beschreiben, wenn auch weniger harsch. Liberaler wollen sie es auch
hier haben, aber eine Droge der freien Marktwirtschaft zu überlassen, so
völlig ohne staatliche Kontrolle, das ist ihnen suspekt. Vorbilder für eine
Legalisierung gibt es nicht nur in den USA.
In Uruguay darf jeder seit Mai 2014 sechs Cannabispflanzen bei sich zu
Hause ziehen. Privatleute können sich zu Cannabisclubs zusammentun und
maximal 99 Pflanzen anbauen. Wer sein Gras nicht selbst herstellen will,
darf es in Apotheken zu festgelegten Preisen kaufen, Cannabissamen gibt es
bei einer staatlichen Stelle, die Behörden kontrollieren Anbau und Handel.
Ausländer sind von diesem Modell ausgeschlossen.
In Europa galten die Niederlande lange als das liberalste Land, was den
Umgang mit Cannabis angeht, aber alles, was dort in Coffeeshops verkauft
wird, muss vorher illegal angebaut und beschafft werden. Aufzucht und
Vertrieb von Cannabis sind verboten. Das Geld geht an kriminelle
Organisationen.
In Spanien steht der Handel mit Marihuana und Haschisch unter Strafe, der
Anbau für den Eigenbedarf und der Konsum werden aber geduldet.
In Portugal hat die Regierung die Strafen für den Besitz und den Konsum von
geringen Drogenmengen aufgehoben, wer mit zwei Gramm Kokain oder fünf Gramm
Haschisch erwischt wird, begeht nur noch eine Ordnungswidrigkeit.
Welches Modell könnte in Deutschland funktionieren? Wenn man den neuen
Hanfkämpfern zuhört, wollen sie jedenfalls, dass der Staat dabei ist,
kontrolliert, mitverdient.
Pascal N. findet den Plan für die Kreuzberger Coffeeshops nicht schlecht.
In den Prozesspausen redet er manchmal mit den anderen Angeklagten darüber.
Alkohol sei doch viel schlimmer, finden sie.
„Jedenfalls Quatsch, wenn alle sagen, die Kids kommen dann zu leicht ran“,
sagt Pascal N. „Die kiffen doch jetzt schon alle, und wenn es staatlich
wär’, bekämen sie wenigstens nicht so gestreckten Schrott.“ Marihuana und
Haschisch werden mit Haarspray, Vogelsand, Blei oder Schimmel gestreckt.
Seit 2006 komme das immer häufiger vor, sagt der Sprecher des deutschen
Hanfverbands.
Horst-Dietrich Elvers steht am Fenster seines Büros im Rathaus Kreuzberg.
Er blickt auf die Kastanie im Innenhof. Rot leuchtet das Herbstlaub. Wenn
er enttäuscht sein sollte, ist ihm das nicht anzumerken.
Vor 48 Stunden hat er erfahren, dass das Bundesinstitut für Arzneimittel
und Medizinprodukte den Antrag seines Bezirksamts auf die Coffeeshops
abgelehnt hat. „Viel Rauch um nichts“, titelte der Berliner Tagesspiegel.
Elvers sieht das anders. „Für uns ist das kein Scheitern. Wir haben die
Diskussion vorangebracht.“
Am 5. Oktober kam der Ablehnungsbescheid. Der Verkauf von Cannabis zu
Genusszwecken sei mit „dem Schutzzweck“ des bestehenden
Betäubungsmittelgesetzes nicht vereinbar, heißt es darin. Wenn, dann sei es
Aufgabe des Gesetzgebers, das Betäubungsmittelgesetz zu ändern, „sollte
sich die Akzeptanz gesetzlicher Verbotsregelungen im Verlauf einer
gesellschaftlichen Entwicklung tatsächlich verändert haben“.
„Stockkonservativ und platt“, findet Elvers die meisten Anmerkungen. „Eine
ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema sieht anders aus.“ Elvers’Büro
ist funktional eingerichtet. Zwei Äpfel und eine Müsli-tüte im Regal,
ansonsten hauptsächlich Leitzordner. An der Wand ein Lageplan von Kreuzberg
und die jüngste Forsa-Umfrage zum Thema Cannabis. Die CDU hat sie im Sommer
2015 in Auftrag gegeben. 39 Prozent der Berliner wollen, dass alle
volljährigen Bürger legal Cannabis kaufen können. Ein beachtliches Ergebnis
für eine Umfrage der Union, findet Elvers.
Jetzt sei die Politik dran, sagt er. „Ich als Beamter habe meinen Auftrag
erfüllt.“ 2016 sind Berliner Landtagswahlen, 2017 wird ein neuer Bundestag
gewählt. Der Berliner Innensenator Frank Henkel von der CDU begrüßt die
Ablehnung der Coffeeshops. Schon im Ansatz sei „das Kreuzberger
Drogenbiotop“ gescheitert, sagt er, und dass es gut so sei, der Staat dürfe
nicht zum Dealer werden. Henkel, der auch CDU-Landeschef ist, hat den
Görlitzer Park im Frühjahr zur „Null-Toleranz-Zone“ erklärt.
Am letzten Tag, als im September das Urteil verkündet wird, kommt Pascal N.
in dunkler Hose und weißem Hemd. Seine Mutter sagt, das sehe aus, als wolle
er sich bei den Richtern einschleimen. Dabei war er nur arbeiten, 14
Stunden auf einer Messe, Sicherheitsdienst, 8,60 Euro die Stunde. N. ist
nervös, er stülpt die Lippen nach innen, nach außen, immer wieder, kaut
darauf herum, der Staatsanwalt hat zwei Tage vorher zwei Jahre und neun
Monate für ihn gefordert, da wurde er so bleich, dass seine Augen wie zwei
ins Weiße gestanzte Löcher wirkten.
Ein Jahr und sechs Monate, sagt der Richter.
Pascal N. schaut seinen Anwalt an. In seinem Gesicht bewegt sich nichts.
„Wo bleibt das mit der Bewährung, habe ich gedacht“, sagt er später,
draußen.
Ein Jahr und sechs Monate. Auf Bewährung.
Daniel Schulz, 36, ist Redakteur der taz.amwochenende und raucht Gras, seit
er 16 ist, hat aber nie welches angebaut.
Plutonia Plarre, 60, ist taz-Redakteurin und schreibt schon seit Jahren
über Cannabis.
Elisa Britzelmeier, 26, ist freie Journalistin und denkt bei Gras an ihre
Erasmus-Zeit in Italien.
Luciana Ferrando, 37, ist freie Journalistin und schrieb zum ersten Mal
über das Thema.
17 Oct 2015
## AUTOREN
Daniel Schulz
Plutonia Plarre
Elisa Britzelmeier
Luciana Ferrando
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