| # taz.de -- Das Gespenst des Neoliberalismus | |
| > GEGENWART Die Klage über ihn droht zu einer leeren Formel zu werden, aber | |
| > er arbeitet weiter, der Neoliberalismus. Grund genug, mal wieder genau | |
| > hinzuschauen | |
| Bild: Ohne die Erfindung der Uhr kein Kapitalismus | |
| von Kai Schlieter | |
| Der Neoliberalismus musste viel einstecken. Oft wurde er angeprangert für | |
| alles, was schlecht läuft in dieser Welt. Bei jeder Gelegenheit zerrte man | |
| ihn hervor. Das führte zu einer Unschärfe. Weltanschaulich wenig sicher | |
| verortete Menschen entwickelten eine Abneigung gegen den als reinen | |
| Kampfbegriff wahrgenommenen „Neoliberalismus“. Undifferenziert, | |
| verschwörungstheoretisch, unbrauchbar sei er. | |
| Das ließ manchem die neoliberale Ideologie als etwas erscheinen, das | |
| womöglich gar nicht existierte. In dieser Deckung breitete sich der | |
| Neoliberalismus aus und erschien mit den Jahren als scheinbar objektive | |
| Ordnung effizienter Märkte, die bald auch andere Felder menschlichen Lebens | |
| erklärte. | |
| ## Feind des Wissens | |
| Der Markt regelt sich am besten selbst, jeder Eingriff wird als Störung | |
| einer quasi mythologischen Ordnung gegeißelt, die seine Effizienz und | |
| magische Richtigkeit gefährdet. Diese Logik funktionierte bis zum globalen | |
| Finanzchrash 2008. Und dann? Ging es einfach weiter. | |
| Der Neoliberalismus stellt, wie der britische Politikwissenschaftler Colin | |
| Crouch schreibt, die „einflussreichste politische und ökonomische Ideologie | |
| der Gegenwart“ dar. Eine Weltanschauung, die so wirksam ist, dass viele sie | |
| nicht hinterfragen können – so wie einst den Gläubigen der katholischen | |
| Kirche die Aufklärung nur als Scharlatanerie erscheinen konnte. Doch der | |
| Neoliberalismus ist keine Gegebenheit, sondern eine Ideologie, deren | |
| Analyse Bestandteil des Schulunterrichts werden müsste, denn sie demontiert | |
| zunehmend die Demokratie und stellt sie als etwas ineffizient Überkommenes | |
| dar. | |
| Philip Mirowski fragt sich, wieso der Neoliberalismus den Finanzchrash | |
| überleben konnte den womöglich größten institutionellen Betrug der | |
| Geschichte, getragen von einer Finanzindustrie – viele Physiker und | |
| Mathematiker unter ihnen – und von Vertretern eines neoliberalen | |
| Politkartells. „Untote leben länger“ heißt Mirowskis Buch, das nun in | |
| Deutschland erscheint, zwei Jahre später als in den USA. | |
| Bereits 2009 hatte der Wirtschaftshistoriker gemeinsam mit Dieter Plehwe | |
| vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung in „The Road from Mont | |
| Pelerin“ nachgezeichnet, dass der Neoliberalismus eben keine natürliche | |
| Ordnung ist, sondern als Idee einflussreicher Ökonomen, Journalisten und | |
| Politiker einen historischen Ursprung hat, der auf das Jahr 1947 datiert. | |
| Friedrich August von Hayek, Karl Popper oder Milton Friedman zählten zu dem | |
| neoaristrokratischen Debattierclub der Mont Pelerin Society, der seine | |
| Ideen mit Wohltätern, Eliteuniversitäten und Thinktanks international | |
| verbreiten sollte und das hervorbrachte, was Mirowski als „Neoliberales | |
| Denkkollektiv“ bezeichnet. Renommierte Menschen allesamt, viele | |
| Nobelpreisträger, die seither als Experten ihre Einschätzungen als | |
| objektive Tatsachen beschreiben und mitunter auch als Minister in | |
| Erscheinung traten, Gesetze erließen, die Banken deregulieren: | |
| Ex-US-Finanzminister Lawrence Summers beispielsweise. | |
| Colin Crouchs zentrale These, die er bei Mirowski findet, lautet: Der | |
| „Neoliberalismus sei ein Feind des Wissens“. Die Manipulation der | |
| Wechselkurse, die Konstruktion toxischer Finanzderivate, die als solide | |
| gepriesen wurde und gegen die ihre Anbieter zugleich Wetten abschlossen, | |
| auch die Manipulation bei Volkswagen: Unzählig ließen sich die Betrügereien | |
| seit der Deregulierung der Finanzmärkte ab den 1980er Jahren fortsetzen. | |
| Es handelt sich hierbei jedoch nicht um Ausrutscher oder Fehler, sondern um | |
| das funktionierende System des Neoliberalismus. Nicht Recht oder Moral, | |
| sondern der reine Markt ist das Ziel. Deswegen liegt es im Interesse der | |
| Neoliberalen, Wissen zu verhindern, wie Crouch herausarbeitet. Wissen, das | |
| nur außerhalb des von Interessen geleiteten Marktes entsteht. Die | |
| Intransparenz, also das erzeugte Unwissen bei den Verhandlungen zu den | |
| Freihandelsabkommen, erfüllen die Funktion der Profitmaximierung, bei der | |
| Korruption und Betrug schlicht funktional erscheinen. | |
| ## Vertrauen überflüssig | |
| Der Neoliberalismus, schreibt Crouch, beinhalte nun einmal „die | |
| Manipulation von Informationen und die Diskreditierung von Fachwissen“. | |
| Crouch zeigt anhand von Großbritannien, wie die Privatisierung des | |
| öffentlichen Dienstes dem Staat zunehmend die Expertise entzieht. Ein um | |
| Wissen amputiertes Gemeinwesen muss dieses extern einkaufen. Viel teurer | |
| und von Interessen durchsetzt. Das neoliberale Geschäftsmodell. | |
| Es sind in der Regel Monopolisten mit engen Kontakten in die politische | |
| Administration, die zu Auftragnehmern werden. Denn „wie Heerscharen | |
| politischer Theoretiker immer wieder gezeigt haben, zielt das neoliberale | |
| Projekt in erster Linie auf Regulierung und ein neues institutionelles | |
| Arrangement“, wie Mirowski schreibt. | |
| Die Neoliberalen gerieren sich objektiv, wollen glaubhaft machen, „dass der | |
| Markt alle Vertrauensprobleme lösen werde, weil er Vertrauen überflüssig | |
| mache“, schreibt Crouch. Idealtypisch regelt der Markt alles allein. Als | |
| vermeintlich objektive Instanz, nicht korrumpierbar. Seine mythologische | |
| Überhöhung, die ihn als allwissendes Wesen stilisiert, gehört zum Kern der | |
| Ideologie. | |
| Das Dogma wiederholte Ende September der Wirtschaftsnobelpreisträger Eugene | |
| Fama in einem Interview mit der F.A.S: „Niemand ist schlauer als der | |
| Markt“, denn „alle verfügbaren Informationen sind stets unmittelbar in den | |
| Börsenkursen enthalten“. Mirowski charakterisiert diese scheinbare | |
| Funktion, die dem Markt angedichtet wird, „als einen jedem menschlichen | |
| Kopf überlegenen Informationsprozessor“. | |
| Der Neoliberalismus erscheint schließlich als Universaltheorie, die auf | |
| alles anwendbar wurde: „Selbst unschuldige, ahnungslose Tiere waren demnach | |
| neoklassische Wirtschaftssubjekte, auf die Maximierung alles Erdenklichen | |
| aus und in den kognitionswissenschaftlichen Modellen der ‚Neuroökonomie‘ | |
| traten sogar Neuronen als Marktteilnehmer auf. ‚Biomacht‘ wird dazu | |
| eingesetzt, die Natur und unsere Körper für Marktsignale empfänglicher zu | |
| machen.“ | |
| Entstanden ist so der Unternehmer seiner selbst, der sich und seine | |
| Arbeitskraft als Ware zu vermarkten hat, wie der französische Theoretiker | |
| Michel Foucault im März 1979 in der Auseinandersetzung mit dem wenige Jahre | |
| zuvor aufgekommenen Begriff „Humankapital“ geschrieben hat. | |
| Anzufügen wäre, dass der gegenwärtige Informationskapitalismus, der auf | |
| Datafizierung der Welt beruht, die konsequente Weiterführung und eine | |
| Eroberung des Lebens darstellt und diese auch technisch realisiert. Heute | |
| ist das algorithmisch nach Verhaltensklassen quantifizierte Individuum | |
| entstanden, das nur noch aus einzelnen ökonomisch verwertbaren Typologien | |
| zusammengesetzt ist, die als Datenschatten sichtbar gemacht werden. Dies | |
| beschreibt, wie weitreichend das „neoliberale Denkkollektiv“ vordringen | |
| konnte. Das Weltwirtschaftsforum erklärte persönliche Daten 2011 zu einer | |
| Anlageklasse. | |
| Mirowski zitiert Milton Friedman schließlich, der 1951 schrieb: „Eine neue | |
| Ideologie […] muss vordringlich auf eine wirksame Begrenzung der Macht des | |
| Staates zielen, bis ins Kleinste in die Unternehmungen des Individuums | |
| einzugreifen.“ Und Hayek sagte bei der ersten Sitzung in Mont Pelerin: „Die | |
| öffentliche Meinung zu solchen Fragen ist das Werk von Männern wie uns […], | |
| die das politische Klima geschaffen haben, in der sich die Politiker | |
| unserer Zeit bewegen müssen.“ | |
| 13 Oct 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Kai Schlieter | |
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