# taz.de -- Qual Unser Autor kann nicht mehr lesen. Als Junge pflückte er die … | |
> Büchersind 2014 allein in Deutschland neu erschienen | |
von Felix Dachsel (Text) und Martina Wember (Illustration) | |
Ich habe das Lesen verlernt. Die Buchstaben verschwimmen. Ich lese und | |
fühle mich verloren in einem Ozean an Text: “Ulysses“von James Joyce, nur | |
wenige Seiten gelesen, weggelegt. “Der Verlorene“von Hans-Ulrich Treichel, | |
für sehr unterhaltsam befunden, abgebrochen, weggelegt. Die Zeilen | |
vibrieren, die Zwischenzeilen kommen mir entgegen, ich ertrinke im Text und | |
blättere vor, ich zähle Kapitel: Wie lang noch? Ich will schlafen. | |
Ein Buch über die Bundesliga, „Spieltage“, nicht reingekommen, abgebrochen, | |
verstaubt. Noch 44 Seiten: Ich blättere vor und zurück. Michel Houellebecq, | |
„Plattform“, durch die Seiten geschleppt, keuchend, früh kapituliert. Da | |
steht ein Stapel auf dem Tisch, unangenehm herausfordernd; die noch zu | |
lesenden Bücher. Er wächst zum Turm von Babel an. Er steht da und mahnt. | |
Bücher haben neuerdings die seltsame Fähigkeit, im ungelesenen Zustand | |
moralischen Druck auf mich auszuüben. Der Stapel schreit mich an: Lies | |
mich! Ich schreie zurück: Sei still! Ich denke an Elke Heidenreich. Sie | |
hatte mal eine Sendung im ZDF. Die Sendung hieß: LESEN! Lesen. | |
Ausrufezeichen. Ein deutscher Imperativ. Ich denke an Schulbänke, | |
Kreidestaub und Zwang. | |
Ich sitze in einem Café und öffne die App von Spiegel Online. Es ist ein | |
Reflex wie niesen oder husten: Ich scrolle auf und ab, bestelle Kaffee. Ich | |
öffne die App, ohne zu wissen, warum. Ich wische mich durch Bildergalerien: | |
Eine Klickstrecke über den Zauberer Houdini, Bilder von Flüchtlingen, | |
Bilder von Borussia Dortmund, Donald Trump. Ich schaue auf, wische weiter, | |
breche ab: Ich habe das Lesen verlernt. | |
Ich habe ein Bild im Kopf: Der Junge mit der Taschenlampe. Er sollte | |
eigentlich schon schlafen. Unter der Bettdecke liest er stattdessen: | |
„Winnetou“, „Harry Potter“, Astrid Lindgren, ein „Lustiges Taschenbuc… | |
liest, als gehe es um Leben und Tod. Er erobert das Reich der Fiktion, sein | |
Finger liegt auf dem Papier, Zeile für Zeile verleibt er sich Sätze ein, | |
Orte, Welten, Menschen, Gerüche, Lichter. Ich verstehe diesen Jungen nicht, | |
er ist so weit weg: Was hält ihn an den Zeilen? Warum schläft er nicht? Ich | |
denke: Geh schlafen, Junge. Mach das Licht aus. Schlafmangel macht dumm. | |
Ich greife zum Lexikon: da stehen für das Wort „Lesen“ mehrere Bedeutungen. | |
Erstens: Lesen im Sinne von „abnehmen, aufheben, auflesen, aufnehmen, | |
aufsammeln, ernten, pflücken“. Zweitens: Lesen im Sinne von „einen Text mit | |
den Augen und dem Verstand erfassen“. | |
Der Junge mit der Taschenlampe erntet, als bereite es ihm keine | |
Schwierigkeiten: Schwebend pflückt er Satz für Satz, er liest Buch für Buch | |
auf, und je mehr er liest, desto größer wird sein Antrieb. Ich lese und | |
stocke dabei. Ich fühle mich wie ein alter Mann bei der Apfelernte: Ich | |
hebe die Sätze auf. Jeder Satz ein Schmerz. Ich strecke mich nach den | |
Früchten, mein krummer Rücken tut weh. Ich zähle die Seiten: Wie viele | |
noch? Als sei lesen eine lästige Pflicht. | |
Als ich pubertierte, gaben mir Bücher ein Versprechen. Das Versprechen auf | |
Trost. Und sie lösten es ein. Ich badete im warmen Kitsch von Herrmann | |
Hesse, zitterte bei Dürrenmatts „Versprechen“, beneidete Homo Faber um | |
seinen Hut und dafür, dass er in New York Frauen küsste und auf einem | |
Dampfer nach Europa fuhr. Ich feierte fantastische Landgewinne. Das | |
spendete Trost. Der Trost war so real, dass auch die Orte und Menschen, die | |
fiktiv waren, real wurden. Realer als die Realität. Heute schlage ich ein | |
Buch auf und sehe nichts als ein Buch: Papier, Seiten, Zeilen, Zeichen. Ich | |
lege es weg – auf den Stapel noch zu lesender Bücher. | |
Ich saß neulich mit Kopfschmerzen im Zug. Vor mir saß eine Mutter mit zwei | |
Kindern. Sie las aus einem Kinderbuch vor. Sie tat das in einer Lautstärke, | |
dass jeder im Abteil vom kleinen Frosch und seinen Freunden erfuhr. Dann | |
verstellte die Mutter ihre Stimme, sie las jetzt mit Froschstimme. Sie | |
quakte, als gebe es kein Morgen – mit der fröhlichen Selbstgerechtigkeit | |
einer Vorlese-Mama. Ich legte mir einen Satz zurecht: Entschuldigen Sie, | |
können Sie leiser lesen? Entschuldigung, ich versuche zu schlafen. | |
Entschuldigen Sie, Frau Frosch, können Sie aufhören zu quaken? Ich blieb | |
sitzen und sagte nichts. | |
Ich flüchte mich neuerdings in Amazon Instant Video. Ich schaue die Serie | |
„The Affair“. Ich beneide den Protagonisten um sein markantes Kinn und um | |
seine Wohnung in New York. Er heißt Noah und hat ein paar Probleme, weil er | |
sich im Familienurlaub auf Montauk in eine Kellnerin verliebt. Noah ist | |
verheiratet und hat Kinder. Die Kellnerin ist auch verheiratet, heißt | |
Alison und hat dunkle Ränder um die Augen. Sie ist schön und negativ. Noah | |
und Alison schlafen miteinander in verlorenen Hotelzimmern an verlorenen | |
Orten in einer verlorenen Welt. Noah ist ein Vorbild männlicher Einsamkeit. | |
Alison ist gleichzeitig depressiv und hungrig nach Leben. Ich mag Noah und | |
Alison: Sie sind mir nah. Jede Folge von „The Affair“ spendet Trost. | |
Das letzte Buch, das mich nicht schlafen ließ, das ich mitnahm in | |
Straßenbahnen und Fernbusse und erst abends aus der Hand legte, wenn meine | |
Augen tränten vor Müdigkeit, war eine Autobiografie. Ein Freund hatte mir | |
das Buch im Frühjahr zum Geburtstag geschenkt, wir standen vor der Uni; | |
noch im Stehen las ich die ersten Sätze: Pep Guardiola, mein Trainer in | |
Barcelona, mit seinen grauen Anzügen und seiner ständigen Grübelmiene, kam | |
zu mir und sah gequält aus. Ich fand ihn in Ordnung damals, nicht gerade | |
ein Mourinho oder Capello, aber er war okay. Dies war, lange bevor wir | |
anfingen, Krieg zu führen. | |
Das Buch handelt vom wundersamen Leben des größten Fußballers unserer Zeit. | |
Es trägt den angenehm eindeutigen Titel „Ich bin Zlatan Ibrahimović„: Ein | |
Junge, etwas zu groß und etwas laut, armes Elternhaus, bosnischer | |
Abstammung, wächst im schwedischen Malmö auf, zwischen blonden und | |
zurückhaltenden Kindern. Es hätte tausend Arten gegeben, wie sein Leben | |
hätte scheitern können: Er provoziert, macht Sprüche, klaut Fahrräder. Doch | |
Zlatan hat den Ball und einmaliges Talent. Scouts werden aufmerksam, er | |
wechselt für Rekordsummen von Malmö zu Ajax Amsterdam, von Amsterdam zu | |
Turin, von Turin zu Inter Mailand, von Inter Mailand zu Barcelona. Immer | |
begleitet von Mino Raialo, einem dicken, unverschämten Italiener, seinem | |
Berater: einem Genie. Und von einem Selbstbewusstsein, das ihm viele als | |
Arroganz auslegen. | |
Das Buch funktioniert wie eine gute Serie: Die handelnden Figuren sind so | |
unterhaltsam und faszinierend, dass man möglichst viele Tage mit ihnen | |
verbringen will, sie sind schillernd und groß. Man schließt mit ihnen | |
Freundschaften auf Zeit, begleitet sie auf ihre Abenteuer. Auf der letzten | |
Seite hatte ich das Gefühl, eine Urlaubsbekanntschaft ein letztes Mal in | |
den Arm zu nehmen. „Ich bin Zlatan“ war ein Glücksfall. Eine seltene | |
Freude, die kaum den Stapel der ungelesenen, abgebrochenen, der für | |
irgendwann einmal vorgenommenen Bücher aufwog. | |
Im vorletzten Sommer habe ich an wenigen Tagen alle Folgen von „Homeland“ | |
geschaut. Carrie Mathison ist die Heldin der Serie: Eine CIA-Agentin mit | |
bipolarer Störung, die unter dem Eindruck der Anschläge vom 11. September | |
2001 nahezu alles tut, um ihr Heimatland zu beschützen. In der zweiten | |
Staffel steht sie irgendwann auf einem Dach in Beirut. Sie will die Frau | |
eines Hisbollah-Offiziers treffen, eine Informantin. An ihrer Seite ist ihr | |
Kollege Saul, ein amerikanischer Jude mit graumeliertem Bart. Er ist so | |
etwas wie ein väterlicher Freund. | |
Carries Zustand ist schlecht, Heulkrämpfe überkommen sie. Carrie ist | |
angetrieben von der Angst, dass es einen zweiten 11. September geben könnte | |
– und dass sie ein zweites Mal Hinweise auf einen Anschlag übersieht. Sie | |
rast so verloren durch das Land. Sie steht in den Gängen der CIA-Zentrale | |
in Langley. Sie trägt schwarze Hosenanzüge und trinkt Kaffee aus großen | |
Pappbechern. Sie rast durch ein Land der Weizenfelder. Helikopter kreisen | |
über den Feldern. Von Folge zu Folge hoffte ich mehr, dass sich Carrie bei | |
ihrem Wettlauf gegen die Zeit nichts und niemand in den Weg stellt, weder | |
ein Vorgesetzter noch das Gesetz. | |
Sie ist Agentin der CIA, des mächtigsten Geheimnisdienstes der Welt. Sie | |
hat alle technischen Möglichkeiten. Aber sie ist schwach und verletzlich | |
wie ein Kind, getrieben von Verlustängsten, zersetzt von Haltlosigkeit und | |
auch: auf der Suche nach Liebe, Nähe, nach Schutz. Sie ertränkt sich in | |
Alkohol und Tabletten. | |
Ich sehe den Bücherturm, er schreit mich an, ich frage ihn: Warum | |
unterhältst du mich nicht, wie mich Carrie unterhält? Lohnt sich lesen | |
überhaupt? Wäre eine Welt denkbar, in der man nicht lesen muss? | |
Dann denke ich an: Mietverträge, Reisewarnungen, Sicherheitshinweise, | |
Gebrauchsanweisungen, Straßenschilder, Strafzettel und Zeitungsmeldungen. | |
Wir müssen offenbar lesen, um uns in dieser Welt zu orientieren. Auf der | |
einen Seite. | |
Auf der anderen Seite: Für den Notfall, wenn es ums Überleben geht, haben | |
wir längst Lösungen gefunden, die ohne Lesen auskommen. Wenn in einem | |
öffentlichen Gebäude ein Brand ausbricht, dann suchen wir nach einem | |
leuchtenden Schild. Es ist grün und zeigt ein fliehendes Strichmännchen. | |
Wenn wir in der Werkstatt eine Flasche finden, auf der ein Totenkopf | |
prangt, sind wir gewarnt. Und im Flugzeug ist es ein Comic, der uns die | |
Sauerstoffmaske erklärt. Symbole sind nutzerfreundlich. Sie vermeiden | |
Umständlichkeiten, mit denen uns täglich Mietverträge, Verordnungen, | |
Beipackzettel und Romane quälen. Das Symbol hat nur ein Ziel: Es will | |
verstanden werden. | |
Texte haben unendlich viele Möglichkeiten, dieser Verantwortung zu | |
entgehen. Warum erklärt uns ein Handyanbieter unseren Vertrag nicht | |
audiovisuell? Er wäre gezwungen, jeden Winkelzug, jede Hintertür, jede | |
Fußnote zu verbildlichen. Texte kennen Relativsätze, Nominalkonstruktionen, | |
Fremdwörter. Sie begegnen uns mit der Selbstgerechtigkeit des geschriebenen | |
Wortes: Wenn du mich nicht verstehst, ist es deine Schuld. Ich schaue den | |
Bücherturm an und sage: Sprich klar und deutlich! Hör auf zu schwurbeln. | |
Denke daran, dass du verstanden werden willst. Sonst bist du verzichtbar. | |
Und weil ich unsicher bin, ob mich der Bücherturm versteht, erzähle ich ihm | |
eine Geschichte. | |
Im Jahr 1963 erhielt der Werbegrafiker Harvey Ball von einer amerikanischen | |
Versicherungsgesellschaft den Auftrag, einen Ansteckbutton zu entwerfen. | |
Der Button sollte die Mitarbeiter des Konzern motivieren und positiv | |
stimmen. Harvey Ball zeichnete einen Kreis, malte ihn gelb aus und setzte | |
in die Mitte des Kreises zwei Augen und einen lachenden Mund. Ball hatte in | |
diesem Moment das Smiley erfunden. Gut 50 Jahre später prägt das lachende | |
Gesicht die Ikonografie des Internets. Aus dem Smiley hat sich inzwischen | |
eine eigene Sprache entwickelt: die Sprache der Emoticons. Eine Sprache | |
ohne Wörter, international verständlich, in Sekunden erlernbar. Siehst du, | |
Bücherturm, es geht auch ohne Worte. Der Bücherturm bleibt stumm. Kein Wort | |
zu Harvey Bell. Kein Wort zu „Homeland“ und „The Affair“. Buch, du bist | |
ersetzbar. | |
In gewisser Hinsicht ähnelt die Serie dem Buch. Das On-Demand-Prinzip lässt | |
uns entscheiden, wann und wo wir welche Folge gucken. Wenn Netflix eine | |
neue Staffel von „House of Cards“ online stellt, dann schließen wir uns ein | |
und schauen, gefesselt und süchtig und ohne Pause, wie wir früher Karl May | |
gelesen haben oder „Harry Potter“. Es gibt für dieses Verhalten einen | |
vielsagenden Begriff: Binge Watching. „Binge“ steht für „Gelage, Besäuf… | |
Exzess“. Binge Watching klingt nach Binge Eating, einer Essstörung mit | |
periodischen Heißhungeranfällen. Die Faszination der Serie wird | |
pathologisiert. Während die Faszination des Lesens noch immer romantisiert | |
wird: der Bücherwurm, die Leseratte, der Junge mit der Taschenlampe, der | |
die Abenteuer des Tom Sawyer liest. | |
Anfang des Jahres präsentierten Wissenschaftler der Universität Austin in | |
Texas die Ergebnisse einer Studie, die einen Zusammenhang zwischen | |
Depressionen und Binge Watching herstellt. Depressive Menschen tendieren | |
laut Studie eher zum suchthaften Serienkonsum als Nichtdepressive. Einige | |
amerikanische Medien griffen die Studie auf. Dabei liegt die Antwort, warum | |
Menschen Verabredungen absagen, warum sie die Rollläden herunterlassen, | |
warum sie vergessen zu frühstücken, während sie eine neue Staffel ihrer | |
Lieblingsserie schauen, so nahe: Weil sie gut unterhalten werden. Die Serie | |
hat das Buch längst eingeholt. Das „Literarische Quartett“ , das seit einer | |
Woche im ZDF Auferstehung feiert, wird die neue Konkurrenz nicht ignorieren | |
können. | |
Seit der Erstausstrahlung im Jahr 1988 war „das Quartett“ für den deutschen | |
Bildungsbürger ein trojanisches Pferd im feindlichen Land, so etwas wie die | |
letzte Hoffnung im Kampf gegen die Dummheit. Der Bildungsbürger verstand | |
das „Quartett“ als kraftvolle Antwort auf die Einführung des | |
Privatfernsehens vier Jahre zuvor. In seinen Augen standen sich kampfbereit | |
gegenüber: die Profanität des Bildschirms und die Heiligkeit des Buchs. | |
Kultur gegen Unkultur. Auf Seiten des Buchs: das Johannes-Evangelium. „Im | |
Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott.“ Auf Seiten des Bildschirms: | |
Dieter Bohlen. So kann der Bildungsbürger seit einer Woche wieder angeregt | |
und voller Anteilnahme zusehen, wenn Bücher gestreichelt, verstoßen, | |
zerrissen und gepriesen werden. Mit einer Frage wird ihn das „Quartett“ | |
eher nicht konfrontieren: Lohnt es sich noch, zu lesen? | |
Man stellt diese Frage weder in Schulen noch im Fernsehen noch in der | |
Politik. Und wenn sie jemand stellt, dann als rhetorische Frage mit | |
eingebauter Antwort. Klar lohnt es sich!, sagen die Kinder am Vorlesetag. | |
Klar lohnt es sich!, sagen die Lese-Botschafter von RTL. Klar lohnt es | |
sich!, sagt der Deutschlehrer, mit gelben Reclam-Bänden unter dem Arm und | |
denkt dabei: Das Buch gehört doch zum guten Menschen dazu. | |
Aber auch Beate Zschäpe liest gern. Das sagte letztes Jahr eine Zeugin im | |
NSU-Prozess aus, ihre frühere Nachbarin. Beate Zschäpe teilt diese | |
Leidenschaft mit Frauke Ludowig, Marietta Slomka und Florian David Fitz. | |
Ludowig, Moderatorin bei RTL, sagt, sie könne sich einen Alltag ohne Lesen | |
nicht vorstellen. Slomka, Moderatorin beim ZDF, findet es „traurig und | |
überaus bedenklich“, dass heutzutage so vielen Kindern nicht mehr | |
vorgelesen werde. Und Fitz, Schauspieler, fragt sich, was er ohne | |
Shakespeare wäre; ohne die „Korrekturen“, ohne „Krieg und Frieden“, oh… | |
die „Buddenbrooks“. Er glaubt: „nicht viel.“ | |
Man kann das bezweifeln. Wahrscheinlich wäre er immer noch Florian David | |
Fitz. Er übertreibt, wie so viele übertreiben, wenn sie vom Lesen reden. | |
Ludowig, Slomka und Fitz sind Botschafter der „Stiftung Lesen“. Wenn sie | |
vom Lesen sprechen, dann werden sie eher nicht an Beate Zschäpe denken. | |
Sondern an Leseratten, an Bücherwürmer, an durchwachte Nächte, an | |
verstaubte Seiten: an diesen ganzen Lesekitsch. | |
Sie werden davon ausgehen, dass Lesen gut und wichtig ist. Vielleicht | |
denken sie an ein Zitat, das aus einem Werk Heinrich Heines stammt: „Dort | |
wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen.“ Da hört man, | |
im Umkehrschluss: Wer für Bücher ist, ist für die Menschlichkeit. Aber: | |
Auch Beate Zschäpe hat gelesen. Es hat sie nicht davon abgehalten, | |
unmenschliche Dinge zu tun. Und Heines Satz hatte zwar in unheimlicher | |
Weise prognostische Richtigkeit – die Nationalsozialisten haben erst Bücher | |
verbrannt und später Menschen –, er sollte aber nicht zu einem Fehlschluss | |
verleiten: dass es bei den Bücherverbrennungen um das Medium an sich ging. | |
Warum auch? Das Buch war ja ebenso das Medium von Ernst Jünger, Friedrich | |
Nietzsche, Martin Heidegger und Adolf Hitler. | |
Der Stapel sagt: Du gibst zu schnell auf. Du sollst durchhalten. Ich sage: | |
Und du sollst unterhalten. Sei wie Muhammad Ali. Schwebe über den Boden, | |
tanze, sei großspurig und laut. Der Stapel sagt: Die Literatur ist kein | |
Boxer. Sie ist eine leise Welt, eine Welt mit Geheimnissen. Ich frage: Und | |
was ist, wenn man vor lauter Geheimnissen die Geschichten nicht mehr sieht? | |
Ich berühre die Seiten: Sie sind voller Staub. Ihr seid nicht gut, ihr seid | |
nicht schlecht, ihr seid einfach nur Papier. | |
Auf meinem Macbook läuft eine Folge von „The Affair“: Noah und Alison | |
fahren auf einer Fähre nach Block Island, eine abgelegene Insel vor | |
Montauk. Noah kauft zwei Becher Kaffee, Alison steht an der Reling und | |
schaut aufs Meer. Noah fragt Alison: Hältst du dich für einen guten | |
Menschen? Und Alison sagt: Nein. Ich staube die Bücher ab, Buch für Buch, | |
und stapele sie in eine Kiste. Ich habe das Lesen verlernt. Aber ich habe | |
Carrie, Saul, Noah und Alison. Ich stelle die Kiste in den Keller. Es fühlt | |
sich gut an. | |
Felix Dachsel, 28, hat am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig studiert. | |
Er schreibt vorrangig, um Geld zu verdienen. | |
Martina Wember, 54, ist freie Illustratorin. Sie liest in Schüben – | |
Adrenalin pur – und ist dann nicht ansprechbar. | |
10 Oct 2015 | |
## AUTOREN | |
Felix Dachsel | |
Martina Wember | |
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