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# taz.de -- Der Start des Tages mitten in der Nacht
> Ganz früh morgens Montag bis Freitag startet um 3.46 Uhr die erste S-Bahn
> Berlins nach der Betriebspause. Fünf Begegnungen mit fünf Menschen, die
> sich so früh auf den Weg von Schöneweide nach Südkreuz machen
Bild: Fünf Haltestellen, fünf Kieze, fünf Menschen: Wer früh S-Bahn fährt …
von Klaas-Wilhelm Brandenburg
Kurz nach drei Uhr früh. Es ist still auf dem Bahnsteig in Schöneweide,
kein Mensch weit und breit, eine gespenstische Stimmung. Es ist auch
windig, der Wind trägt erst leise, dann immer lauter Stimmen ans Ohr.
## Einer passt auf
Nach einem kurzen Gang über den Bahnsteig offenbart sich die Quelle der
Geräusche: Es sind zwei Männer, sie sitzen auf einer der Metallbänke auf
dem Bahnsteig und unterhalten sich. Gelbe Warnwesten und eine umgebundene,
herunterhängende Tröte lassen erkennen, dass sie nicht zum
Freizeitvergnügen hier sind. Sicherungsposten seien sie, erzählt einer von
beiden, der seinen Namen „aus Datenschutzgründen“ lieber nicht sagen
möchte. Ein Blick zu den Gleisen zeigt, wen er sichert: Drei Menschen
stehen dort und vermessen den Bahnsteig. Weil noch Betriebspause ist und
kein Zug fährt, haben die Sicherungsposten noch Zeit, um entspannt zu
sitzen. Normalerweise sind sie immer mit den drei anderen im Gleis
unterwegs und schauen, ob eine S-Bahn kommt. Sie sollen auf alle
Eventualitäten vorbereitet sein: „Da muss sich nur mal einer den Fuß
verknacksen, dann muss ich den rausholen!“
Hat er es schon mal nicht rechtzeitig geschafft? „Bei mir ist noch nichts
passiert – andere hatten da weniger Glück.“ Er sagt diesen Satz
emotionslos. Empfindet er die frühe Arbeitszeit nicht als anstrengend? „Ich
arbeite zu jeder Tages- und Nachtzeit, wenn ich einen Arbeitsbefehl
bekomme“, antwortet er preußisch. Nach dem kurzen Gespräch die
Verabschiedung – die ersten Fahrgäste treffen ein.
## Eine hat Frühschicht
Sie ist die Erste am Bahnsteig, die auch in eine S-Bahn einsteigen will.
Die Straßenbahn brachte sie von ihrer Wohnung in Ahrensfelde hierher, „die
fahren ja durch“. Sie arbeitet als Kioskverkäuferin, immer wieder in
anderen Filialen. „Ein paar Tage vorher weiß ich Bescheid, wo ich hinmuss“,
erzählt sie.
Heute geht es nach Tempelhof. Je nach Filiale startet die Frühschicht
zwischen 4 und 6 Uhr. Sie sieht es positiv: „Wer früher anfängt, hat auch
früher Feierabend!“ Manchmal hat sie auch die Spätschicht, „aber da ist
dann alles so hektisch – jetzt kann man noch ganz in Ruhe anfangen zu
arbeiten.“
Sie ist jetzt 30, sechs Jahre macht sie den Job schon. Immer noch gern?
„Ja.“ Ihren Namen möchte sie trotzdem nicht sagen, „wegen der Firma“. …
wir uns am Bahnsteig verabschieden, ist sie immer noch die Einzige. „Aber
es wird noch voll“, versichert sie.
## Eine macht sauber
Astrid macht nicht viele Worte. Man könnte anderes erwarten, wenn sie in
ihrem bunten Sommerkleid, das leicht im Wind weht, und ihren kurzen blonden
Haaren am Bahnsteig steht. Aber auf die Frage, was sie so früh dort macht,
antwortet sie nur knapp: „Zur Arbeit fahren.“ Was für eine Arbeit? „Saub…
machen.“ Wo? „In einem Hotel am Ku’damm.“ Später verrät sie, dass es …
Steigenberger ist, ein 5-Sterne-Hotel. Astrid nennt es „Luxushotel“. Seit
zwölf Jahren ist sie dort, nicht aus Leidenschaft, sondern „weil ich muss“.
Bezahlt wird sie nach Tarif.
Früher hat sie in Lichtenrade gewohnt, aber vor einem Jahr ist sie mit
ihrem Partner zusammengezogen, seitdem wohnt sie in Schöneweide. Und
deshalb steht sie jetzt hier auf dem Bahnsteig. Und wie vertreibt sie sich
die Zeit nachher in der S-Bahn? „Man guckt sich die Leute an“, sagt sie
trocken. Obwohl: „Fahren ja meist dieselben mit.“ Trotzdem: Sich
gegenseitig grüßen oder gar kennen tut man sich nicht. Der Zug fährt ein,
auf dem falschen Gleis. „Das ist immer so“, sagt sie zum Abschied und
entschwindet kräftigen Schrittes in die Bahn – sichtlich froh, dem Gespräch
entkommen zu sein.
Pünktlich um 3.46 Uhr startet sie am S-Bahnhof Schöneweide: die erste
S-Bahn, die nach der Betriebspause wieder durch Berlin fährt. Es ist die
S46, die normalerweise zwischen Königs Wusterhausen und Westend pendelt.
Aber für diese S46 ist am Südkreuz schon wieder Schluss, nach nur 16
Minuten Fahrt.
Bis dahin: fünf Haltestellen, aber viele verschiedene Kieze. Vorbei an den
sanierten Altbauten Baumschulenwegs, durch Nord-Neukölln, den hippen Teil
des großen Bezirks, später mit dem weiten Blick über das Tempelhofer
Flugfeld. Durch Orte, die unterschiedlicher nicht sein könnten: Während
Schöneweide als Nazihochburg gilt, hat in Neukölln die Polizei mit der
türkischen Mafia zu kämpfen. Während auf dem Tempelhofer Flugfeld die
Kitesurfer über die alte Landebahn gleiten, rauschen in Schöneweide die
Autos parallel zur S-Bahn über den Asphalt. Und während der Bahnhof in
Schöneweide noch DDR-Luft atmet, ist der Glaspalast am Südkreuz Bote vom
Masterplan – oder Größenwahn – des ehemaligen Bahnchefs Hartmut Mehdorn,
das halbe Schienennetz Berlins umzubauen. Noch aber steht der Zug in
Schöneweide. Das Warnsignal ertönt, der Zug rollt los, die nächste
Begegnung naht.
## Eine fährt heim
Danielle sieht übermüdet aus. Oder bekifft – das lässt sich nur schwer
sagen. Ihre Antworten kommen langsam. In Adlershof ist sie eingestiegen,
erzählt sie, dabei fährt die Bahn dort gar nicht lang. Bis zur
Hermannstraße muss sie, dort in der Nähe wohnt sie, oder, besser gesagt,
ihre Eltern. Danielle ist erst 16, aber sie sieht älter aus, vielleicht
auch nur wegen der frühen Uhrzeit – aber mit ihren langen blonden Haaren
und ihrem locker sitzenden, grauen Oberteil könnte sie auch gut in eine
Studenten-WG passen.
Sie geht noch zur Schule, hat gerade Sommerferien, und in ein paar Wochen
kommt sie in die zehnte Klasse. Dann stehen die Prüfungen für den Mittleren
Schulabschluss an, die entscheiden, ob sie auf dem Gymnasium bleiben darf.
Was hat sie in diese S-Bahn gebracht hat? „Ein ausgiebiger Spaziergang.“
Diese Antwort überrascht aus dem Mund einer 16-Jährigen. Mit ihrem besten
Freund, der extra aus Grünau kam, hat sie sich am Tag zuvor in Neukölln
getroffen. 10 Uhr früh ging es los, und dann sind sie einfach immer
weitergegangen, nach Adlershof, nach Köpenick. Gab es was zu klären? „Nee�…
sagt sie und grinst ein bisschen dabei. Wie haben sie sich sonst die Zeit
vertrieben? „Mit Eisessen zum Beispiel.“ Mehr will sie nicht verraten. Nur
das: „Es ist das erste Mal, dass ich so spät nach Hause fahre.“
Eine Erfahrung, die sie gern wiederholen möchte? „So schnell nicht wieder,
es ist doch ziemlich anstrengend.“ Sie freue sich aufs Bett, sagt sie noch,
als sie an der Hermannstraße aussteigt.
## Eine macht Frühstück
Ihre braunen Haare sind zu einem ordentlichen Zopf gebunden. In den Ohren
trägt sie weiße Perlenohrringe, dazu eine weiße Bluse. Sie sitzt aufrecht
und schaut aus dem Fenster. Das fällt auf um diese Uhrzeit, wo die meisten
Menschen eher in ihren Sitzen hängen. Julia arbeitet wie Astrid im Hotel,
und da ist adrettes Aussehen eben Pflicht. Sie macht den „Service beim
Frühstück“. Um 2.45 Uhr muss sie aufstehen, und das manchmal zehn Tage am
Stück. Seit eineinhalb Jahren arbeitet sie im Ellington, einem
4-Sterne-Hotel am Kurfürstendamm. Davor hat sie in einem Hotel am
Hackeschen Markt Hotelfachfrau gelernt.
Obwohl Julia eher zart aussieht: Sie ist taff. Vor drei Monaten wollte ihr
jemand das Handy klauen, als sie frühmorgens allein im Waggon saß. Am Ende
war der Dieb so verschreckt, dass er nervös auf das Öffnen der Türen an der
nächsten Station wartete. Julia erzählt davon, als wäre es das Normalste
der Welt.
Doch ihr cooler Ton ändert sich bei der Frage, ob sie einen Traum hat. Sie
zögert. „Ich würde eigentlich lieber in der Modebranche arbeiten“, sagt
sie. Und nach einer kurzen Pause: „Jetzt bin ich halt Hotelfachfrau. Ist
auch okay.“
Es klingt etwas traurig. Aber das sei sie nicht, sagt Julia: Sie wolle sich
„langsam hocharbeiten“. In der Frühstücksschicht gibt es verschiedene
Ränge, sie ist zurzeit fast ganz unten. „Beim Frühstück Abteilungsleiterin
zu werden, das wäre schon cool.“ Also macht ihr der Job Spaß? „Ja.“ Sie
antwortet knapp, aber bestimmt, denn gerade hat der Zug gehalten – am
Südkreuz. Endstation der S46, aber nicht für Julia: „Ich muss jetzt mit dem
Bus weiter“, verabschiedet sie sich und steigt die Treppen am Ende des
Bahnsteigs hinab.
19 Sep 2015
## AUTOREN
Klaas-Wilhelm Brandenburg
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