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# taz.de -- Halal-Schlachter und Chihuahua-Frisöre
> Lidokino 5 Regisseur Frederick Wiseman erzählt in Venedig von der
> Notwendigkeit des Redens
Bild: Frederick Wiseman
Frederick Wiseman trägt einen senffarbenen Sommeranzug, als er, begleitet
von Alberto Barbera, dem Direktor der Mostra, in der Sala Grande eintrifft.
Ein kleiner Mann, hager, die Ohren stehen fröhlich vom Kopf ab, 85 Jahre
ist er alt. In einem Gespräch, das ich vor einigen Jahren mit ihm in
Venedig führte, sagte er, es halte ihn jung, etwas zu tun, was er liebe.
Dass er sich dabei regelmäßig in eine neue Materie einarbeite (zum Beispiel
in ein Boxstudio, eine Nationalgalerie, ein Opernhaus, eine
Eliteuniversität oder einen Nachtclub), schade nicht. Die meisten Besucher
der Sala Grande erheben sich von ihren Sitzen, um ihm zu applaudieren.
Die Materie, mit der sich der große US-amerikanische Dokumentarist diesmal
vertraut gemacht hat, ist Jackson Heights, ein Viertel von Queens. Das
Resultat, ein mehr als dreistündiger Film, der bei der Mostra außer
Konkurrenz läuft, heißt lapidar „In Jackson Heights“. Geduldig verfolgt
Wiseman, was in der Gegend rund um die Kreuzung von 82. Straße und
Roosevelt Avenue vor sich geht. Das Besondere daran ist, dass es in diesen
Straßenzügen so multikulturell wie sonst nirgends auf der Welt ist.
Einwanderer aus Lateinamerika und Asien leben hier, viele von ihnen sind
noch nicht lange in den USA – und nicht alle haben die nötigen Papiere, um
ihren Status zu legalisieren. Wiseman besucht Gemeindesäle und Meetings,
hört LGBT-Aktivisten zu und Angestellten, die in ihren Jobs mies behandelt
werden. Er filmt eine 98 Jahre alte Dame, die gegenüber anderen alten Damen
erklärt, wie einsam sie sei, seit alle ihre Freunde und Angehörigen
gestorben seien. Und er trifft auf die Inhaber kleiner Läden, denen das Aus
droht, weil ihre Mietverträge nicht erneuert werden. Das Gespenst der
Gentrifizierung hat Queens erreicht – und die Gewerbetreibenden, die
Halal-Schlachter, Augenbrauenbegradigerinnen, Imbissbetreiber,
Chihuahua-Frisöre und Faxladeninhaber wissen nicht, wie sie es
verscheuchen können.
Dabei wird nicht nur deutlich, was für eine reiche Infrastruktur entsteht
und wie elaboriert den entlegensten Bedürfnissen entsprochen wird, sobald
Menschen aus aller Herren Länder sich an einem Ort ansiedeln – es wird auch
deutlich, wie bedroht dieser Reichtum ist, sobald Starbucks- und
Gap-Filialen sich ausbreiten. Und noch etwas tritt in Wisemans
aufmerksamen, zugewandten Beobachtungen zutage: die Notwendigkeit des
Redens.
Wer den Menschen in „In Jackson Heights“ dabei zuhört, wie sie ihre
Erlebnisse schildern oder ihre Interessen formulieren, wie sie einander
beraten und beistehen, mal auf Spanisch, mal auf Englisch, mal auf Urdu,
bekommt großen Respekt vor der Entschlossenheit, sich auszutauschen, einen
gemeinsamen Raum zu teilen und zu gestalten. Nicht zu vergessen Wisemans
Sinn für Humor: In einer längeren Szene verfolgt man eine Unterrichtsstunde
für angehende Taxifahrer. Die Männer kommen aus Pakistan, Indien,
Bangladesch oder Nepal, und der Dozent unternimmt mit ihnen eine sehr
lustige mnemotechnische Übung, damit sie, sobald sie am Steuer sitzen,
wissen, wo welche Himmelsrichtung ist. Über „nose“ kommt er zu „North“,
über „shoes“ zu „South“, über „eating“ (was man in den Herkunftsl…
Männer stets mit der rechten Hand tut) zu „East“ und zu „West“ über
„washing“ – was man nach dem Stuhlgang tut, und zwar stets mit der linken
Hand. Cristina Nord
7 Sep 2015
## AUTOREN
Cristina Nord
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