| # taz.de -- Neuer Roman von Nora Bossong: Verdammter Kommunismus | |
| > Voller Formatfragen: Nora Bossong erzählt in ihrem vierten Roman „36,9°“ | |
| > von der Dialektik der privaten und der politischen Liebe. | |
| Bild: Nora Bossong, Autorin von „36,9°“. | |
| Antonio Gramsci und Anton Stöver sind kleine Männer – jedenfalls, was ihre | |
| Körpergröße betrifft. Der marxistische Philosoph, der zehn Jahre seines | |
| Lebens in faschistischen Gefängnissen verbringen musste, wurde wohl auch | |
| nicht größer als 1,50 Meter, weil er zeitlebens unter Knochentuberkulose | |
| litt. Der fiktive Uni-Dozent Stöver, den seine bürgerlich-marxistische | |
| Mutter Ilsa schon durch die Wahl seines Vornamens auf Gramscis Spuren | |
| setzte, überragt seinen Gegenstand immerhin um Handbreite. Und fühlt sich | |
| doch von ihm „in die kleine Form gezwungen“, „jetzt, nachdem ich ein Leben | |
| lang neben Gramsci hergetrottet war“. | |
| Formatfragen spielen eine zentrale Rolle in Nora Bossongs viertem Roman | |
| „36,9°“, jener Körpertemperatur, die gemeinhin als normal gilt. Dabei | |
| verläuft keine der beiden Fieberkurven, zwischen denen die Autorin hin- und | |
| herpendelt, moderat: Anton Stöver hat in Göttingen seine zerbrechende Ehe | |
| samt Sohn zurückgelassen, um nach Rom zu reisen und dort dem Kollegen Brevi | |
| bei der Recherche nach einem angeblich absichtlich beiseitegeschafften | |
| Gefängnisheft des Mitbegründers der Kommunistischen Partei Italiens zu | |
| helfen. | |
| Der notorische Schwerenöter, der zunächst noch abgeklärt-analytisch auf | |
| sein Beziehungsleben blickt, verguckt sich stattdessen in die Studentin | |
| Tatjana und verstrickt sich in Eroberungsfantasien und Fluchtbewegungen. | |
| Der an den historischen Gramsci angelehnte zweite Erzählstrang setzt ein | |
| mit dessen Tod 1937, um dann sein Leben von dem Punkt an zu erzählen, an | |
| dem der Italiener 1922 im Sanatorium Silberwald bei Moskau den Schwestern | |
| Schucht begegnet: der revolutionären Eugenia, dann Julia, die er heiratet, | |
| schließlich Tanja, die ihn jahrelang treu besucht und begleitet, als er von | |
| den Faschisten ins Gefängnis gesperrt wird. | |
| Der zum Einzelgänger prädestinierte Intellektuelle erfährt durch seine | |
| letztlich kaum lebbare Liebe zu Julia einen Erkenntnisschub (“Das war der | |
| Schock darüber, wie lange du nicht begriffen hast, worum es in Wahrheit | |
| ging“), der dem Stalinismus nicht in den Kram passen konnte – diese, die | |
| Gramsci-Forschung zuspitzende These lässt die Autorin mitschwingen. | |
| Überhaupt folgen Nora Bossongs doppelhelixhafte Erzählstränge einer | |
| dialektischen Konstruktion. Während Gramscis private Liebeserfahrung vor | |
| der Bühne der Revolutionen besonders zart wirkt, ist „die Liebe“ drei | |
| Generationen später inflationär geworden. Stöver jedenfalls kreist | |
| unablässig um sein Liebesleben: Da ist die Göttinger Wohnung mit | |
| Fischgrätparkett, die er als ultimative Bühne seines Eheideals beschwört | |
| und zugleich verachtet, da sind seine Liebschaften, die ihn von einer | |
| erfüllenden Beziehung mit Gattin Hedda abhalten, da ist schließlich die | |
| Flucht nach Rom samt Tatjana. | |
| Nichts liegt dieser wohlstandsgepamperten und emotional verwahrlosten | |
| Gestalt ferner als eine gesellschaftliche Utopie. Oder? „Ich interessierte | |
| mich für alles an ihnen (den Frauen)“, sagt Stöver, „nur eben nicht | |
| exklusiv, und das ist es, was uns Ilsas verdammter Kommunismus doch hätte | |
| beibringen können, ein für alle Mal. Die Entexklusivierung. Die klassen- | |
| oder besser noch grenzenlose Menschenliebe.“ War die Liebe in Gramscis | |
| politischer Existenz noch tragisch verfasst, gerät sie bei Stöver zur | |
| Farce. | |
| Obwohl Nora Bossong eine feinfühlige Stilistin ist, die die hier | |
| verflochtenen Genres, den historischen und den Campusroman, souverän | |
| bespielt, beschwert diese leicht schematische und didaktische Konstruktion | |
| in ihrer Unausweichlichkeit den Roman und seine Figuren doch ziemlich. | |
| Lustigerweise liest sich Stövers narzisstische Ich-Geschichte aber | |
| amüsanter als der durch ein auktoriales Präsens betont an den Leser | |
| herangeholte Leidensweg Gramscis: Auch die Farce oder „kleine Form“ kann | |
| Format haben. | |
| 17 Sep 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Eva Behrendt | |
| ## TAGS | |
| Antonio Gramsci | |
| Roman | |
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