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# taz.de -- Lidokino 10 Das Programm des Wettbewerbs in Venedig hat dieses Jahr…
Bild: Eine Einstellung, zwei Stunden lang: Regisseur Tsai Ming-liang aus Taiwan
In der Haut der Juroren und Jurorinnen – unter ihnen sind Diane Kruger,
Nuri Bilge Ceylan und Hou Hsiao-hsien, den Vorsitz hat Alfonso Cuarón inne
– möchte ich nicht stecken. Acht Preise werden heute Abend in der Sala
Grande an die Filme des Wettbewerbs vergeben, vom Goldenen Löwen über die
Coppa Volpi für den besten Darsteller und die beste Darstellerin bis zum
Spezialpreis der Jury. Keine leichte Aufgabe in diesem mittelmäßigen
Jahrgang der Mostra internazionale d’arte cinematografica.
Je ernüchternder das Wettbewerbsprogramm ausfiel, umso mehr lockte die
Reihe „Venezia Classici“ mit neu restaurierten Filmen. Zwar bildete sie
einen willkürlich zusammengestellten Archipel im Ozean der Filmgeschichte
ab, aber die einzelnen Inseln zu bereisen, war auch ohne größeren
diskursiven oder thematischen Zusammenhang toll – zum Beispiel die
Vorführung von „To Sleep with Anger“, einem Film aus dem Jahr 1990 von
Charles Burnett.
Der US-amerikanische Regisseur, 71 Jahre alt, besuchte die Sala Volpi und
sprach ein paar einleitende Sätze. Er gehört zu den Akteuren der „L. A.
Rebellion“, einer Gruppe afroamerikanischer Filmemacher, die mit
neorealistischen Verfahren ihre spezifische Erfahrungswelt fürs Kino
bargen.
„To Sleep with Anger“ kreist um eine afroamerikanische Familie in Los
Angeles; die Eltern sind auf dem Land im Süden der USA aufgewachsen und
haben die Zeit der Segregation am eigenen Leib erfahren. Nachdem sie in die
Stadt ausgewandert sind, verliert sich ihr Erbe, da die mittlerweile
erwachsenen Söhne wenig damit anfangen können. Hühner im Garten halten,
Maisschnaps trinken, Geschichten aus dem tiefen Süden erzählen, christliche
Frömmigkeit synkretistisch anreichern, an Wegkreuzungen froh um den
Talisman sein, es als böses Omen betrachten, wenn ein Besen zufällig an
einen Schuh stößt, all das sind Gewohnheiten, Denk- und Fühlweisen, die im
Begriff zu verschwinden sind.
Es sind auch Gewohnheiten, die in Hollywood keine Rolle spielen, wie
Burnett vor der Vorführung mit einer Spur von Bitterkeit ausführt. Ihm sei
es immer darum gegangen, Filme zu drehen, „die ein afroamerikanisches
Publikum ansprechen“. Hollywood habe dessen spezifische Erfahrungswelt
nicht in das Repertoire seiner Fiktionen eingeschlossen. Erst heute, sagt
Burnett, ändere sich das.
Wenn man aus der Distanz von 25 Jahren auf „To Sleep with Anger“ schaut,
kommt man nicht umhin, dies als riesigen Verlust zu begreifen: Der Reichtum
dieses Erfahrungsschatzes steht in traurigem Kontrast dazu, dass er, wenn
überhaupt, nur in den Randbereichen des Kinos sichtbar wird.
Eine zweite Vorführung, bei der ich den Regisseur aus der Nähe erlebe, ist
die von „Na ri xiawu“ („Afternoon“) in der kleinen Sala Pasinetti. Tsai
Ming-liang, 1957 in Malaysia geboren, zu Hause in Taiwan, nimmt in der
Reihe hinter meiner Platz, so dass ich höre, wenn er das, was auf der
Leinwand geschieht, mit einem Lachen quittiert. Das passiert oft und gleich
am Anfang, wenn der Schauspieler Lee Kang-Sheng, rechts im Bild, dem
Regisseur, links im Bild, erklärt, warum er Fußpilz habe: weil er sich in
Tsais Inszenierung von „The Monk From Tang Dynasty“ die Füße schrundig
laufe.
„Na ri xiawu“ dauert mehr als zwei Stunden und besteht aus der immer
gleichen Einstellung: Ein Zimmer in einem Haus auf dem Land, zwei große
Fenster bieten Ausblicke auf grüne Hügel, Äste und Ranken ragen in das
Zimmer hinein, das Gebäude ist in einem schlechten Zustand wie so viele
Häuser und Räume in den Spielfilmen Tsais. Der Regisseur und der
Schauspieler, aus einiger Distanz und leicht von oben herab gefilmt,
unterhalten sich über allerlei, wobei meistens Tsai spricht und Lee zuhört.
Wenige Schwarzbilder sorgen für kurze Pausen; das Gespräch mäandert von der
Schwefelbehandlung gegen den Fußpilz über die Intensität der
Arbeitsbeziehung hin zu Reflexionen über die besondere Form von Liebe, die
Tsai und Lee teilen. Die beiden leben zusammen, sie machen so gut wie alles
zusammen, sie necken sich wie ein altes Paar, aber sie hatten niemals eine
romantische, sexuelle Beziehung. Ob sie sich wohl im nächsten Leben wieder
begegnen würden, fragt Tsai gegen Ende, und Lee antwortet nach einigem
Zögern: „Im nächsten Leben bist du der Schauspieler, und ich bin der
Regisseur.“
Cristina Nord
12 Sep 2015
## AUTOREN
Cristina Nord
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