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# taz.de -- LIDOKINO 4 Afineevskys „Winter on Fire“, Eisensteins „Alexand…
Eine der schönsten Seiten von Filmfestivals ist, wenn Filme, die sich nie
in einem Kino begegnet wären, zufällig aufeinanderstoßen und Bezüge
entwickeln. Am Donnerstag geschieht dies. Die Sala Grande zeigt außer
Konkurrenz den Dokumentarfilm „Winter on Fire“ von Evgeny Afineevsky.
Es ist eine für Netflix gedrehte Chronik der Ereignisse in Kiew. Die ersten
Bilder stammen aus dem November 2013, die letzten aus dem Februar 2014.
Hineinmontiert sind nachträglich gefilmte Interviews mit Protagonisten des
Protests. Der Blickwinkel des Regisseurs ist von Anfang an klar. Die
Sympathie gilt den Aktivisten auf dem Maidan, ihrem Mut, ihrer
Unerschrockenheit, ihrer Freiheitsliebe, ihrem Patriotismus. Während Sergei
Loznitsa in seinem gerade in Deutschland angelaufenen Film „Maidan“
distanziert auf den Protest schaut, bleibt „Winter on Fire“ gehetzt, dicht
dran an Straßenkampf und Barrikaden, verwundeten Demonstranten,
niedersausenden Polizeiknüppeln und Toten.
Nie löst sich der Film aus der Logik der Eskalation, die den Ereignissen
innewohnt. Seltsam, dass „Winter on Fire“, obwohl mehr als eine Jahr später
fertig geworden als „Maidan“, von einem Dringlichkeitspathos durchwirkt
ist, das Loznitsas Film fehlt. En passant zerbröselt dabei die These von
Netflix als Motor neuer Bewegtbildproduktion. Denn die beiden
Netflix-Produktionen, die die Mostra zeigt, Cary Fukunagas „Beasts of No
Nation“ und „Winter on Fire“, sind alles andere als innovatives Kino.
Kurz darauf, ein Abstecher zu den „Venizia Classici“. In der Sala Volpi
präsentiert ein Abgesandter von Mosfilm stolz die restaurierte Fassung von
Sergei Eisensteins „Alexander Newski“, einem 1938 entstandenen historischen
Drama, das vom siegreichen Kampf des Titelhelden gegen eine teutonische
Invasion im Jahre 1242 erzählt. Höhepunkt ist eine wie ein ausufernder Tanz
gedrehte Schlachtsequenz auf dem Pappmaschee-Eis des im Studio nachgebauten
Peipussees. Herrlich, wie die Hiebe ins Leere gehen, Lanzen Körper
verfehlen, Leiber taumeln, straucheln, obwohl es keinen Schlag von außen
gab, wie andere Körper aufrecht stehen, obwohl Pfeile und Lanzen sie
niedergestreckt haben müssten. Wer braucht schon Realismus, solange er
Fantasie hat?
Die Choreografie gipfelt darin, dass die Eisplatten aufreißen und die
teutonischen Ritter mit ihren wallend-weißen Gewändern im kalten Wasser
versinken. Von der ersten Minute an ist spürbar, dass Eisenstein die
Ereignisse aus dem 13. Jahrhundert verwendet, um etwas über die Gegenwart
zu erzählen, um gegen die nationalsozialistischen Deutschen aufzuwiegeln
und die russische Einheit zu beschwören. Dumm nur, dass Stalin, in dessen
Auftrag der Film entstand, es sich ein Jahr später anders überlegte und mit
Hitler paktierte. „Alexander Newski“ verschwand erst mal aus den
sowjetischen Kinos.
Stalin taucht kurz in Alexander Sokurows Wettbewerbsbeitrag „Francofonia“
auf, auf Schwarzweißbildern aus der Eremitage im damals von der deutschen
Wehrmacht eingekesselten Leningrad. Den Mittelpunkt des essayistisch
mäandernden Films bildet aber nicht das russische Museum, sondern der
Louvre zur Zeit der deutschen Besatzung von Paris. Der Regisseur stellt
sich vor, wie es gewesen sein könnte, als der deutsche Offizier Franziskus
Wolff-Metternich auf den Direktor des Pariser Museums, Jacques Jaujard,
traf.
Archivbilder zeigen Hitler, wie er 1940 durch Paris fährt, eine
nachträglich hinzugefügte, sehr lustig anzuhörende Tonspur lässt den
Diktator in bekannt knarziger Diktion die Schönheit der Louvre-Architektur
preisen. Begleitet wird all dies von aus dem Off eingesprochenen
Reflexionen Sokurows. Wenn die Kamera an Porträtgemälden aus dem 17. oder
18. Jahrhundert entlanggleitet, spricht Sokurow darüber, wie diese
Gesichter mit ihren charakteristischen Zügen die Jahrhunderte überdauern
und den Betrachter in die Lage versetzen, sich die Körperlichkeit einer
vergangenen Zeit vorzustellen.
Denkt man in diesem Augenblick an die Topf frisuren, die Augenfalten, die
schiefen Zähne und Bauchumfänge der Figuren in „Alexander Newski“, weiß …
genau, von welcher ästhetischen Erfah rung Sokurow spricht. Cristina Nord
5 Sep 2015
## AUTOREN
Cristina Nord
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