# taz.de -- Freiwilliger Freiheitsentzug | |
> Unter Druck Immer mehr BerlinerInnen lassen sich freiwillig in Räume | |
> voller Rätsel einsperren, um es ganz allein in einer vorgegebenen Zeit | |
> wieder in die Freiheit zu schaffen. „Live Escape“ oder „Exit Game“ he… | |
> dieser Trend. Die taz hat sich mal einschließen lassen | |
Bild: Im „Leichenhaus“: Christian Schlodder (links) in einem Raum von „Qu… | |
von Christian Schlodder (Text) und Wolfgang Borrs (Fotos) | |
Dann ist sie zu, die Tür. Fotograf Wolfgang Borrs und ich haben jetzt eine | |
Stunde Zeit, sie wieder zu öffnen. Ich habe schon des Öfteren meinen | |
Hausschlüssel vergessen und hatte damit das Vergnügen, einen | |
Schlüsseldienst zu rufen. Aus einem Raum ausbrechen zu müssen, ist | |
allerdings neu. | |
An der Tür mit Codeschloss hängt eine kurze Erklärung: Aha, wir besuchen | |
wohl gerade unseren alten Lehrer. Der ist allerdings nicht zu Hause, und | |
wir müssen schon von selbst wieder nach draußen finden. | |
Was wie nach einer schlechten Hollywoodklamotte klingt, heißt „Exit Game“ | |
oder „Live Escape Game“. Die Grundidee stammt von | |
Text-Adventure-Computerspielen der späten 1980er Jahre. Anfang des neuen | |
Jahrtausends wurde die Idee in Japan in die Realität umgesetzt. | |
Das Spielprinzip ist dabei immer gleich: Personen werden in einen Raum | |
eingesperrt und müssen diesen anhand der darin befindlichen Gegenstände und | |
Hinweise innerhalb einer festgelegten Zeit – meist eine Stunde – verlassen. | |
Mittels Videoüberwachung und Walkie-Talkie können die Spielleiter | |
eingreifen, falls man partout nicht weiterkommt. | |
Wolfgang Borrs und ich werden gerade von Eva (27) und Evgeny Falkenstern | |
(26) bei unseren ersten unbeholfenen Versuchen beobachtet, irgendwie aus | |
dem Zimmer zu entkommen. Die beiden Eheleute kamen 2008 aus dem russischen | |
Jekaterinburg nach Berlin. Die beiden ehemaligen BWL-Studenten versuchten | |
in Russland, wo das Spiel schon seit einigen Jahren ein Trend ist, selbst | |
oft aus präparierten Räumen auszubrechen. So kamen sie auf die Idee, ihre | |
eigenen zu entwerfen. Drei Monate haben sie an ihrem „Quest Room“ genannten | |
Exit Game gebastelt und in der Nöldnerstraße in Lichtenberg drei | |
verschiedene Räume gestaltet: Leichenhaus, Kasino und Geheimzimmer. | |
## Raum auf den Kopf stellen | |
Im Geheimzimmer müssen wir uns erst einmal orientieren. Der Raum ist nicht | |
sonderlich groß. Neben dem Fenster steht ein großer Sessel. In der Ecke | |
eine alte Schrankwand mit vielen Büchern darin. Daneben eine Couch mit | |
einem kleinen Tisch davor. An der Rückwand des Kamins ist eine Geheimtür zu | |
erkennen – ohne richtigen Schlüssel geht die aber nicht auf. | |
Eine weitere Tür ist als Bücherregal getarnt, doch auch die bewegt sich | |
nicht. Also heißt es, erst einmal den ganzen Raum auf den Kopf zu stellen | |
und sich von Hinweis zu Hinweis zu arbeiten. Das ist allerdings gar nicht | |
so leicht. Die herunterzählende Zeit setzt uns unter Druck. | |
Wir finden erste Zettelschnipsel, mit denen wir aber nichts anfangen können | |
– noch nicht. In einem Glas ein Schlüssel. Ja! Nachdem wir das Fach mit dem | |
passenden Schloss geöffnet haben, sind wir ernüchtert: noch ein Schnipsel. | |
Ich finde eine Matroschka und arbeite mich Stück für Stück zur letzten | |
kleinen russischen Holzfigur durch. Zu früh gefreut. „Das wäre zu einfach“ | |
steht darin. Stimmt ja auch irgendwie. | |
Evgeny Falkenstern ließ am Anfang durchblicken, dass man für diese Rätsel | |
am besten zu viert wäre. Ich schaue meinen Mitspieler Wolfgang Borrs an, | |
der gerade hinter dem Sessel herumkrabbelt. Die Zeit rennt. Zwei Leute mehr | |
wären wirklich nicht schlecht. Jeder trägt die von ihm entdeckten Dinge | |
zusammen. Dann überlegen wir, was es damit auf sich haben könnte. | |
Eva Falkenstern beobachtet uns über die kleine Kamera über dem falschen | |
Bücherregal. Sie gibt uns in unserer Verzweiflung den ein oder anderen | |
Ratschlag über unser kleines, rotes Walkie-Talkie. Wir sollten uns doch den | |
Teppich noch einmal anschauen. Gute Idee, danke! | |
## Schloss auf Schloss | |
Dann sind wir drin im Spiel, kommunizieren viel, legen die Schnipsel | |
zusammen, blättern durch Bücher auf der Suche nach versteckten Hinweisen | |
und öffnen ein Schloss nach dem anderen … Wir finden eine Nachricht unseres | |
„alten Lehrers“, aus dessen Wohnung wir ja gerade zu entkommen versuchen. | |
Es sieht so aus, als ob er uns eingeschlossen hätte. Ich denke kurz an | |
meine eigene Schulzeit zurück und hätte – wenn das hier alles nicht nur ein | |
Spiel wäre – einen potenziellen Verdächtigen im Kopf. | |
Die Rätsel sind bei Exit Games in der Regel Teil einer Mission. Nach einer | |
Weile beginnt man ernsthaft daran zu glauben, dass es diesen miesen Lehrer, | |
der uns hier eingesperrt hätte, wirklich gäbe. Das spornt an. | |
Auch die anderen 13 Anbieter neben dem „Quest Room“ haben spannende | |
Aufgaben. Bei „Exit Berlin“, das sich in einem alten Bunker in der | |
Klosterstraße befindet, soll man spielerisch einen geisteskranken Chemiker | |
bei der Verseuchung des Berliner Trinkwassers aufhalten. In der Hasenheide | |
gibt es seit Kurzem einen Exit Room, bei dem es keine Aufgaben im | |
klassischen Sinne gibt, sondern nur einen Schauspieler, dem man durch | |
geschicktes Fragen alle nötigen Ausbruchsdetails entlocken soll. Wir jedoch | |
können niemanden fragen, nur weitersuchen. | |
## Die Zeit arbeitet gegen uns | |
Und wie immer arbeitet die Zeit gegen uns. Ab hier beginnt der Punkt, an | |
dem man versucht, sich in Eva und Evgeny Falkenstern hineinzuversetzen. | |
Was könnten sie geplant haben? Würde man ihnen so was Einfaches zutrauen? | |
Tatsächlich übersehen Wolfgang Borrs und ich die offensichtlichsten Sachen, | |
die komplizierten gehen dafür wie selbst von der Hand. Wir rechnen, | |
knobeln, kombinieren und schaffen es schlussendlich, die Geheimtür hinter | |
dem Bücherregal zu öffnen. In dem kleinen dunklen Nebenraum voller Zahlen | |
an den Wänden werden die Aufgaben anspruchsvoller. Plötzlich ist auch unser | |
technisches Geschick gefragt. Wir müssen mit UV-Licht Spuren nachverfolgen | |
und uns mit den im Raum gefunden Materialien eigene Hilfsmittel bauen, um | |
an weitere Schlüssel zu gelangen. | |
Nur noch zehn Minuten. Es wird verdammt knapp, und wir werden hektisch. | |
Musik setzt ein. Wir haben die Tür hinter dem Kamin geöffnet. Nur noch eine | |
Aufgabe! | |
Nur noch fünf Minuten! Wir denken schon wieder zu kompliziert. Eva | |
Falkenstern gibt uns einen letzten Tipp. Dann haben wir unseren Code in die | |
Freiheit. Als wir die Tür öffnen, steht sie bereits mit der Stoppuhr davor. | |
57 Minuten seien „zu zweit gar nicht so schlecht, sagt Eva Falkenstern. | |
Immerhin unter einer Stunde, denke ich. Der Rekord für das Zimmer läge bei | |
33 Minuten, sagt Evgeny Falkenstern. Egal, geschafft ist schließlich | |
geschafft, und ich spiele von nun an ernsthaft mit dem Gedanken, mich das | |
nächste Mal, wenn ich meinen Haustürschlüssel vergesse, in meine Wohnung | |
hineinzurätseln. | |
15 Aug 2015 | |
## AUTOREN | |
Christian Schlodder | |
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