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# taz.de -- TATORT Die Schüler nannten ihn „Chrille“. Christian Spoden kü…
> Am 3. Februarwerden die ersten beiden Wohnungen in Berlin-Kreuzberg
> besetzt. Im linken Milieu wird der Begriff „Instandbesetzung“ erfunden
Bild: Berlin-Kreuzberg, 1982. Bewohner der Cuvrystraße haben Kindern mit Wanne…
AUS BERLIN NINA APIN UND ASTRID GEISLER
Eine Kinderzeichnung, Kugelschreiber und Filzstift, schwarz und blau auf
weißem Papier. Sie zeigt eine kurze Treppe nach unten. Drei Stufen führen
in einen Kellerraum mit Fernseher, Flipper und Bar. Hinter einem Vorhang
ein Séparee mit Sofa. Eine Innenansicht des Falckensteinkellers, 1986 im
Souterrain eines rußigen Altbaus in der Kreuzberger Falckensteinstraße
eröffnet. In diesem Westberliner Jugendtreff missbrauchten pädosexuelle
Männer aus dem grün-alternativen Milieu jahrelang Schüler, die nach dem
Unterricht zu ihnen kamen. Das Haus wurde abgerissen, der Tatort vergessen.
Die Nachbarschaft verwandelte sich vom ärmlichen Arbeiterkiez in ein
Viertel, das Touristen gerne besuchen, weil es hip ist, multikulti, voller
Restaurants, Kneipen, Clubs.
Fast 30 Jahre hat Christian Spoden die Kinderzeichnung in einem schwarzen
Leitz-Ordner aufbewahrt. Auch ein handskizziertes Schaubild hat er darin
abgeheftet: Täternamen, Kindernamen, Kreuzberger Tatorte – mit
Kugelschreiber auf DIN-A4-Papier gezeichnet. Es gibt Knotenpunkte in dem
Netzwerk, das sind die pädokriminellen Täter. Dazwischen, mit Linien
verbunden, ein dichtes Geflecht aus Kindernamen.
taz.am wochende: Herr Spoden, was war Kreuzberg in den achtziger Jahren?
Christian Spoden: Ein Jagdrevier. Es lockte sogar Pädophile aus dem Ausland
an. Die Täter nutzten die Naivität und den Zeitgeist aus.
Spoden zeichnete die Skizze 1987 mit einer Kollegin. Sie arbeitete zu der
Zeit als Sozialpädagogin an an einer Kreuzberger Oberschule in der Nähe des
Falckensteinkellers, er als Einzelfallhelfer. Ihr Auftrag: Sie sollten
sexuell missbrauchten Schülern im Kiez helfen. Mit dem Organigramm der
Opfer und Täter versuchten sie, sich einen ersten Überblick zu verschaffen.
Spoden gewährt nur flüchtige Blicke auf seine Unterlagen. Die Papiere
enthalten Dutzende Namen sexuell missbrauchter Kinder. Er hat ihnen damals
versprochen, sie nicht zu verraten.
Das Bezirksamt Berlin-Kreuzberg holte Sie 1987 an die Kreuzberger
„Kiezschule“, weil es dort Schwierigkeiten mit sexuell missbrauchten
Schülern gab. Wie sind diese Probleme bekannt geworden?
Christian Spoden: An der Schule gab es damals eine Mischung aus Gerüchten,
Halbwissen und Tatsachen. Einige Jungen verhielten sich so auffällig, dass
eigentlich gar kein Unterricht mehr möglich war. Sehr sexualisierte Sprache
– mit Betonung auf „sehr“. Diese Jungs wurden selbst übergriffig, überz…
Lehrerinnen und Lehrer mit sexuellen Beschimpfungen. Auf einer Klassenfahrt
schlossen sie sich beim Zwischenstopp an der Autobahntankstelle mit
Pornoheften auf dem Klo ein: zum Wettwichsen. Den Jungen fiel es natürlich
sehr schwer, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Sie waren verängstigt und
fürchteten sich vor Stigmatisierungen. Eine Gruppe überfiel sogar
Schwulentreffpunkte in Kreuzberg.
Warum das?
Für die Kinder gab es keine Unterschiede zwischen Schwulen und
Pädosexuellen. Das waren für die alles einfach Schwule. Auch
gleichgeschlechtliche Kontakte zwischen pädophilen Tätern und Kindern
liefen bei den Schülern damals unter „schwul“. Die fragten sich also: Wenn
mein Penis beim Anfassen erigiert – bin ich dann auch schwul? Und „schwul“
lief damals ganz eng zusammen mit der Angst vor Aids. Einige Schüler ließen
ihre Ängste und ihre Wut dann stellvertretend an Schwulen aus, die gar
nichts dafür konnten.
Wie sollten Sie diesen Schülern helfen?
Ich bekam eine Namensliste der Schüler und sprach Kinder an, die
amtsbekannt waren. Natürlich konnte ich nicht „Büro für sexuell
missbrauchte Jungen“ über meine Bürotür in der Schule schreiben, das hätte
die Kinder sofort stigmatisiert. Deshalb hieß es einfach: Der „Chrille“ ist
für die Jungs da.
„Chrille“ – diesen Spitznamen dachten sich die Kinder damals für ihren
Sozialarbeiter aus. Christian Spoden lächelt bei der Erinnerung daran.
Seine Kontakte zu den Schülern sind längst abgerissen.
Spoden, heute 57 Jahre alt, leitet eine Beratungsstelle für
Sexualstraftäter im Bremer Bahnhofsviertel. Ein großer Mann mit weichen
Zügen. Dunkelbraune Strickjacke, schlichte Metallbrille. Keiner, der sich
mit Äußerlichkeiten aufhält.
Er gehörte zu den ersten in Berlin, die sich hauptberuflich um sexuell
missbrauchte Jungen kümmerten. Anfang der achtziger Jahre hatte Spoden in
den USA eine Zusatzausbildung als Spieltherapeut für sexuell missbrauchte
Kinder absolviert. Das war damals neu in Deutschland. Das Kreuzberger
Jugendamt wusste zu dieser Zeit offenbar schon, dass in dem
Alternativbezirk Kinder systematisch missbraucht wurden. Auch das
Polizeipräsidium ermittelte, gegen Täter aus dem pädokriminellen Netzwerk
liefen Gerichtsverfahren.
Können Sie einschätzen, wie viele Kinder damals in Kreuzberg sexuell
missbraucht wurden?
Christian Spoden: Die genaue Zahl lässt sich natürlich nicht benennen. Aber
ich weiß aus meiner Arbeit, dass rund 30 Kinder von der Kiezschule,
mehrheitlich Jungen, aber auch einige Mädchen, sexuell missbraucht worden
sind. Und ich spreche hier nicht von sexueller Gewalt in den Familien,
sondern nur von diesem pädokriminellen Netzwerk in Kreuzberg. Es gab dort
wohl an die zehn Intensivtäter damals. Ich bekam mit, wie die sich
gegenseitig die Jungen abjagten.
Am letzten Haus der Falckensteinstraße endete damals nicht nur SO 36,
dieses nach dem alten Postzustellbezirk „Süd-Ost 36“ benannte Viertel in
Kreuzberg. In Sichtweite am Spreeufer verlief die Grenze zur DDR. Der Kiez
lag, von der Welt abgeschieden, im toten Winkel hinter der Berliner Mauer.
Verfallene Gebäude säumten die Straßen, rußige Fassaden, aschgrau vom Qualm
der Öfen, mit denen die meisten Kreuzberger Wohnungen beheizt wurden. SO 36
galt als Absturzkiez: Arbeitslose und Migranten lebten auf engstem Raum.
Zugleich experimentierten Aussteiger im Quartier mit grün-alternativen
Lebensmodellen: besetzten Häusern, kollektiven Wirtschafts- und
Kulturbetrieben, Kinderbauernhöfen. 1987 entluden sich die sozialen
Spannungen nach der „Revolutionären 1. Mai-Demo“. Ein Supermarkt brannte
aus, Menschen plünderten und lieferten sich mit Polizisten
Straßenschlachten bis in den frühen Morgen.
Die Zeit hat die meisten Spuren dieses Kreuzberg mitgerissen: den Eckladen
von Eier-Schulz mit der schwarz gekachelten Fassade am Eingang zur
Falckensteinstraße genauso wie das besetzte Werner-Orlowsky-Haus um die
Ecke oder die Szenekneipe Kuckucksei samt handbepinseltem „Bullen
raus!“-Transparent über dem Schaufenster. Nicht mal im Archiv des
Kreuzberg-Museums findet sich zwischen Hunderten Schwarz-Weiß-Fotos eine
Aufnahme von dem Altbau, in dessen Souterrain der Kicker und das Sofa für
die Kinder des Falckensteinkellers standen. Nach einer Fusion mit dem
Nachbarbezirk im Berliner Osten heißt der Stadtteil seit 2001 offiziell
Friedrichshain-Kreuzberg. Hörensagen und Geschichten aus dritter Hand:
Näher als mit Spoden und seinen gezeichneten Skizzen kann man dem, was hier
vor dreißig Jahren passierte, kaum kommen.
Heute steht eine neue, leuchtend türkis und gelb getünchte Moschee auf dem
Grundstück. Die Falckensteinstraße hat sich verändert: Touristen aus aller
Welt schieben sich an den Thai- und Burgerlokalen vorbei. Statt für Eier
und gegen „Bullen“ werben die Schaufenster für Berliner Modelabels und
veganes Bioeis am Stiel. SO 36 gilt jetzt als Spielplatz hipper Menschen,
als Ausgehmeile. Zunehmend auch als attraktive Wohngegend für
Mittelschichtsfamilien.
Aus welchen Elternhäusern kamen die Schüler, um die Sie sich damals
kümmerten?
Christian Spoden: Betroffen waren vor allem Kinder aus sozial schwachem
Milieu, darunter Migranten. Einige Schüler kamen aber auch aus
grün-alternativen Familien, funktionierender Kreuzberger Mittelschicht. Ein
Kind hatte Cellounterricht, der Vater war Kurator an einem Museum. Diese
Familien lebten halb bürgerlich, halb alternativ.
Sie erwähnten die Ängste der sexuell missbrauchten Schüler vor Aids. Waren
die begründet?
Ja, denn es gab vermutlich auch Kinder, die von den Tätern angesteckt
wurden. Ein 15-jähriger Schüler war zerfressen von der Angst, Aids zu
haben. Einen HIV-Test durfte er jedoch aber nur mit der Erlaubnis seiner
Eltern machen, aber die sollten nichts erfahren.
Warum nicht?
Einige Elternhäuser waren ein ganz eigenes Problem. Ein Junge wurde von
seinem Vater verprügelt, nachdem der Missbrauch im Falckensteinkeller
herausgekommen war. Dafür, dass er „zu dem Schwulen“ gegangen war. Der
Vater schickte den Sohn dann zum Karatekurs, er sollte lernen, „sich wie
ein Mann zu wehren“. Einige Täter schlichen sich gezielt in die Familien
ein. Sie liehen den Eltern Geld, spielten die liebevollen Gönner. In eine
Familie, bei der wir Hausbesuche machten, hatte sich der Täter richtig
reingesetzt. Er machte die Mutter emotional abhängig, gab ihr Geld und
missbrauchte die beiden Jungen heftig. Einer davon missbrauchte ein halbes
Jahr später seine Schwester. So ein Nachspielen der Missbrauchssituation
war nicht selten.
Die Täter nisteten sich in den alternativen Strukturen ein: Sie gründeten
Jugendinitiativen, zogen in linke Hausprojekte. Diese Schattentopografie
des Missbrauchs ist heute überformt. Längst parken vor den Grundschulen
keine Wohnwagen mehr, in denen pädosexuelle Männer „Hausaufgabenhilfe“
anbieten. Das „Café Graefe“, in dem Pädogruppen tagten, machte zu. Das
„Kerngehäuse“ in der Cuvrystraße existiert noch. Aus der Besetzung einer
abrissreifen Fabrik erwuchs ein selbst verwaltetes Wohn- und
Gewerbeprojekt. Auch heute lebt man dort noch in WGs, arbeitet in der
Tischlerei, dem Impro-Theater, der Taxigenossenschaft. Aber nur noch sehr
wenige Bewohner können oder wollen sich an die „Kiezmiliz“ erinnern. In den
achtziger Jahren misstrauten viele in den Milieus der Linken, Alternativen
und Autonomen staatlichen Institutionen wie der Polizei. Dieses Misstrauen
ging so weit, dass man Pädosexuelle nicht anzeigte, sondern das Problem
selbst lösen wollte. Manche versuchten, die Täter in Therapien zu drängen.
Andere fanden sich in Gruppen wie der „Kiezmiliz“ zusammen und wollten
Pädosexuelle, die in der Cuvrystraße Wohnungen angemietet hatten, mit
Gewalt vertreiben.
Gezielt traten Pädosexuelle in die Alternative Liste ein. In der
Vorläuferorganisation der Berliner Grünen engagierten sie sich für
„Pädorechte“ und unterwanderten besonders den „Bereich Schwule der AL“…
gab unter anderem „Kindersex“ verherrlichende Broschüren heraus wie „Ein
Herz für Sittenstrolche“ (1980). Dieses Erbe flog den Grünen im
Bundestagswahlkampf 2013 um die Ohren. Bis heute versucht die Partei einen
angemessenen Umgang damit zu finden.
Dass grüne Pädophilielobbyisten und Intensivtäter so eng verflochten
waren, wurde im Mai dieses Jahres deutlich. Mit dem Bericht einer
parteiinternen Aufklärungskommission über die pädosexuellen Verwicklungen
im Berliner Landesverband.
Wie konnten die Täter derart nah an die Kreuzberger Kinder herankommen?
Christian Spoden:Die Täter gaben sich als Pädagogen aus, gingen dorthin, wo
sie mit ihrem Bedürfnis nach Körperkontakt und Nacktheit nicht auffielen.
Ins Schwimmbad, in alternative Projekte – oder zu den Pfadfindern.
Nacktheit hatte ja damals auch einen größeren Stellenwert im
Alternativmilieu. Ich erinnere mich, dass ein Täter so dreist war, beim
Bezirk eine Pflegestelle für Kinder zu beantragen. Und wir wissen bis jetzt
überhaupt nicht, wie viele Kinder in dieser Zeit in Pflegefamilien
missbraucht wurden. Einige Eltern waren einfach froh, dass ihre Kinder von
der Straße weg waren. Im Falckensteinkeller lockten die Männer mit
Hausaufgabenhilfe, warmem Essen und Freiheiten. Die Schüler spielten
Flaschendrehen, bekamen Alkohol, wohl auch Drogen. Zugleich wurden Schüler
massiv bedroht. In einem Fall hat ein Täter ein Haustier vor den Augen
eines Kindes umgebracht, um es einzuschüchtern, damit es nicht vor Gericht
aussagt.
Einer der Intensivtäter hieß Fred Karst. Der bekennende Pädosexuelle war
Mitbetreiber des Falckensteinkellers. Dort missbrauchten Karst und andere
Männer eine Vielzahl von Kindern – vermutlich vor allem Schüler zwischen 9
und 13 Jahren. Karst war nicht nur bei den Pfadfindern aktiv, sondern auch
Mitglied der Berliner Grünen. Dort engagierte er sich in der
Schwulenpolitik. 1986 wurde er wegen sexuellen Missbrauchs verurteilt, bis
1989 saß er im Gefängnis. Trotzdem durfte er in der Partei weiter wirken,
vertrat noch 1992 den Schwulenbereich beim Landesparteitag. Im selben Jahr
gründete Karst den Gesprächskeis „Jung und Alt“, eine notdürftig getarnte
Pädosexuellengruppe. Erst nachdem er 1995 für den Missbrauch eines
Achtjährigen verurteilt worden war, wurde ein Parteiausschlussverfahren
eingeleitet. Karst trat schließlich selbst aus.
Wie haben Sie Fred Karst in Erinnerung?
Christian Spoden: Ich erinnere mich an einen wirklich unappetitlichen
Schmierbauch. Der Kerl war ungepflegt, dick, trug Hosenträger – alles an
ihm hätte in ein dreckiges Rechtsmilieu gepasst. Der hatte überhaupt nicht
den sozialen Code eines Grünen. Ich habe den deshalb immer als Nazi
verbucht.
In seinem Aktenordner hat Spoden auch ein vergilbtes maschinengeschriebenes
Pamphlet von Fred Karst aufbewahrt. Er überfliegt es, blättert angewidert
weiter. Damals befasste sich Spoden kaum mit den Tätern, sondern
konzentrierte sich auf die Opfer.
Was konnten Sie den Kindern, die in Ihr Schulbüro kamen, konkret anbieten?
Christian Spoden: Ich war einer von wenigen Menschen, denen sich die Jungen
anvertrauen konnten, ohne dass ihre Informationen weitergegeben wurden. Mit
Gruppen- und Einzelgesprächen, die zum Teil über Jahre gingen, bereitete
ich eine spätere Therapie vor. Einige Kinder begleitete ich auch in den
Prozessen gegen die Täter vor Gericht. Im Verfahren gegen Fred Karst habe
ich ein paar Jungen im Bus zum Gericht gefahren. Als wir an der Wohnung
eines anderen Täters vorbeikamen, meinte einer: Och, da oben ist noch die
Carrerabahn, die er mir geschenkt hat. Und die anderen riefen: Hast du auch
eine bekommen? Da kam raus, dass er dieselbe Bahn allen geschenkt hatte.
Die Empörung, die dann losbrach, stand in keinem Verhältnis zur Empörung
über die sexuellen Handlungen. Am Thema Betrug konnte ich ansetzen und ganz
behutsam zum Kern der Sache, dem eigentlichen Missbrauch, kommen. Ohne den
Schaden größer zu machen, als er war. Eine schwierige Gratwanderung.
Das heißt, während Sie mit den Kindern arbeiteten, ging der Missbrauch
weiter?
Zu meiner Arbeit gehörte es, auszuhalten, dass die Kinder nebenbei weiter
Missbrauchskontakte hatten.
Haben Sie die Kinder nicht gewarnt: Geht nicht mehr in den
Falckensteinkeller?
So einfach funktionierte das nicht. Denn Einrichtungen wie der
Falckensteinkeller bedeuteten den Kindern etwas. Es war für sie normal,
dort hinzugehen. Die Männer waren zum Teil Elternersatz. Deshalb wollten
die Kinder ihre Freunde nicht in die Pfanne hauen und gegen sie aussagen.
Gleichzeitig verspürten alle einen Druck, sich zu öffnen. Aber die Täter
gingen sehr geschickt vor. Sie verwendeten viel Energie darauf, die Schüler
selbst zu Tätern zu machen, forderten sie auf, andere Kinder in den Keller
mitzubringen und mit ihnen Sex zu machen. Dann drohten sie: Wenn du mich
verrätst, verrate ich dich. Einige Schüler wurden auch mit pornografischen
Fotos erpresst.
Spoden lief mit den Kindern durch das Viertel. Das war der Ansatz der 1984
gegründeten Kiezschule. Sie zeigten ihm den „Falckensteinkeller“ und die
Häuser, wo die Täter wohnten. Die Oberschule verstand sich als
pädagogisches Modellprojekt für SO 36 mit einem Schwerpunkt auf
„stadtteilorientertem Lernen“. Die Schüler brachten viele Probleme mit in
den Unterricht – die Schule wollte sie auffangen. Ein Sozialarbeiterteam
bot Berufsberatung an, psychologischen Rat, Hausbesuche.
Spoden wohnte selbst in einer Kreuzberger WG. Wenn er ins Schwimmbad ging,
traf er Schüler. Und unter der Dusche standen die Täter und waren nicht
erfreut, dem Sozialarbeiter zu begegnen. Sehen und gesehen werden – auch
das gehörte damals zu Spodens Arbeit in Kreuzberg, diesem Hippiedorf
inmitten der Großstadt. Sogar Autonome von einem Kreuzberger
Kinderbauernhof suchten seinen Rat, weil sie einen Pädokriminellen in ihrer
Initiative bemerkt hatten. Die verhassten „Bullen“ einzuschalten, kam für
sie nicht infrage. Lieber halfen sie sich selbst, fragten einen Fachmann um
Rat. Der sollte therapieren. Spoden wich den Tätern nicht aus, sondern
spürte ihnen gezielt nach. Einmal mischte er sich unter die Besucher eines
Pädophilenstammtischs im Café Graefe – er wollte erleben, was dort ablief.
Sie lernten Kreuzberg als Tatort neu kennen?
Christian Spoden: Ja. Gleichzeitig musste ich aufpassen, mich nicht selbst
verdächtig zu machen: Noch so ein netter Onkel, der Kindern ein Eis ausgibt
… Die zuständige Inspektorin im Polizeipräsidium brauchte lange, um ihre
Skepsis mir gegenüber abzulegen.
Warum blieben die Täter so lange unbehelligt?
Viele Jungs haben damals die Aussage verweigert. Deshalb drängte die
Polizei mich: Bring die doch endlich mal zum Erzählen! Aber ich wollte
keinen Druck ausüben. Es wurde ja ohnehin schon von allen Seiten Druck
ausgeübt auf die Betroffenen. Spätestens wenn sie als Zeugen im
Gerichtssaal saßen, und gegen einen übermächtigen, sie bedrohenden Täter
aussagen sollten. Diese Blicke, diese Atmosphäre! Dass ein Kind da nichts
sagt, ist doch völlig klar. Außerdem kam es den Tätern entgegen, dass es
besonders in der autonomen Szene eine Allergie gegen Polizei und Justiz
gab.
Heute setzen schon Kitas das Missbrauchsthema auf die Tagesordnung. Auch
die Grünen gehen offensiv mit dem Kapitel ihrer Parteigeschichte um. Sie
baten öffentlich um Entschuldigung, schalteten eine Hotline für
Missbrauchsopfer. Kürzlich richtete die Grünen-Spitze einen Beirat ein, der
Betroffenen therapeutische Unterstützung oder Geldzahlungen vermitteln
soll.
Wie erklären Sie sich, dass sich trotz der offenbar hohen Fallzahl bis
heute kaum Betroffene zu Wort gemeldet haben?
Christian Spoden: Für mich ist das völlig nachvollziehbar. Denn dann
müssten die Betroffenen sich ja outen und sich selbst zum Opfer
deklarieren. Schon als Jugendliche verweigerten die meisten eine Therapie.
Die haben gesagt: Ich geh doch nicht zum Kopfdoktor, ich hab doch keine
Störung. Solche Scham- und Schuldgefühle wirken lange. Wie viele Frauen,
die im Krieg vergewaltigt wurden, reden erst fünfzig Jahre später darüber.
Gründe, zu verdrängen und zu schweigen, haben diese Kinder genauso. Auch
weil sie so in die Sache verstrickt sind. Bei einer Telefonhotline würden
die meisten wohl nie anrufen.
Heute gibt es den gesellschaftlichen Wunsch nach Aufarbeitung. Sollte man
die Betroffenen von damals mit diesem Anliegen besser in Ruhe lassen?
Jeder Mensch hat seinen eigenen Zeitpunkt, zu dem er sich damit
beschäftigen will. Natürlich wäre es sehr interessant, die Jungen von
früher anzuschreiben und einzuladen. Ich würde mich sofort gerne wieder mit
denen treffen! Aber eine direkte Kontaktaufnahme ist sehr schwierig.
Verdrängung ist ein sehr guter, schützender Mechanismus. Diese Schutzmaske
darf man nicht herunterreißen. Wobei es immer auch Opfer gibt, die sich
wünschen, angesprochen zu werden. Aber was damals passierte, ist jetzt in
der Öffentlichkeit. Mehr kann man vermutlich nicht tun.
Finden Sie es selbstgerecht, mit den Maßstäben von heute über die Zeit
damals zu urteilen?
Die Täter von damals haben nicht nur die Kinder und deren Familien
ausgenutzt, sondern auch den damaligen Zeitgeist. Das Kreuzberger Credo
hieß : Anything goes. Alternative, Autonome und Schwulenbewegung waren
damals nur unzureichend sensibilisiert und unwissend, was das Thema
sexueller Missbrauch anging. Heute mit dem Finger darauf zu zeigen ist
billig. Die Betroffenen für eine Diskreditierung politischer Gegner zu
benutzen niederträchtig.
Ich finde, Aufarbeitung ist eine Selbstverständlichkeit. Wir können daraus
lernen. Das heißt aber auch, sich zu fragen, wo wir heute blinde Flecken
haben. Das Kreuzberg der 80er Jahre ist Geschichte. Sexuelle Ausbeutung von
Kindern nicht.
Nina Apin,41, ist Redakteurin im Berlinteil der taz und wohnte im
Kreuzberger Wrangelkiez. Von dessen Vergangenheit erfuhr sie erst, seit sie
über das pädosexuelle Erbe der Grünen schreibt
Astrid Geisler,40, berichtet im taz-Parlamentsbüro über die Grünen. Im
Wrangelkiez schrieb sie ihr erstes Buch, der Arbeitsweg führte die
Falckensteinstraße hinunter
8 Aug 2015
## AUTOREN
Nina Apin
Astrid Geisler
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