| # taz.de -- Fortschritt IV Ein Gespräch mit dem Philosophen Markus Gabriel üb… | |
| Bild: Dank unseres Wohlstands ist das Ideal der Gleichheit in Deutschland allge… | |
| Interview Hannes Koch | |
| taz: Herr Gabriel, viele Menschen glauben heute nicht mehr, dass es ihren | |
| Kindern besser gehen wird als ihnen selbst. Halten Sie diese pessimistische | |
| Grundstimmung für begründet, oder können wir weiter auf Fortschritt hoffen? | |
| Markus Gabriel: In der Aufbruchstimmung der 1950er bis 1970er Jahre ging | |
| man davon aus, dass die materielle Ausstattung und Lebensqualität mit jeder | |
| Generation zunehme, wenn sich die jungen Leute gut benehmen und bestimmte | |
| systemkonforme Wege einhalten. Dieser Prozess funktioniert heute nicht mehr | |
| richtig. Außerdem hat sich gezeigt, dass das Wachstum der Vergangenheit auf | |
| Ungleichheit abgestellt war. Theoretisch nahm man zwar an, jeder könne | |
| einen ähnlichen Standard erreichen. Faktisch haben aber diejenigen, die | |
| besonders geschickt im Spiel waren, viel mehr Reichtum angesammelt als der | |
| Durchschnitt der Bevölkerung. | |
| Sie teilen die zeitgenössische Skepsis also? | |
| Im Gegenteil, ich bin eher Optimist. Wenn wir mittlerweile Zweifel am | |
| bisherigen Weg hegen und die Ungleichheit in den Fokus der Kritik rückt, | |
| hat das auch damit zu tun, dass wir nun ein höheres Ideal von Gleichheit | |
| verfolgen. | |
| Die aktuelle Sozialkritik fußt aber auf Fakten: 16 Prozent Arme gibt es in | |
| Deutschland ja wirklich. | |
| Stimmt. Aber auch aus einem anderen Grund beschäftigt uns dieser Umstand | |
| mehr als früher: Das Ziel der Gleichheit löst die alten Idealvorstellungen | |
| ab. Deshalb meine ich, wir sind auf einem guten Weg. | |
| Wie kommt dieser Paradigmenwechsel zustande? | |
| Die deutsche Gesellschaft hat inzwischen einen so grundrespektablen | |
| Wohlstand erreicht, dass wir uns neuen Fragen widmen können und müssen. | |
| Solche Fortentwicklungen sieht man auch an anderer Stelle: Wir leben in | |
| Europa in mehr oder weniger gewaltfreien Gesellschaften – in dem Sinne, | |
| dass es kaum noch zu körperlicher Gewalt kommt. In unseren Großstädten lebt | |
| man viel sicherer als etwa in den USA oder in Brasilien. Deshalb beginnen | |
| wir uns zu fragen: Was ist mit psychischer Gewalt – Diskriminierung, | |
| Burn-out, Mobbing? Wir haben jetzt Phänomene im Blick, die uns vorher nicht | |
| aufgefallen sind, weil wir erst mal die harten Probleme zu klären hatten. | |
| Fortschritt funktioniert ja immer so, dass an irgendeiner Stelle ein neues | |
| Spiel beginnt. | |
| Ist das ein dialektischer Prozess? | |
| Ja, denn Fortschritt ist keine Linie. Die Menschen folgen nicht zu allen | |
| Zeiten derselben Idee. Eher ist es so: Während die Gesellschaft einem Ideal | |
| nahe zu kommen versucht, zeigt sich, dass diese Zielvorstellung teilweise | |
| gegen sich selbst gerichtet ist. Ein Beispiel: das | |
| Wirtschaftswunder-Versprechen „Wohlstand für alle“. Obwohl alle profitieren | |
| sollten, besaßen einige bald viel mehr als andere. Dadurch entstehen | |
| Konflikte. Die Gesellschaft muss sich entscheiden: Was ist wichtiger – | |
| Wohlstand oder alle? Da trennen sich die Wege. Ich glaube, dass wir uns | |
| erfreulicherweise für mehr Umverteilung des Wohlstands entschieden haben | |
| und nicht einfach nur für weiteres materielles Wachstum. | |
| Auf dem letzten G-7-Gipfel haben die Regierungen beschlossen, bis 2030 | |
| weltweit die krassesten Formen der Armut zu beseitigen. Ist das ein | |
| Fortschritt, wie Sie ihn meinen? | |
| Das beweist zweierlei. Theoretisch ist die Norm anerkannt, dass allen | |
| Menschen das gleiche Recht auf eine materielle Grundausstattung zukommt. | |
| Das ist schon mal großartig. Schlimm wäre es, in einer Gesellschaft zu | |
| leben, in der die Mächtigen diesen Anspruch grundsätzlich bestreiten. Da | |
| die Norm der Gleichheit aber abstrakt ist, muss sie immer wieder neu | |
| gefüllt werden. Und das geht nur durch Widerstand und Kampf. Der | |
| französische Philosoph Jacques Rancière sagt: Politik heißt, denen eine | |
| Stimme zu geben, die keine haben. Weil die Eliten ihre Stimme und ihren | |
| Einfluss jedoch nicht abgeben wollen, muss Fortschritt permanent erkämpft | |
| werden – auch der Anspruch auf Gleichheit. | |
| Bereits seit der Französischen Revolution sind gleiche politische und | |
| soziale Rechte als fundamentale Werte anerkannt. Warum kommt nun ein neuer | |
| Schub? | |
| Das halte ich für ein Ergebnis der deutschen Revolution von 1989. Durch die | |
| Wiedervereinigung hat unsere jetzige Gesellschaft gewisse Ideale des | |
| Sozialismus aus der untergegangenen DDR inkorporiert. | |
| Eine deutsche Besonderheit, die für andere europäische Länder so nicht | |
| gilt? | |
| In Großbritannien, wo ich kürzlich an einem Kongress teilnahm, sprach ich | |
| mit der Shuttle-Fahrerin, die mich hinbrachte. Sie erzählte, dass sie in | |
| einem weiteren Job arbeitet, bei dem sie Toiletten putzt. Und sie war | |
| überrascht, dass ich als Philosophie-Professor überhaupt mit ihr rede. Ein | |
| englischer Professor, sagte sie, würde das kaum tun. Wenn es sich nicht | |
| vermeiden ließe, würde er ein Englisch mit einem Oxford-Elite-Akzent | |
| auflegen, um ihr das Gefühl zu geben, sie sei der Sprache nicht richtig | |
| mächtig. Solche Klassenunterschiede haben wir in Deutschland nicht – was | |
| ich auch als eine Folge des Sozialismus im eigenen Land sowie der | |
| weitgehenden Abwesenheit einer über alle Teile der Gesellschaft wachenden | |
| Monarchie und Aristokratie in der deutschen Geschichte betrachte. | |
| Im 18. Jahrhundert bildete sich der Fortschrittsbegriff der Aufklärung | |
| heraus. Aus der Vogelperspektive betrachtet wird das Leben der Individuen | |
| und der Gesellschaft dank Wissenschaft, Technik und Demokratie immer | |
| besser. Dagegen postuliert Kulturwissenschaftler Claus Leggewie, | |
| Fortschritt dürfe nicht mehr gleichgesetzt werden mit Wirtschaftswachstum | |
| und zusätzlicher Technik. Stimmen Sie dem zu? | |
| Der unreflektierte Glaube an Wachstum und Technik hat sich tatsächlich | |
| überlebt. Trotzdem halte ich das zivilisatorische Modell der Moderne – | |
| Technik plus Wissenschaft plus Ökonomie – noch für richtig. Denn ich will | |
| nicht zu Aristoteles’ Zahnarzt gehen müssen. Zu Recht beanspruche ich eine | |
| schmerzfreie Zahnbehandlung – wie alle anderen auch. Den Fortschritt in der | |
| Dentaltechnik halte ich für ebenso begrüßenswert wie in der medizinischen | |
| Gentechnik, den Neurowissenschaften und anderen Sparten. Ich glaube nicht, | |
| dass es etwas gibt, das wir nicht erforschen sollten. Nötig ist allerdings | |
| immer die kritische Überprüfung, die selbst kein naturwissenschaftlicher | |
| oder technischer Vorgang ist. Deswegen ist ein nächster Fortschritt der, | |
| den Geistes- und Sozialwissenschaften eine zentrale Reflexionsstelle in der | |
| Gesellschaft zuzuweisen. Mit Technik kann man über Technik nicht | |
| nachdenken. | |
| Der technisch-wissenschaftliche Fortschritt muss weitergehen, um die | |
| Lebensqualität der Individuen zu steigern? | |
| Denn die wichtigste Einsicht der Moderne ist: Wir haben keine Seele, die | |
| als Entität unseren Tod überdauert. Der Mensch lebt nur einmal, niemand ist | |
| unsterblich. Wer etwas anderes für wahr hält, den lassen wir in diesem | |
| Aberglauben, solange er die Mitmenschen damit nicht bedroht. Diese | |
| fundamentale Einsicht bedeutet, dass jeder Schmerz, den ich erleide, | |
| unendlich schlecht ist, quasi für die Ewigkeit schlecht. Man kann ihn nicht | |
| im nächsten Leben wiedergutmachen. Das meinte Friedrich Nietzsche, als er | |
| über die „ewige Wiederkehr des Gleichen“ schrieb. Für einen Menschen, der | |
| nur einmal lebt, ist alles, was geschieht, so wichtig, als würde es immer | |
| wieder passieren. So müssen wir alles daransetzen, schmerzfreie, gelingende | |
| Leben zu ermöglichen – auch mittels der Wissenschaft. | |
| Wo noch ist Fortschritt heute dringend nötig? | |
| Wir müssen die Menschenrechte ernster nehmen. Diese gelten nicht nur für | |
| die Einwohner Deutschlands. Die kosmopolitischen Bürgerrechte der | |
| Menschenwürde, freie Wahl des Wohnorts oder körperliche Unversehrtheit | |
| können selbstverständlich auch die Menschen in Anspruch nehmen, die über | |
| das Mittelmeer zu uns kommen. Wir sollten lernen, die sogenannten | |
| Flüchtlinge anders anzuschauen. Deutsche Emigranten, die in Südportugal | |
| leben, bezeichnen wir nicht als Flüchtlinge. | |
| Sondern als Auswanderer, wie die Millionen Deutschen, die im 19. | |
| Jahrhundert die USA mit aufgebaut haben. | |
| Das Wort Flüchtling ist gefärbt. Man stellt sich Schwarze vor, die aus der | |
| Wüste kommen und Terroristen werden könnten. Nennen wir diese Menschen | |
| hingegen Auswanderer, schwingt darin ein Bild der Gleichheit mit. | |
| Die Regierungen Chinas, Russlands, zuweilen auch die türkische Regierung | |
| bestreiten den universellen Charakter der Menschenrechte und bezeichnen sie | |
| als westliche Werte. Was sagen Sie dazu? | |
| Gleichheit, Meinungs- und Religionsfreiheit und die übrigen Grundrechte | |
| sind allgemeine Rechte, die allen Menschen zustehen. Eine akzeptable | |
| Begründung, sie einzuschränken, existiert nicht. Zwei plus zwei ist auch in | |
| China vier. Das hat nichts mit Westen zu tun. | |
| Was ist das stärkste Argument für die umfassende Gültigkeit der | |
| Menschenrechte? | |
| Die Tatsache, dass alle Menschen gleich sind und wir dies einsehen können, | |
| da wir über das erfreuliche Vermögen verfügen, die Perspektive anderer | |
| Menschen einzunehmen und sie zu verstehen. Die Grundlage der Menschenrechte | |
| ist die menschliche Fähigkeit, einzusehen, dass man ein Individuum unter | |
| anderen ist, die ebenfalls Ansprüche anmelden. Daraus leiten sich die | |
| Menschenrechte ab. Deshalb gibt es kein vernünftiges Argument gegen ihre | |
| umfassende Gültigkeit. | |
| Ein Gegenargument lautet, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von | |
| 1948 sei in der speziellen Situation nach dem Zweiten Weltkrieg von den USA | |
| durchgesetzt worden und nehme deshalb eine einseitige Perspektive ein. | |
| Das tut ihrem universellen Anspruch keinen Abbruch. Man soll nicht denken, | |
| die Mächtigen würden immer das Falsche unternehmen. Manchmal handeln sie | |
| auch richtig. Nur weil die USA etwas durchsetzen, ist es noch lange nicht | |
| falsch. Sie haben ja auch Jazz durchgesetzt. | |
| Brauchen wir als Gesellschaft einen Begriff von Fortschritt, damit wir | |
| wissen, wohin es geht? | |
| Fortschritt im Sinne der Gleichheit ist schon der Zweck an sich selbst. Man | |
| muss nicht alles begründen wollen, am wenigsten das, was schon universal | |
| gilt, sonst neigt man dazu, etwas Offensichtliches für bezweifelbar zu | |
| halten. Das ist ein Fehler, und das wusste übrigens schon Aristoteles, | |
| obwohl er einen schlechten Zahnarzt hatte. | |
| 1 Aug 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Hannes Koch | |
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