# taz.de -- Kolumne Wirtschaftsweisen: Vom Kapital Getriebene | |
> Warum Schriftsteller an extremer Reizunterflutung bei gleichzeitig | |
> wachsender Ideenarmut leiden. | |
Bild: Goethe;: geordnete Arbeitsabläufe. | |
So heißt ein dicker Reader, den ich neulich in der taz fand, in dem etwa 30 | |
berühmte Schriftsteller – von Goethe und Schiller über Flaubert und | |
Dürrenmatt bis zu Loriot und Faulkner – mit „erlebten Geschichten“ | |
aufwarten. Nun ist der Titel erst mal ein Witz, denn gerade Schriftsteller, | |
und dazu noch berühmte, die von einer Einladung zur nächsten | |
Preisverleihung hasten, sitzen den ganzen Tag am Schreibtisch und lesen und | |
strukturieren und formulieren. Das sagen und schreiben sie jedenfalls. | |
Denn viele unterwerfen sich dabei sogar einem strengen Arbeitsplan: Morgens | |
um 5 Uhr aufstehen, bis 7.30 Uhr schreiben, dann Frühstücken, eine Zigarre | |
rauchen, bis zum Mittagessen auf der Veranda nachdenken, ab 13.45 Uhr | |
weiterschreiben, nach dem Kaffee um 15.30 Uhr mit dem Hund im Park | |
spazieren gehen, dann wieder schreiben usw. Und das jahraus, jahrein. Aber | |
natürlich erleben diese Schriftsteller auch gelegentlich eine „Geschichte“ | |
– z. B. im Park mit dem Hund, als der eine Ente jagte und totbiss, | |
woraufhin man sie wütend auf die Anleinepflicht hinwies, oder auf einer | |
Lesung in Wolfenbüttel, wo zwei der Veranstalter sich in ihrem Beisein | |
ausgiebig küssten. | |
## „Cut and go“-Filialen | |
Aber im großen Ganzen stöhnen alle Schriftsteller, jedenfalls alle, die ich | |
kenne, über die extreme Reizunterflutung, der sie als professioneller Autor | |
mehr und mehr ausgesetzt sind – bei gleichzeitig wachsender Ideenarmut und | |
Kindheitserinnerungs-Ausleerung. Das ist vom Kapital – von der bürgerlichen | |
Scheißgesellschaft – auch so gewollt: Dass die Milliarden Handarbeiter, die | |
täglich Schreckliches erleben (man denke nur an die Friseusinnen in den | |
„Cut and go“-Filialen), nie ihre „erlebten Geschichten“ veröffentliche… | |
Auf der anderen Seite gibt es vielleicht 6 Millionen Kopfarbeiter, die | |
nichts mehr erleben (außer kleinere Katastrophen – wie einen | |
Zugführerstreik oder die Weigerung der Ehefrau, ein Manuskript abzutippen). | |
Ausgerechnet diese Publizierer, die immer weniger Geschichten auf Lager | |
haben, müssen ihren Output ständig steigern (und in den USA mindestens ein | |
Buch und sechs Artikel jährlich veröffentlichen). Die Hand- ebenso wie die | |
Kopfarbeiter sind mithin vom Kapital derart Getriebene, dass sie ständig | |
vom Leerlaufen bedroht sind – wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise: | |
Während die Handarbeiter den nächsten Urlaub herbeisehnen, um sich 28 | |
Werktage in der Sonne vom Akkordstress zu erholen, hoffen die Kopfarbeiter, | |
endlich vom Schreibtisch wegzukommen – z. B. mit einem | |
Villa-Massimo-Stipendium oder einer Reise zu 12 Goethe-Instituten in 13 | |
Ländern. Aber darüber ist schon so viel geschrieben worden, besser ist eine | |
gesponserte Lustreise zwecks Stoffsammlung. Das passierte z. B. dem | |
Schriftsteller Frank Schulz: Er bekam eine Kreuzfahrt auf der „Aida“ | |
angeboten – und veröffentlichte darüber prompt seinen nächsten | |
„Onno-Viets-Roman. Ähnliches erlebte auch Hans Christoph Buch: dass man ihn | |
auf die Südseespuren des Malers Emil Nolde setzte. Beide Bücher lohnen | |
jedoch nicht den Ankaufspreis. | |
## Mindestens Thailand | |
Es handelt sich dabei auch nicht wirklich um „erlebte Geschichten“, es sind | |
eher literarische Notlösungen. So wie die kinderreichen Arbeiterfamilien | |
früher in die kalte, regenreiche Rhön auswichen, weil es für einen | |
Strandurlaub nicht reichte. Zwar gibt es kaum noch Arbeiter, aber bei den | |
wenigen noch existierenden hat sich dennoch die „Lebensqualität“ im | |
Verhältnis zu der der Schriftsteller vom Kopf sozusagen auf die Füße | |
gestellt: Während jene nun die Südsee buchen, mindestens Thailand, fahren | |
diese immer wieder in die Rhön. | |
Heuer fand dort erneut eine dreitägige Mammutlesung mit 32 Schriftstellern | |
und Lyrikerinnen auf der Jungviehweide „Kalte Buche“ statt. Die nimmt man | |
dann ja auch noch gern mit, wenn man schon mal da ist, in diesem | |
Nordic-Walker-Sphärenreservat. Diesmal im Übrigen bei strahlendem | |
Sonnenschein. Leider motivierte das auch die Rhöner Bauern zum Heumachen | |
auf der besagten Jungviehweide – unter Einsatz modernster Technik. Während | |
die Schriftsteller nicht einmal ein Mikrofon hatten – und einiges an | |
erlebter Geschichte dadurch quasi unerlebt blieb. | |
18 Jul 2015 | |
## AUTOREN | |
Helmut Höge | |
## TAGS | |
Windparks | |
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