# taz.de -- Subversion des Wissens | |
> Ideengeschichte Wer hat’s erfunden? In der Berlin-Brandenburgischen | |
> Akademie der Wissenschaftenwurde einen Abend lang über Originalität und | |
> Reputation in der Wissenschaft nachgedacht und gestritten | |
Bild: Leibniz (1646–1716) konkurrierte mit Newton in der Mathematik | |
von Cord Riechelmann | |
Draußen, vor dem Eingang zum Leibniz-Saal der Berlin-Brandenburgischen | |
Akademie der Wissenschaften (BBAW) am Gendarmenmarkt, war die Hölle los. | |
Bürger picknickten dicht gedrängt, auf dem Pflaster sitzend, aßen aus | |
Tupperware Hirsesalat und warteten offensichtlich auf den Beginn eines | |
Events mit Namen „Open Air Classic“. Drinnen aber, im würdigen Leibniz-Saal | |
der genauso würdigen Akademie, wurde ein Stück gegeben, das man so bestimmt | |
nicht erwarten konnte. Das Stück handelte, ohne damit groß anzugeben, von | |
der Subversion des Wissens und drehte sich um im Event-Demokratismus so | |
verleumdete Begriffe wie Gemeinschaft und Wahrheit in der Wissenschaft. | |
## Leibniz und Newton stritten | |
Ausgehend vom Prioritätsstreit zwischen Leibniz und Newton um die | |
Entwicklung der Infinitesimalrechnung im 18. Jahrhundert ging es am frühen | |
Montagabend um die Bedeutung der Wörter „Originalität“, „Priorität“ … | |
„Reputation“ in der Wissenschaft. Der Streit zwischen Leibniz und Newton um | |
die Frage, wer denn als Erster welches Kalkül oder welche Formel in die | |
Mathematik eingeführt habe, diente dabei vor allem als ein gut gewählter | |
Einstieg in aktuelle Probleme. Wobei es einen Widerstand der Akteure gegen | |
den nur allzu bekannten Gleichklang von Originalität, Priorität und | |
Reputation gab, der auch die Körper der Akteure erfasste. | |
Als nämlich Bettina Mittelstrass, die Moderatorin des Gesprächs, das ein | |
Diskurs im besten Sinne dieses Wortes war, den Mathematiker, | |
Leibniz-Forscher und Wissenschaftshistoriker Eberhard Knobloch mit all | |
seinen Verdiensten ausführlich vorstellen wollte, wurde der ungeduldig. | |
Offensichtlich hatte Knobloch etwas Besseres zu tun, als sich selbst seine | |
Verdienste anzuhören. Gesteigert wurde diese Ungeduld noch durch die an der | |
Universität Halle-Wittenberg lehrende französische Germanistin Elisabeth | |
Decultot. Decultot hatte mit verneinendem Kopfschütteln von Anfang an der | |
Moderatorin klargemacht, dass sie auf das Verlesen der Liste ihrer | |
Publikationen und wissenschaftlichen Auszeichnungen keinen Wert lege. Womit | |
die Körper schon einen Kommentar zum Thema abgegeben hatten, der den Abend | |
gestisch sehr schön untermalte und trug. | |
Thematisch ging es dann genauso weiter. Knobloch, der in einem | |
halbstündigen, frei gesprochenen Vortrag den Fall Leibniz-Newton in sechs | |
Punkten vortrug, hatte mit einem Zitat des französischen Mathematikers | |
Jacques Hadamar begonnen. Nach Hadamar sind die Wissenschaftshistoriker | |
dazu da herauszufinden, dass niemand je etwas entdeckt hatte. Nach Hadamars | |
These kann es schon deshalb keine mit einem Namen verbundene | |
wissenschaftlichen Entdeckungen geben, weil nie irgendjemand der Erste von | |
irgendwas ist. Es gab und gibt für alle Entdeckungen Vorläufer und | |
Parallelentwicklungen, die es unter den Gesichtspunkten von Objektivität | |
und Wahrheit unmöglich machen, auch nur die geringste Entdeckung nur einem | |
Namen zuzuordnen. | |
Knobloch wollte sich zwar Hadamars These nicht vollständig zu eigen machen, | |
lieferte aber mit seinem Material zum Leibniz-Newton-Streit, das er unter | |
den Punkten „persönliche und nationale Eitelkeiten“ zusammenfasste, sehr | |
gute Argumente für Hadamars These. Und als Knobloch dann in der Diskussion | |
nach seiner persönlichen Einschätzung des Leibniz-Newton-Streits befragt | |
wurde, meinte er nur, dass das letztendlich unsympathische kleingeistige | |
Kindereien seien. Beide, Newton wie Leibniz, hätten ihre unbestrittenen | |
Verdienste, und ob einer der beiden vom anderen abgeschrieben habe, sei für | |
die Lösung der mathematischen Probleme völlig gleichgültig. | |
Um einen Bogen ins Heute zu spannen, hatte Knobloch noch angemerkt, dass | |
für ihn der Skandal um das Plagiat des ehemaligen Verteidigungsministers zu | |
Guttenberg nicht darin lag, das Guttenberg plagiiert hatte. Für ihn lag der | |
Skandal in der Note, die die beiden CSU-nahen prüfenden Professoren | |
Guttenberg gegeben hatten. Die Vergabe der Bestnote ließe nämlich nur den | |
Schluss zu, dass die Prüfer die Arbeit nicht gelesen hätten. | |
## Kern des Problems | |
Und mit dem Lesen war man im Kern des Problems des Abends angekommen. Der | |
neben Decultot und Knobloch dritte Diskutant, der Wissenschaftshistoriker | |
Jürgen Renn, sprach von einem Strukturwandel der wissenschaftlichen | |
Publikationsorgane. Dass Professuren und Forschungsstellen nach der Anzahl | |
der Veröffentlichungen in den wichtigsten Zeitschriften vergeben würden, | |
hätte dazu geführt, dass die Publikationen nicht mehr der Kommunikation, | |
sondern nur noch der Reputation dienen würden. Anstatt zu lesen, würde man | |
die Arbeiten nur noch zählen. | |
Daraus sei ein ungeheurer Sog zum wissenschaftlichen Mainstream hin | |
entstanden. Renn vertrat damit die radikalste Position für einen | |
unbedingten und unbeschränkten öffentlichen Zugang auf alle | |
Veröffentlichungen aus staatlich finanzierter Forschung. Denn die | |
Fortschritte der Wissenschaft seien immer eine Folge des Aufspürens der | |
Bruchstellen im Gebäude des Gängigen. Und den Überblick über das Gängige | |
verschafft man sich am besten durch Lesen dessen, was ist. Also durch | |
aufmerksame Teilnahme an dem, was alle anderen tun. | |
8 Jul 2015 | |
## AUTOREN | |
Cord Riechelmann | |
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