# taz.de -- Berliner Szenen: Es sind die Hormone | |
> Downtown Neukölln: Hier lernt man sich kennen. Hier kommt man ins | |
> Gespräch. Bei schönem Wetter auch vor dem Späti. | |
Bild: Das Bild täuscht. So viele Blümchen gab es vor dem Kiosk gar nicht. | |
Schön, wenn man ins Gespräch kommt. Im Sommer existiert ja tatsächlich so | |
eine Kiezkultur, auch Downtown Neukölln, in der Weserstraße. Vor allem, | |
wenn man sich einfach vor den Späti setzt. Das Bier ist günstig, der Abend | |
lauschig, und schon aus Platzmangel lernt man sich rasch kennen. | |
Neben mir sitzt eine Personalerin auf Kurztrip, die aus Frankfurt/Oder | |
stammt und in Frankfurt/Main arbeitet. Wo sie aber nicht wohnen möchte: | |
„Frankfurt gefällt mir nicht“, sagt sie, sie wohnt im Umland. Ihr Freund | |
arbeitet in derselben Firma, wohnt aber wiederum woanders. Ihre Freundin, | |
die uns gegenübersitzt und eifrig Zigaretten dreht, arbeitet als | |
Sozialpädagogin und wurde, kaum in der Stadt, gleich beklaut. 100 Euro sind | |
weg. | |
Eine Nachbarin setzt sich dazu, sie ist 46 und lebt in Trauer um ihre | |
Eltern. Und in Trauer, selbst kinderlos bleiben zu müssen. Sie sagt, | |
solange ihre Eltern noch lebten, habe sie nie Kinder haben wollen. Sie | |
schimpft leise auf die Touristen und die Hipster, auf den Lärm und die | |
Menschen um sie herum (nimmt aber selbst gern an der Gesellschaft teil). | |
Sie mag die normalen Kneipen und verachtet alles, was sich Szene nennt. Sie | |
fürchtet den Tod und mag Elias Canetti, der zeit seines Lebens gegen den | |
Tod angeschrieben habe, letztendlich vergebens. Sie sagt, sie habe viele | |
gehabt, viele Gelegenheiten, Kinder zu bekommen; einmal habe sie sogar eine | |
Abtreibung vorgenommen. Sie habe sich das mit Kindern eben nie vorstellen | |
können. | |
Die Personalerin sagt, es sind die Hormone. Durch die würde besonders in | |
der ersten, der Verliebtheitsphase, schnell ein Kinderwunsch entstehen. | |
Seltsam, sage ich, das ging mir nie so. Jedenfalls nicht seit der Scheidung | |
meiner Eltern. | |
Niemand lacht. Die Nachbarin verabschiedet sich. Sie wohnt zwei Häuser | |
weiter, nach vorne raus. Sie kann einem schon leidtun. | |
26 Jun 2015 | |
## AUTOREN | |
Rene Hamann | |
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