# taz.de -- Flüchtlingsheim in Berlin: Die Grenze der Offenheit | |
> Mitten in einem Berliner Wohngebiet liegt ein neues Flüchtlingsheim. Ein | |
> Nachbar schimpft über die neuen Nachbarn. Eine andere hilft ihnen. | |
Bild: „Geht’s noch?“ Die Bewohner des Flüchtlingsheims fordern Thomas Je… | |
BERLIN taz | Für ein Missverständnis bedarf es nicht viel. Es ist ein | |
sonniger Mittwochnachmittag in der Cité Foch im Norden von Berlin. Thomas | |
Jennich lebt in der ehemaligen französischen Siedlung im Bezirk | |
Reinickendorf. 2011 zog er mit seiner Frau hier her. | |
Nun fährt er mit seinem silbergrauen Kombi vor. Der Berufsschullehrer kommt | |
von der Arbeit. Dabei muss er auch am ehemaligen Collège Voltaire vorbei. | |
Einst eine französische Schule, wurde das Gebäude vor Kurzem vom Berliner | |
Landesamt für Gesundheit und Soziales in eine Erstaufnahmeeinrichtung für | |
Flüchtlinge umgewandelt. Für den 56-Jährigen, der im Wohnblock direkt | |
gegenüber wohnt, ist das ein Ärgernis. Und so deutet er das, was er nun | |
sieht, als Affront. | |
Die Erstaufnahmeeinrichtung hat eine Möbelspende erhalten. Ein junger Mann | |
lädt einen eckigen Badezimmerspiegel aus. Just als Jennich mit seinem Kombi | |
passiert, hält er den Spiegel in die Luft und streicht gespielt kokett | |
seine dunkelbraunen Locken darin glatt. „Geht’s noch?“, schnaubt Jennich. | |
„Die blenden die Autofahrer absichtlich mit dem Spiegel. Und was soll das | |
mit dem Sperrmüll?“, fragt er und zeigt auf abgewetzte Sofateile, eine alte | |
Aluminiumspüle und ein paar zerlegte Schrankwände, die neben dem Eingang | |
zur Flüchtlingsunterkunft an der Mauer lehnen. „Ich geh da jetzt rein und | |
sage, dass das so nicht geht.“ | |
Drinnen auf dem ehemaligen Pausenhof der Schule entpuppt sich der junge | |
Mann mit dem Spiegel als freundlich und äußerst hilfsbereit. Beherzt packt | |
Mohammed aus Syrien beim Abladen der gespendeten Möbelstücke an. Er wohnt | |
seit einiger Zeit nicht mehr in der Unterkunft, kommt aber regelmäßig | |
vorbei, um Bekannte zu besuchen und um mitzuhelfen, wann immer es Arbeit | |
gibt. Die Betreiber der Unterkunft und auch das Wachpersonal haben | |
ausschließlich lobende Worte für ihn. Er selbst muss lachen, als er den | |
Vorwurf hört: „Wenn ich wirklich absichtlich jemanden hätte blenden wollen, | |
dann hätte ich mich dafür im Gebüsch versteckt.“ | |
Davon bekommt Jennich nichts mit. Wütend ist er zum Büro der | |
Unterkunftsleitung marschiert. Den Weg weiß er. „Die kennen mich hier | |
schon“, hatte er im Gehen gesagt. Nun hämmert er mit der Faust an die | |
Glastür. Ist Thomas Jennich ein Fremdenfeind? | |
## Die lärmenden Rollkoffer | |
„Es ist notwendig, dass die Flüchtlingsunterkunft da ist“, sagt Jennich | |
später in seinem Wohnzimmer im vierten Stock des gegenüberliegenden Blocks. | |
Die adrette Dreizimmerwohnung – weißes Mobiliar, ein plüschiges Sofa, | |
Grünpflanzen auf Balkon und Fenstersims – ist über und über mit Teddybären | |
ausstaffiert. „Meine Frau sammelt die“, brummt er. | |
Jennich sagt noch einige Sätze, die ihn klar von einem Fremdenfeind | |
unterscheiden sollen. Dass alle, die kommen, eine Chance verdient haben zum | |
Beispiel. Und: „Ich bin eigentlich ein Mensch, der allem gegenüber offen | |
ist.“ Eigentlich. Im Fall der Flüchtlingsunterkunft vor seiner Haustüre ist | |
die Grenze seiner Offenheit erreicht. Was aber lässt die Stimmung kippen? | |
„Wir sind in diese Wohnung gezogen, weil wir es ruhig haben wollten“, sagt | |
Jennich. Nun spielen gegenüber Kinder bis in die Abendstunden, und die | |
Fußballspiele, die die Männer am Wochenende abhielten, seien auch nicht | |
gerade leise. Dazu der Güllewagen, der täglich die provisorischen | |
errichteten Toilettencontainer leert, die Müllabfuhr, der Ein- und Auszug | |
neuer Flüchtlinge am Wochenende. „Wenn die ihre Rollkoffer über die Straße | |
ziehen, macht das einen Heidenlärm.“ | |
Immer kleinteiliger wird seine Kritik: Flüchtlinge, die auf Weg zum | |
Supermarkt querfeldein laufen, statt die Wege zu benutzen, leere Chipstüten | |
im Gebüsch. Es gibt doch Regeln, Gesetze. Warum halten sich die | |
Neuankömmlinge nicht daran? | |
Was Jennich, der Nörgler, der Pitbull-Nachbar, hier bemüht, ist eine | |
schrecklich deutsche Argumentation: Die Gesetze sind da. Wir, die braven | |
Bürger, halten uns daran. Und wenn andere es nicht tun, sich einfach frech | |
darüber hinwegsetzten, dann sind wir die Dummen. Diese Ungerechtigkeit | |
macht ihn wütend. So wütend, dass er das Leid der anderen nicht sieht. | |
## Ein spezieller Gast | |
Drüben, im provisorisch eingerichteten Büro der Flüchtlingsunterkunft, | |
atmet Armin Wegner einmal tief durch, bevor er spricht. Thomas Jennich sei | |
„ein spezieller Gast“, sagt der schmale, ruhige Mann vorsichtig – und ein | |
Einzelfall. | |
Wegner ist Geschäftsführer der Sozialen Initiative Niederlausitz, die die | |
Unterkunft seit ihrer Einrichtung im Februar betreibt. Dass sie Belastungen | |
für die Anwohner bedeutet, ist ihm bewusst. „Aber was sollen wir machen?“, | |
fragt er. „Die Menschen hier sind keine Gefangenen.“ Natürlich erkläre man | |
die Regeln, weil aber ein ständiges Kommen und Gehen herrsche, fange man | |
damit stets wieder aufs Neue an. Die viel wichtigere Frage sei doch, sagt | |
er: „Was machen wir mit den zehntausenden Flüchtlingen, die jeden Monat in | |
Berlin untergebracht werden müssen?“ Irgendwo müssten die eben hin. | |
Geht es nach Elke Keßler, ließe sich der Groll des Anwohners leicht | |
befrieden. „Der müsste einfach nur mal Kontakt aufnehmen, dann würde er | |
merken, dass das auch Menschen sind“, sagt die Rentnerin mit dem kinnlangen | |
grauen Haar. | |
Wenn Jennich in dieser Geschichte der Böse ist, ist Keßler die Gute. | |
Gemeinsam mit ihrem Mann, einem ehemaligen Diplomaten, engagiert sie sich | |
in der Initiative Cité Foch. Deren Mitglieder machen sich geradezu | |
vorbildlich in der Flüchtlingsunterkunft verdient. Die ehemalige | |
Mathelehrerin gibt jede Woche fünf Stunden Deutschunterricht, bringt | |
jesidischen Frauen das Alphabet bei. Kleiderspenden, Fußballtraining, | |
Kinderbetreuung, ein kleiner Garten, all das wurde organisiert. „Insgesamt | |
sind wir 18 Lehrerinnen, und es gibt noch viele weitere Unterstützer“, sagt | |
Keßler stolz. | |
## „Viele fühlen sich veräppelt“ | |
In einem Punkt jedoch, gibt sie, die Engagierte, dem wütenden Jennich | |
Recht: Die Bewohner der Siedlung wurden zu spät über den Einzug der | |
Flüchtlinge informiert. Erst als die Erstaufnahmeeinrichtung längst | |
beschlossene Sache war. Und das, obwohl längst alle wissen, dass aus einem | |
übergangenen Bürger schnell ein Wutbürger wird. | |
An einem Donnerstag fanden die Anwohner einen Zettel vom Bezirksstadtrat im | |
Briefkasten, der ihnen mitteilte, dass es eine Flüchtlingsunterkunft geben | |
wird. Drei Tage später zogen die ersten fünfzig Asylsuchenden ein. Einen | |
offiziellen Betreiber für das Gelände gab es da noch nicht. Erst in der | |
Woche darauf, war eine Infoveranstaltung für die BürgerInnen geplant. Das | |
Gefühl der Anwohner, mit ihren Fragen und Ängsten ernst genommen und in | |
Entscheidungen einbezogen zu werden: nicht existent. | |
„Uns ärgert diese Eile auch“, sagt der Reinickendorfer Bezirksstadtrat | |
Andreas Höhne (SPD). Auch seine Behörde wurde vom übergeordneten Landesamt | |
für Gesundheit und Soziales kurzfristig informiert. „Menschen halten sich | |
eben nicht an Prognosen“, sagt Höhne. Auf plötzliche Reisewellen müssten | |
die Behörden reagieren. Und dann sagt Höhne noch etwas, was den Kern des | |
Dilemmas in der Cité Foch wohl am besten beschreibt. Selbstverständlich | |
müssten die Bürger informiert werden. Das sei wichtig. Mitentscheiden aber, | |
das dürften sie nicht. Sonst würden sie die dringend benötigte | |
Flüchtlingsunterkunft in der Nachbarschaft vermutlich verhindern. „Hier ist | |
es Aufgabe von Politik und Verwaltung zu entscheiden“, sagt Höhne fest. | |
## Das Gefühl der Ohnmacht | |
Ist der wütende Jennich ein Kollateralschaden, den man in Kauf nehmen muss? | |
„Viele fühlen sich veräppelt“, sagt die engagierte Elke Keßler in der Ci… | |
Foch. Nichts von dem, was bei der Infoveranstaltung des Bezirks gesagt | |
worden sei, sei eingehalten worden. Statt der angekündigten 150 | |
Flüchtlinge, leben nun knapp 250 dort, statt Irakern, Syrern und Afghanen | |
seien es zu Beginn vor allem Menschen aus den Balkanstaaten gewesen, und | |
statt nur drei bis fünf Tagen bleiben die allermeisten Flüchtlinge über | |
Monate. | |
Um den Anwohnern das Gefühl der Ohnmacht zu nehmen, hat Keßlers Initiative | |
erneut eine Infoveranstaltung organisiert. Thomas Jennich ist der Erste, | |
der sich zu Wort meldet. Polternd bringt er seine Beschwerde vor: | |
Unerträglicher Lärm, die Regeln, das geht so nicht. Als der Betreiber der | |
Unterkunft Verständnis für die Situation der Flüchtlinge zu wecken | |
versucht, wird es laut im Saal. „Wir sind 2.000 Mieter“, ruft einer. „Wir | |
haben auch ein Recht auf Ruhe und Erholung“, ein anderer. Thomas Jennich | |
ist offenbar kein Einzelfall. Auflösen lassen wird sich das Dilemma wohl | |
trotzdem nicht. | |
19 Jun 2015 | |
## AUTOREN | |
Marlene Halser | |
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