# taz.de -- Workshop in orgasmischer Meditation: Pussy streicheln | |
> Von der Schwierigkeit, Scham zu überwinden: Unser Autor wurde bei einem | |
> Workshop angeleitet, wie er eine Frau am besten zum Höhepunkt bringt. | |
Bild: Pussy sollen die Teilnehmer sagen – die Vulva sei schließlich wie eine… | |
BERLIN taz | Eine meiner frühsten Erinnerungen ist die an den Penis meines | |
Vaters. Ein kurzer Zylinder, dunkel, sehr viel breiter als lang. Unachtsam | |
war ich in das Badezimmer getapst, während sich mein Vater vom Duschen | |
abtrocknete. Vergilbte Fotos zeigen, wie wir davor häufig miteinander | |
gebadet haben müssen: ihn untersetzt und mit langsam zurückgehendem | |
Haaransatz, mich mit einem Bart aus Schaum und güldenem Pisspott-Schnitt. | |
Erinnern kann ich mich nur noch an den Penis unter der Dusche. Und das | |
schamvolle Erlebnis, zum ersten Mal aktiv in eine Intimsphäre eingedrungen | |
zu sein. | |
Und ich erinnere mich, wie damals die Kriminalpolizei bei uns anrief und | |
mit meinem Bruder sprechen wollte. Sein Lehrer stand unter Verdacht, | |
Mittelstufenschüler sexuell belästigt zu haben, darunter auch meinen | |
Bruder. Bis heute haben wir in der Familie nicht darüber gesprochen. | |
Der Lehrer wurde später verurteilt. Mein Bruder entwickelte aus der | |
Erfahrung heraus einen Hang zum Lautsein, geriet in Schlägereien, klaute | |
Fahrräder. Häufiger wurde er nachts mit einem blauen Auge oder einer | |
gebrochenen Nase aufgegriffen. Ich selbst reagierte mit Akten der | |
Selbstgeißelung. Jedes Mal nach dem Masturbieren schlug ich mich. Mit | |
flacher Hand auf den Bauch. Ein lästiges Ritual, das ich mir erst im | |
Abiturientenalter wieder abgewöhnen konnte. | |
Auch an diesem Nachmittag in München wird diese Geschichte unausgesprochen | |
bleiben, und doch schwebt sie im Hintergrund. Beine schlingen sich | |
verkrampft umeinander. Wangen erröten, als Elisa Klüver fragt: „Was erhofft | |
ihr euch von diesem Seminar?“ Zusammen mit Selina Jung leitet Klüver einen | |
[1][Einführungskurs] in die orgasmische Meditation – OMen. | |
## Kindheitsneurosen überwinden | |
Insgesamt sieben Frauen und Männer zwischen zwanzig und sechzig haben sich | |
in dem kleinen Seminarraum versammelt, sie antworten auf Elisas Frage. | |
Stefan hat zu Hause eine Partnerin und will sein Beziehungsleben | |
intensivieren. „Danke“, haucht Elisa sacht. Ein bärtiger Mittzwanziger | |
namens Flo war bereits auf einigen Treffen, er will seinen Kontakt zur | |
Community stärken. „Danke.“ Markus ist Journalist und sucht nach einem Weg, | |
seine Kindheitsneurosen zu überwinden. „Danke.“ | |
Auf einem Abstelltisch ein halbleeres Gefäß mit Erdbeeren, eine | |
Wasserkaraffe. „Hundert Jahre Einsamkeit“, „Wahrsagen mit Karten“ und �… | |
PI zum Erfolg“ nebeneinander in einem Bücherregal. Die beiden | |
Kursleiterinnen blättern durch ihre Papierstapel. Neben ihnen lehnt ein | |
noch unbeschriftetes Flipchart an der Wand – in diesem Raum finden | |
normalerweise Managertrainings statt. In ihren Sommeroutfits erinnern die | |
zwei tatsächlich eher an BWL-Studentinnen vor einem Referat als an | |
Liebesgurus. „Coach“ lautet die Eigenbezeichnung. | |
Hinter den Seminaren steht die Firma [2][OneTaste] aus San Francisco. Seit | |
2001 bemüht sich diese bei ihren Kunden um ein bewussteres Erleben der | |
eigenen Sexualität. „Den Orgasmus kultivieren“ nennt das Elisa Klüver, �… | |
wollen Frauen, die aktiv werden. Wir wollen Frauen zeigen, dass sie sich | |
nicht zu schämen brauchen. Und wir wollen Männern ermöglichen, sich auf | |
diese Frauen einzulassen.“ Ein bisschen mehr als 100 Euro kostet das pro | |
Kursteilnehmer, im Zentrum stehen Masturbations-Sessions. | |
## Fühlen, nicht gucken | |
Eine Präsentation beginnt. Rock und Slip hat Elisa bereits ausgezogen, als | |
sie sich mit gespreizten Beinen auf die Yogamatte legt. Neben ihr sitzt | |
Assistent Christoph auf einem Kissen. Die Zuschauer haben einen Sitzkreis | |
gebildet. Interessiert lehnen sie sich nach vorne, Arme abgestützt auf den | |
Oberschenkeln. „Es geht ums Fühlen, nicht ums Sehen“, weist Co-Coach Selina | |
die Gruppe zurecht. Manche lassen ihre Blicke schweifen. Flo, der bärtige | |
Mittzwanziger, hat seine Augen geschlossen. Der Mund von Carina, einer der | |
beiden Frauen der Gruppe, ist zu einem anhaltenden Lächeln erstarrt. | |
„Ich berühre jetzt deine Pussy“, kündigt Christoph an – eine feste | |
Formulierung, die am Anfang jeder OM-Session steht. Seine Worte klingen | |
gedämpft wie Elisas „Danke“. Mit fast unsichtbaren Bewegungen seines linken | |
Zeigefingers und der übergebeugten Körperhaltungen eines Zahnarztes beginnt | |
er über die Klitoris von Elisa zu streichen. Nur bestimmte Bewegungen sind | |
zulässig und nur bestimmte Bereiche sollen stimuliert werden. Abgesehen von | |
seinen Schuhen bleibt Christoph angezogen. Außerdem hat er ein Paar | |
medizinischer Einweghandschuhe übergestreift. „Das trennt die Erfahrung | |
zusätzlich vom Sex“, wird vorab erklärt. | |
Es wird warm. Es wird gestöhnt. Fünfzehn Minuten später erklingt ein Gong | |
aus Selinas Smartphone. Mit einer Stoppuhr-App kontrolliert sie die | |
Einhaltung des festgelegten Zeitfensters. Wieder die gleiche Begründung: | |
„Das soll die Erfahrung vom Sex trennen.“ Die Meditation endet. Das Paar | |
erzählt von seinen Eindrücken. Elisa will ein warmes Ziehen in ihren | |
Schultern gespürt haben, Christoph ein elektrisierendes Kribbeln, zuerst in | |
der linken Hand, dann hinauf bis zum Nacken. Jemand öffnet ein Fenster, der | |
Raum ist voller Lustschweiß. | |
## „Powered by Orgasm“ | |
Im begleitenden Vortrag geht es um Streichbewegungen und | |
Klitorisquadranten. Geklärt wird auch, warum man Pussy sagen sollte, wenn | |
man eigentlich Vulva meint. „Am ehesten ist die Erfahrung mit dem | |
Streicheln einer Katze zu vergleichen“, sagt Elisa vor allem an die fünf | |
Männer in der Runde gerichtet. OMen ist auf die Klitoris ausgerichtet. Es | |
gehe nicht um Höhepunkte oder sexuelle Gefallen, sondern um das orgasmische | |
Erlebnis für beide Partner: „Niemand streichelt eine Katze, weil er dafür | |
eine Gegenleistung erwartet.“ | |
Das Internet kennt viele solcher Angebote: Tantrakurse, orgasmisches Yoga. | |
In Berlin gibt es eine ganze [3][Seminarreihe] zum Thema Selbstfindung | |
durch anale Stimulation. „Wir wollen nichts interpretieren“, grenzt Selina | |
Jung das OMen-Programm ab, „es gibt kein Wörterbuch für unsere | |
Wahrnehmungen“, keine spirituellen Konstrukte, keine Lichtbälle weißer | |
Energie. „Reduktion ist ein Grundpfeiler des OMen“, erläutert Elisa das | |
Konzept. In Zentrum stehe der Körper, der Partner und der berauschende | |
Kontrollverlust, während man sich diesem öffnet. | |
Tausende US-Amerikaner sind Teil der Community. Auf der offiziellen Website | |
gibt es OneTaste-Gleitcreme zu kaufen, OneTaste-Kissensets, | |
OneTaste-T-Shirts. Aufschrift: „Powered by Orgasm“. In San Francisco wurde | |
ein eigenes Center eingerichtet. | |
## Auf den Kopf getätschelt | |
„Jetzt kommt der inoffizielle Teil des Kurses“ verkündet Elisa. Die blauen | |
Vorhänge vor dem großen Fenster zur Straße werden zugezogen. Stefan, auf | |
den zu Hause die Freundin wartet, verabschiedet sich. Drei Kissennester | |
werden auf dem Boden eingerichtet. Pärchen werden gebildet: „Möchtest du | |
mit mir OMen?“ Die Formulierung wurde in den letzten Stunden bis zur | |
Emotionslosigkeit wiederholt: „Möchtest du mit mir OMen?“, fragt mich | |
Carina, die Frau mit dem erstarrten Lächeln. | |
Sie zieht ihre Hose aus und spreizt ihre Schenkel. Wir imitieren, was uns | |
vorgemacht wurde: Handschuhe, Körperhaltung, „ich berühre jetzt deine | |
Pussy“, Schweiß, Stöhnen. Elisa rutscht auf ihren Knien heran und überprü… | |
unsere Leistung. „Langsamer, kürzere Bewegungen, winkel den Finger mehr | |
an.“ Ihre Stimme hat keine Lautstärke. Wahrscheinlich flüstert sie. Es | |
fühlt sich an wie geschrien. | |
Die fünfzehn Minuten enden, die Latexhandschuhe werden abgestreift. Andere | |
Paare umarmen sich, rücken Schulter an Schulter, während sie ihre Eindrücke | |
austauschen. Carina wird von mir einmal auf den Kopf getätschelt, | |
unbeholfen, mit flacher Hand. Sie lacht. Ich falle zu einer fötalen Kugel | |
zusammen. Der Nagel meines linken Daumens bohrt sich schmerzhaft tief in | |
den Zeigefinger. | |
## Der Vollständigket halber | |
Da ist es wieder, das alte Ritual aus Jugendzeiten. Zwischen Pussy und | |
sterilisierter Handbekleidung suche ich nach der versprochenen | |
Authentizität. Dann streicht auch Carina mir kurz über das Haar. „Es gab da | |
diesen Moment“, fängt sie an die Erfahrung zu beschreiben. Eine weitere von | |
diesen antrainierten Formulierungen. „Da habe ich gespürt, wie ich im Boden | |
versunken bin. Eine Erdung zwischen meinen Wirbeln und der Yogamatte.“ Mit | |
den Fingern streicht sie um ihre Zehen. | |
Man verabschiedet sich. Draußen auf der Straße starrt ein übergroßer | |
Hasenkopf aus einem Schaukasten. Ein Kostüm – der restliche Körper hängt | |
abgetrennt daneben. In blauen Buchstaben ist darüber das Wort „Brautmoden“ | |
zu lesen. | |
Carina und ich stehen uns gegenüber. In diesem Moment will ich nichts | |
dringender, als mit ihr die Nacht zu verbringen. Vielleicht auch nur der | |
Vollständigkeit halber. Es wird über Münchener Strip-Clubs geredet, über zu | |
kurze Ladenöffnungszeiten. Ich kann ihr fast nicht in die Augen schauen. | |
Dann trennen wir uns und ich vergesse ihr Gesicht. | |
24 May 2015 | |
## LINKS | |
[1] http://www.orgasmic-meditation.de/ | |
[2] http://onetaste.us/ | |
[3] http://enter-space.net/anal-explorations | |
## AUTOREN | |
Markus Lücker | |
## TAGS | |
Orgasmus | |
Meditation | |
Sexualität | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |