# taz.de -- Kurzfilm „Der Tote im Livestream“: "Wir waren so unheimlich kon… | |
> Stefan Wisniewski, wegen der Schleyer-Entführung verurteilt, spricht im | |
> ersten Interview aus dem Gefängnis heraus darüber, weshalb die RAF im | |
> Oktober 1977 keinen Ausweg aus der militärischen Eskalation fand | |
Bild: Gespenstisch: In der Auktion durchbricht das Foto des Aufgebahrten die Ü… | |
1977 hatte die Rote Armee Fraktion ihre Politik längst auf eine | |
Konfrontation mit dem Staatsapparat samt Befreiung ihrer Gefangenen | |
reduziert. Der Weg in die Sackgasse war programmiert. Angefangen vom Mord | |
an Generalbundesanwalt Siegfrid Buback, über die gescheiterte Entführung | |
des Dresdner Bank-Chefs Jürgen Ponto bis zur Entführung Hanns-Martin | |
Schleyers lief alles auf eine tödliche Logik hinaus. Sie außer Kraft zu | |
setzen, waren weder die RAF noch der Bonner Krisenstab bereit. Stefan | |
Wisniewski heute: "Wir haben nichts versucht, um die vermeintliche | |
Zwangsläufigkeit der Ereignisse zu durchbrechen. Aber auch die Linke hat | |
sich nicht zu Wort gemeldet." | |
taz: Das Jahr 1977 war das Jahr der Konfrontation zwischen der RAF und dem | |
Staat. Als ihr euer ganzes Potential auf die Befreiung der Gefangenen | |
konzentriert habt, waren die erst ein paar Jahre im Knast... | |
Stefan Wisniewski: Die erste bewaffnete Aktion der RAF, quasi ihre | |
Geburtsstunde, war im April 1970 die Befreiung Andreas Baaders, der | |
seinerzeit noch weniger Knast hinter beziehungsweise vor sich hatte. Nach | |
den vier, fünf Jahren vor 1977 haben wir gesagt: Das kann kein Jahr mehr so | |
weitergehen. Ulrike Meinhof war tot, Holger Meins war tot, Katharina | |
Hammerschmidt, Siegfried Hausner waren auch tot. | |
Du bist zur hierzulande zulässigen Höchststrafe, zu lebenslänglicher Haft | |
verurteilt worden und hast nun fast 20 Jahre abgesessen. | |
Die Revolution hab' ich trotzdem nicht verpaßt... Und aus heutiger Sicht | |
muß natürlich unsere "Zeit der Ungeduld" hinterfragt werden. | |
Wie ist deine Situation jetzt? | |
Der Knast hat natürlich keine Perspektive, außer daß ich hier Zeit absitze, | |
eher sinnlos. | |
Wie sind denn deine Kontakte nach draußen, abgesehen von der Familie? Wie | |
informierst du dich? | |
Im Lauf der Jahre hat sich einiges an Besuchskontakten entwickelt, über | |
alle politischen Differenzen hinweg. Einige von uns sind ja mittlerweile | |
entlassen, aber es kommen auch andere, ganz verschiedene Leute. Vieles von | |
dem, was die machen, kann ich natürlich sinnlich schlecht nachvollziehen: | |
Kinder kriegen, aufwachsen und spielen sehen, den ewigen Existenzkampf | |
zwischen Leben und Sterben, der sich täglich außerhalb der Mauern | |
abspielt... Ich lese viel, Bücher vor allem. In den ersten zehn Jahren | |
hatte ich TV-Verbot, hab' aber deswegen nicht viel verpaßt. Bis auf einige | |
Besonderheiten, meine Post wird weiterhin für die Bundesanwaltschaft | |
registriert - immer mal wieder gibt es eine Anhalteverfügung -, lebe und | |
verfluche ich den Knast inzwischen wie die anderen Gefangenen, arbeite | |
sogar seit zwei Monaten, nachdem ich fast all die Jahre davor Arbeitsverbot | |
hatte. | |
Du wolltest doch immer in den Normalvollzug? | |
Den Begriff an sich hab' ich schon immer abgelehnt, weil ich diesen Vollzug | |
auch für andere Gefangene nicht normal finde. Aber ich hab' den Knast immer | |
als ein gesellschaftliches Terrain gesehen, von dem ich mich nicht | |
isolieren wollte. | |
Im Gegensatz zu dir hat die RAF immer die Zusammenlegung der politischen | |
Gefangenen und nicht die Integration in den Normalvollzug gefordert. | |
Auch die RAF hat erst mal versucht, mit anderen zusammenzukommen. Da gab es | |
durchaus Vorstellungen für eine revolutionäre Gefangenenbewegung. Die | |
Situation war aber so, daß von vornherein gegen uns diese umfassenden | |
Isolationsmaßnahmen angeordnet wurden. Dann kamen die Prozesse, und von | |
unserer Seite wurde versucht, diese Prozesse gemeinsam und politisch zu | |
führen. Es war und ist legitim, eine Zusammenlegung zu fordern, um | |
gemeinsam zu diskutieren und die Isolationshaft aufzubrechen. | |
Das haben wir in den ersten Hungerstreikerklärungen nachgelesen. Aber die | |
Linie änderte sich schnell: Alles lief auf den Kriegsgefangenenstatus | |
hinaus. | |
Als das zu einer politischen Linie verabsolutiert wurde, hab' ich gesagt, | |
gut, das können wir politisch diskutieren, aber ich kann dann auch eine | |
andere Linie einschlagen. Wenn wir es hier nicht schaffen, mit anderen | |
Gefangenen zusammenzukommen, wie sollen wir es dann draußen schaffen. Hier | |
sind die Leute selber eingesperrt und erfahren, was das System ist. Dafür | |
muß nicht erst eine wissenschaftliche Untersuchung gemacht werden, obwohl | |
eine Analyse über die Neuzusammensetzung der Gefangenen in den neuen | |
Gefängnissen mehr denn je sinnvoll wäre. Mindestens die Hälfte der | |
Gefangenen sind Ausländer, viele von ihnen sind mit Abschiebung in | |
Folterländer bedroht. | |
Ist es an diesem Punkt zum Bruch zwischen dir und den anderen Gefangenen | |
aus der RAF gekommen? | |
Als Bruch war es zumindest von mir nicht inszeniert. Der Stein kam | |
jedenfalls bei meinem Prozeß ins Rollen, es war 1981 der erste Prozeß wegen | |
der Schleyer-Entführung. | |
Moment mal, von deiner Verhaftung 78 bis zum Prozeßbeginn hast du volle | |
drei Jahre in U-Haft verbracht? | |
Bevor dieser Prozeß begann, hatte ich schon zwei andere Verfahren. Nach | |
meiner Verhaftung hatte ich einem Bundesrichter auf die Nase gehauen. Das | |
war gleich nach meiner Auslieferung aus Frankreich, als er mir ein | |
Telefongespräch mit einem Rechtsanwalt provokativ unterbrach, nachdem mir | |
bereits bei meiner Verhaftung in Paris-Orly am Tag davor keine Möglichkeit | |
gegeben wurde, einen französischen Anwalt zu sprechen. | |
Deine Auslieferung verlief blitzartig, möglicherweise, weil man bei der | |
damals ausgesprochen antideutschen Stimmung in der französischen | |
Öffentlichkeit tatsächlich damit rechnen mußte, daß dir Asyl gewährt | |
wird... | |
Ja, alles lief sehr schnell, praktisch nur auf der Polizeischiene. Selbst | |
der Richter mußte später eingestehen, das sei alles nicht rechtmäßig | |
gewesen damals. Aber das war dann nicht mehr wichtig. Wichtig war: Jetzt | |
haben sie mich. Für diesen Schlag auf den BGH- Richter gab es dann sieben | |
Monate, die mir noch zusätzlich zu den 20 Jahren von meinem Lebenslänglich | |
angerechnet werden, während meine Verurteilung zu sechs Jahren wegen eines | |
Fluchtversuchs in die spätere Berechnung der "besonderen Schwere der | |
Schuld" einbezogen wurde. Der politischer Hintergrund war, daß sie damals | |
fast nichts gegen mich in der Hand hatten. Also wurde vor dem Prozeß um | |
Schleyer versucht, meine Gefährlichkeit zu demonstrieren. | |
Jedenfalls war ich drei Jahre fast völlig weggebunkert, als dann der | |
eigentliche Prozeß anfing. Die Gefangenen planten damals einen | |
Hungerstreik. Und weil die Presse natürlich in meinen Prozeß kam, sollte | |
ich dort, quasi zum Auftakt, die Hungerstreikerklärung verlesen. Da hab' | |
ich Stopp gesagt. Wenn wir jetzt im Hungerstreik sind, dann ist der ganze | |
Prozeß, die politische Auseinandersetzung darum auf den Hungerstreik | |
konzentriert. Ich hatte aber das Interesse, den Prozeß politisch offensiv | |
zu führen. Ich wollte die Auseinandersetzung über 1977. | |
Die Gefangenen haben den Hungerstreik trotzdem begonnen. | |
Sie hatten einen anderen Weg gefunden, um den Hungerstreik publik zu | |
machen. Es kam dann, wie es kommen mußte, die politischen Fragen im | |
Gerichtssaal und in der Öffentlichkeit spitzten sich zunehmend darauf zu: | |
Können die Gefangenen das überleben? Wer will mit wem zusammen usw. Zum | |
Glück waren auch noch viele sozialen Gefangenen mit zum Teil eigenen | |
Forderungen in den Hungerstreik gegangen, auf die ich mich beziehen konnte, | |
als ich auch für sechs Wochen in den Streik ging - mit Forderungen, die ich | |
aus meinen konkreten Erfahrungen entwickelt hatte. | |
Sigurd Debus ist in diesem Streik für die Zusammenlegung durch die Tortur | |
der Zwangsernährung gestorben. Im Gerichtssaal bin ich danach auch kaum | |
über die üblichen Rituale der Konfrontation mit dem Staatsschutzsenat | |
hinausgekommen. | |
Es hieß immer, du hast dich 1981 aus der RAF verabschiedet? | |
Abschwören und unterwerfen war nie meine Sache. Ich war auf der Suche nach | |
anderen Möglichkeiten, nachdem wir 77 an der Gefangenenfrage - unserem | |
schwächsten Punkt - die politische Machtfrage stellten. Und diesen | |
tödlichen Fehler wollte ich als Gefangener auf keinen Fall wiederholen. | |
Es ist aber von der RAF aus dann doch mit vielen Toten weitergelaufen. | |
Dazu müßt ihr die Verfasser und Träger des | |
Antiimperialistischen-Front-Konzepts fragen, zu denen ich nicht gehöre. | |
Mein Schritt war ein "Back to the Roots", zurück zu den Wurzeln, zu all den | |
Fragen, die uns überhaupt dazu gebracht haben, zornig und militant zu | |
werden... | |
Wie bist du denn bei der RAF gelandet? | |
Dazu muß ich erst einmal erzählen, wie ich zur antiautoritären Bewegung | |
gekommen bin. Ich bin in den 50er Jahren in einem kleinen idyllischen | |
Schwarzwalddorf geboren und aufgewachsen, als Sohn eines polnischen | |
Zwangsarbeiters. Keine spektakuläre Geschichte, in Polen wäre es nur eine | |
von hunderttausend anderen gewesen, aber in diesem Dorf bläute mir meine | |
Mutter ein: "Erzähl bloß nichts von der Geschichte deines Vaters, sonst | |
kriegst du Ärger." Im Ort gab es etliche frühere SS- und SA-Männer und | |
Mitläufer, die zu den angesehenen Bürgern zählten. Mein Vater hat "die | |
Vernichtung durch Arbeit" in einem KZ-Außenkommando nur acht Jahre nach | |
seiner Befreiung überlebt - ich war damals noch ein Baby und meine | |
Schwester war gerade unterwegs. Meine Mutter wollte mich ohne Haß erziehen. | |
Aber auch in guter Absicht zu "schweigen" war wohl doch nicht der richtige | |
Weg. Ich bin jedenfalls aus verschiedenen Gründen für kürzere Zeit in ein | |
Heim für "schwererziehbare" Jungs gesteckt worden. Die meisten Kinder dort | |
kamen aus den untersten sozialen Schichten, viele Farbige, Kinder | |
ehemaliger GIs, auch Sinti und sogar ein Junge mit polnischer Abstammung. | |
Im Heim sollten wir eine Lehre machen, mit Meistern, die uns mit Sprüchen | |
wie: "Bei Hitler hätten wir mit euch kurzen Prozeß gemacht" traktierten. | |
Ich bin von dort siebenmal in einem Jahr abgehauen und teilweise nach | |
abenteuerlichen Jagden von der Polizei wieder eingefangen worden. Als ich | |
das, auch mit Hilfe meiner Mutter, endlich hinter mir hatte, bin ich nach | |
Hamburg gegangen und von dort zur See gefahren. Das war gar nicht | |
romantisch, ich hab' dabei das Elend in der Dritten Welt kennengelernt, | |
wenn in afrikanischen Häfen ältere Männer an Bord kamen und im Tausch für | |
Essensreste ihre Ehefrauen anboten. Wer sich da nicht schämt, sollte den | |
Haifischen zum Fraß vorgeworfen werden. Ich bin dann in Hamburg geblieben, | |
hab' gejobbt und eine Abendschule besucht. | |
Wie alt warst du damals? | |
Da war ich knapp 20 Jahre. In jeder dieser Phasen hätte ich auch einen ganz | |
anderen Weg gehen können, entscheidend für mich war die antiautoritäre | |
Bewegung: die neuen Lebensformen, Wohngemeinschaften, Stones-Musik, lange | |
Haare, das hatte auf mich eine enorme Anziehung. Dazu kam der Sozialismus | |
und andere revolutionäre Theorien, vor allem der in der Revolte geborene | |
Sinn für Gerechtigkeit. Ich ging zur Roten Hilfe, war bei einer | |
Hausbesetzung dabei, der Eckhoffstraße, einem Haus der Neuen Heimat. Wir | |
waren militant, aber wir haben auch soziale Arbeit mit Obdachlosen oder | |
Fürsorgezöglingen gemacht. Polizei und Springerpresse sind damals gemeinsam | |
auf uns losgegangen - einige mußten für ein Jahr in den Knast, und es war | |
eigentlich nur Zufall, daß ich nicht dazugehörte. Damals hatten wir das | |
Gefühl, noch wirklich etwas verändern zu können, auch wenn sich der Rückzug | |
der 68er längst abzeichnete und der Repressionsapparat immer härter | |
zuschlug. Vor diesem Hintergrund erschien uns die RAF als besonders | |
glaubwürdig, immerhin setzten die GenossInnen ihr Leben für ihre | |
Überzeugung ein. Es herrschte damals, als die ersten RAF-Leute verhaftet | |
wurden, eine ungeheure Hetze. Schon deshalb dachten wir, da muß doch etwas | |
dran sein, wenn gegen die so gehetzt wird. Es waren viele verschiedene | |
Anstöße, die bei mir dazu geführt haben, mich mit der RAF zu beschäftigen. | |
Ich bin dann aber erst noch nach Berlin gegangen. | |
Ich war auch 1974 in Berlin und hab' bei der Demo nach dem Tod von Holger | |
Meins erstmals richtig Prügel gekriegt. Diese Situation haben ganz viele | |
Leute erlebt, aber ganz wenige sind zur RAF gegangen. | |
Dort hätten wir uns eigentlich treffen können. Ich habe nie vergessen, wie | |
ich damals im Jugendzentrum in der Potsdamer Straße gewesen bin. Es ging um | |
den Hungerstreik. Wir hatten von amnesty international bis Pfarrer Albertz | |
alles mobilisiert, was überhaupt möglich schien. Ich stand also da in | |
diesem Jugendzentrum, auf einem Tisch, ein Podium gab es nicht, und hielt | |
gerade eine Rede. In dem Moment kommt jemand rein und sagt: Der Holger ist | |
tot. Mir - und nicht nur mir - sind die Tränen in die Augen geschossen. | |
Einige, die sonst eher zu den Kritikern der RAF zählten, haben sofort | |
angefangen Molotowcocktails zu basteln, sind zum Ku'damm los. Wenn die | |
anfangen, die Gefangenen umzubringen oder verrecken zu lassen, dann muß was | |
anderes geschehen, dachten wir. Alles, was ich bis dahin in bezug auf die | |
Gefangenen politisch gemacht hatte, war schlicht wirkungslos geworden. So | |
konnte es nicht weitergehen. Die Beerdigung von Holger Meins | |
mitzuorganisieren war meine letzte legale politische Tätigkeit. Das war für | |
mich das Überschreiten einer Schwelle. | |
Der Tod von Holger Meins war eine einschneidende Erfahrung | |
Da hast du beschlossen, zur RAF zu gehen? | |
Ich wußte damals auch, wie ich die Leute vom 2. Juni erreichen konnte. Doch | |
jemand hatte einen toten Briefkasten nicht geleert oder mir einen falschen | |
gesagt - der Kontakt kam nicht zustande. | |
Die wären für dich vielleicht viel passender gewesen. | |
Das haben schon manche gesagt, aber die Geschichte ist halt anders | |
gelaufen. | |
War das nicht so wichtig? | |
Beim 2. Juni gab es nicht nur Arbeiter- und in der RAF nicht nur | |
Bürgerkinder, daran würde ich es nicht unbedingt festmachen. Als ich in | |
Berlin und noch in der Legalität lebte, habe ich sowohl Frauen aus dem 2. | |
Juni wie auch aus der RAF im Knast besucht. Die hatten wohl ihre | |
Auseinandersetzungen untereinander, aber mir hat das nicht viel bedeutet. | |
Ob ich damals die Ina Siepmann aus dem 2. Juni besucht hab' oder Ingrid | |
Schubert aus der RAF, entscheidend war, das es jemand aus der Bewegung war, | |
der eingefahren ist. Die konnten oder wollten wir nicht hängenlassen. | |
Aber die unterschiedlichen Konzepte waren dir doch bewußt? | |
Klar, die kannte ich. Aber sie waren zu dem Zeitpunkt - zumindest für mich | |
- noch nicht ausreichend in der Praxis überprüft, die Lorenz-Entführung und | |
die Botschaftsbesetzung in Stockholm waren da noch nicht gelaufen. | |
Es wäre heute sicher interessant, genauer zu untersuchen, wie sich die | |
unterschiedlichen Konzepte von Stadtguerilla ausgewirkt haben. Auf die | |
Abkopplung der RAF von den sozialen Bewegungen und die verheerenden | |
Auswirkungen werden wir bei 77 sicher noch kommen. Die Bewegung 2. Juni, | |
die ihre Stärke und sprachliche Ausdruckskraft aus der Wechselwirkung mit | |
ihrem sozialen Milieu bezog, hatte in der Beziehung sicher die besseren | |
Karten. Als allerdings ihr sozialer Bezugsrahmen und ihre Basis zunehmend | |
verlorenging oder sich neuen Themen zuwandte, blieb ein Teil von ihnen auch | |
nicht von ähnlichen Fehlern verschont wie wir. Ähnliches läßt sich auch von | |
den Revolutionären Zellen und den Roten Zoras sagen, die unsere Schwächen | |
gründlich untersucht haben und mit ihrer illegalen Organisationstruktur "am | |
Puls der Bewegung" blieben. Ihrem internationalen Flügel blieb ein Desaster | |
allerdings auch nicht erspart. | |
Anfang der 70er Jahre haben sich die Aktionen der RAF noch auf den | |
Vietnamkrieg bezogen. | |
Einen Konsens gab es innerhalb der Bewegung, dem, was von 68 übriggeblieben | |
war: daß eine Revolution, soweit sie hier stattfinden kann, einen | |
antiimperialistischen Charakter haben muß. Daß sie auch nur dann hier eine | |
Chance hat zu bestehen, wenn sie die Bewegungen in der Dritten Welt | |
berücksichtigt. Ohne Vietnam, ohne die Entwicklung in der Dritten Welt, | |
wäre die RAF nicht geworden, was sie dann geworden ist. Unsere | |
Hoffnungsträger waren die Tupamaros und die Black Panther. | |
Ihr habt euch dann aber schnell auf die Frage konzentriert: Wie kriegen wir | |
die Leute aus dem Knast? | |
Wir haben auch überlegt, was es an anderen Möglichkeiten, auf anderen | |
Gebieten gibt. Aber wir haben es so gesehen, daß wir, als relativ kleine | |
Gruppe, auf anderen Gebieten nur stärker werden, wenn wir an diesem Punkt | |
etwas erreichen können. Unsere nüchterne Einschätzung war, daß Staat und | |
Kapital die Situation dermaßen dominieren, daß von der Bewegung, die 67/68 | |
aufgebrochen war, nichts mehr übrigbleiben konnte. Über die Gefangenenfrage | |
wollten wir etwas von diesem Staat vermitteln. Seinen Charakter. Seine | |
Geschichte. | |
Wem wolltet ihr das vermitteln? | |
Wir waren nicht, so wie die ML-Gruppen, auf das Industrieproletariat | |
ausgerichtet. Diesen Gedanke haben wir damals schon mit der Analyse über | |
die Arbeiteraristokratie in den Metropolen verworfen. Für uns war das | |
revolutionäre Subjekt nicht ökonomistisch bestimmbar. Wir haben gesagt: | |
Jeder, der kämpft, kann Revolutionär sein. Dadurch, daß wir es diffuser | |
gefaßt haben, hatten wir aber auch nicht das notwendige Korrektiv einer | |
sozialen Basis. Das war damals eher bei den Roten Brigaden in Italien der | |
Fall, die in den Fabriken ganz anders verankert waren. | |
Italien war anders. | |
Ja sicher. Auch Irland war anders. Trotzdem haben wir uns in diesem | |
Zusammenhang gesehen. Hätten wir in Italien gelebt, hätten wir natürlich | |
lieber das Konzept der Brigaden gemacht, das haben wir schon in den frühen | |
Texten gesagt. In Italien hatte es eine starke Resistenza gegeben, mit der | |
hing selbst die Geschichte der italienischen Christdemokraten zusammen. | |
Hier jedoch hatte der Faschismus alles zerstört, was von Arbeiterbewegung | |
übriggeblieben war. Das war eine ganz andere Kontinuität, die erst mal | |
aufgebrochen werden mußte. | |
Unser internationalistischer Ansatz hatte auch darauf gebaut, daß durch die | |
"Einkreisung der Städte durch die Dörfer" das "Modell Deutschland" Risse | |
bekommt, in denen wir uns auf Dauer sozial verankern und festkrallen | |
können. | |
Aber worüber wolltet ihr euch legitimieren, über die Verhältnisse hier oder | |
über die weltweite Bewegung? | |
Im besten Fall über beides, aber die Frage ist bis heute strategisch nicht | |
gelöst: Tatsache ist, daß wir in einer Metropole leben, mit ungeheurem | |
Reichtum und Privilegien, in anderen Ländern dagegen ungeheure Armut | |
herrscht, und die sozialen Bedingungen für einen revolutionären Ansatz ganz | |
andere sind. Heute kommen noch die "Inseln der Dritten Welt" in den | |
Metropolen und die Armutsregionen im Osten dazu. Für beide ist die Lösung | |
der sozialen Frage zu einer Überlebensfrage geworden, die mehr denn je den | |
nationalstaatlichen Rahmen sprengen muß und die zugleich jeden abstrakten | |
Internationalismus verblassen läßt. Wenn man sich in diesen internationalen | |
Zusammenhang stellt, ist jedoch die Gefahr groß, den sozialen Kontakt, die | |
kritische Reibungsfläche zu verlieren, sich mit dem Verweis auf die | |
internationalen Verhältnisse sogar jeder Kritik zu entziehen. | |
So kamen mir die Diskussionen der Roten-Hilfe-Gruppen auch vor, die ich | |
Mitte der 70er Jahre in meinem Kreuzberger Umfeld erlebte. | |
Da müßten wir die Berliner GenossInnen mal fragen. Ich kenn' die Hamburger | |
Rote Hilfe aus dieser Zeit. Da hat es andere Ansätze gegeben. Selbst wenn | |
es alles nicht das gebracht hat, was an sozialen Utopien damit verbunden | |
war, heute erlebe ich, daß oft die einzigen Gruppen, die sich noch um | |
Gefangene kümmern, von rechten Organisationen getragen werden, die hier | |
versuchen, ein rassistisches Potential zu etablieren. Mit denen bin ich | |
mehrfach und in verschiedenen Knästen konfrontiert worden. Da hat die | |
Bewegung damals einfach ein Terrain fallenlassen. Übrigens auch die taz, | |
die ja mal eine Knastseite hatte. | |
Wir bestreiten ja nicht, daß das eine sinnvolle Arbeit war und auch heute | |
wäre. Damals hatten wir aber immer den Eindruck, daß die, die sich da | |
Avantgarde nennen, über die Themen, die uns interessieren, überhaupt nicht | |
sprechen. | |
Geredet wurde schon, soweit ein Austausch darüber mit unseren GenossInnen | |
in der Legalität möglich war, allerdings bekanntlich ohne diese Themen in | |
unsere Praxis aufzunehmen. Ich würde an diesem Punkt in der | |
selbstkritischen Reflexion noch weitergehen: Die Gefangenenfrage wurde von | |
einem Teil der Gefangenen und uns in den Antifolterkomitees furchtbar | |
moralisisert, und damit haben wir sicher viele in der Linken abgeschreckt, | |
die sich kritisch, aber solidarisch mit uns auseinandergesetzt haben. Peter | |
Brückner und andere wurden vor den Kopf gestoßen, da gibt es sicher noch | |
viel Widerwärtiges aufzuarbeiten. Trotzdem seid ihr damit noch lange nicht | |
aus dem Schneider, denn es gab - parallel zum Rückzug der 68er - auch eine | |
massive Entsolidarisierung. Das hat sich dann später gerächt: Wer die | |
Bedingungen der Gefangenen in den Isolationstrakten verdrängte und keine | |
Verantwortung übernahm, zum Beispiel durch eine eigene, unabhängige | |
Position, der sollte sich nachträglich wenigstens nicht wundern, daß ihn | |
die Gefangenenfrage im Herbst 77 in einer militärischen Zuspitzung wieder | |
einholte. | |
Unsere Situation damals war wie gesagt eine andere. Wir waren vom Zerfall | |
der 68er Revolte geprägt, wir wollten ihre sozialrevolutionären und | |
antiimperialistischen Ansätze weitertragen, und der Horizont von neuen | |
sozialen Bewegungen war für uns noch lange nicht greifbar. Die Bedeutung | |
der Anti-AKW-Bewegung haben wir einfach auch lange unterschätzt oder nur | |
unter dem Gesichtspunkt ihrer Militanz gegen den Staat gesehen. Noch | |
schwerwiegender war vielleicht die fehlende Auseinandersetzung mit der | |
Frauenbewegung. Da möchte ich gar nicht drum rum reden. Doch selbst wenn | |
wir uns in dieser Phase direkt in den neuen sozialen Bewegungen aufgelöst | |
hätten, was nicht unbedingt sinnvoll gewesen wäre, die Gefangenenfrage wäre | |
geblieben. Sie saßen auch für die Geschichte einer gemeinsamen Bewegung und | |
wären genauso für unabsehbare Zeit in den Sicherheitstrakten vergraben | |
geblieben. Wir wollten die Gefangenen draußen haben und stellten an diesem | |
Punkt die Machtfrage. | |
War das nicht schon so, als die RAF über die Besetzung der Deutschen | |
Botschaft in Stockholm die Gefangenen befreien wollte? | |
Gerade aus der Niederlage von Stockholm hat sich der Gedanke entwickelt, | |
daß wir eine präzisere Aktion machen müssen. | |
War die Idee der Schleyer-Entführung also ein direktes Resultat aus der | |
Erkenntnis, Stockholm war ein Fehler? | |
Es war der falsche Weg. Das hat das Ergebnis gezeigt: vier Tote, auf beiden | |
Seiten zwei, niemand war rausgekommen, im Gegenteil, die Zuspitzung wurde | |
noch schärfer. | |
Und eure Analyse war, daß eine Botschaftbesetzung nicht ausreicht, um die | |
Freilassung der Gefangenen zu erzwingen? | |
Daß eine Botschaft nicht reicht, und auch, daß wir politisch einen Punkt | |
treffen müssen, an dem es zu ihren Ungunsten ausfällt, wenn sie nicht | |
nachgeben. | |
Gab es in dieser Überlegung schon die konkrete Person Schleyer? | |
Nein, nein, so schnell ging das nicht. Stellt euch das nicht so vor, daß | |
eine Aktion nach der anderen anstand. Bevor ich in den Untergrund ging, | |
hatte ich auch ganz andere Vorstellungen davon, was RAF ist und was möglich | |
ist. Als ich noch legal war, kannte ich viele, die dauernd darüber redeten, | |
wie sie die RAF unterstützen wollten. Als ich dann selber im Untergrund | |
war, mußte ich feststellen, daß das überhaupt nicht so war. Nach Stockholm | |
stand ich plötzlich quasi vor dem Nichts. Es gab noch ein paar Mark und | |
zwei Pistolen, die aber auch nicht richtig funktionierten. | |
Wie seid ihr dann auf Schleyer gekommen? | |
Schleyer, so wie er sich präsentierte in der Öffentlichkeit, in Interviews | |
und all seinen Auftritten, war einfach ein Magnet. Ein naheliegender | |
Gedanke. Es gab aber auch andere Überlegungen, beispielsweise kamen wir auf | |
Filbinger, den baden-württembergische Ministerpräsidenten. Filbingers | |
Vergangenheit als Nazi-Marinerichter war damals noch nicht öffentlich | |
bekannt. Aber bekannt war, daß er nach der NS-Zeit praktisch ungebrochen | |
zum Landesvater geworden war. In seinem Fall sind wir sehr schnell zu dem | |
Ergebnis gekommen, daß wir da den ganzen Landtag stürmen müßten. Das fiel | |
natürlich aus. Schleyer ist dann übriggeblieben. | |
Und da habt ihr angefangen, die Entführung vorzubereiten? | |
Nein, zu dem Zeitpunkt wurde noch keine Aktion festgelegt. Das waren erst | |
mal Überlegungen. | |
Wann war das? | |
Das war direkt nach Stockholm, da hatte sich die Gruppe noch gar nicht | |
konstituiert. Da kamen erst später noch zwei andere Gruppen zusammen, die | |
sich bis dahin nicht als RAF begriffen haben. Da gab es noch keine | |
konkreten Pläne, aber es war eine Richtung, und wir wollten, auch bewußt im | |
Unterschied zu Stockholm, an dieser Person klarmachen, worum es uns ging, | |
wo wir herkommen, wofür wir eigentlich kämpfen. | |
Dachtet ihr, bei Schleyer könnte Schmidt nicht hart bleiben, da müssen sie | |
austauschen? | |
Nein, diese Überlegung war noch nicht so weit. Erst mal haben wir Schleyer | |
gesehen, bei dem sich alles konzentriert hat, wogegen wir, die ganze Linke, | |
rebelliert hatten. Ich erinnere mich noch sehr gut an diese Geschichte über | |
Schleyer im Stern 1974. Da wurde nicht nur seine NS-Geschichte | |
thematisiert, sondern vor allem diese Ungeheuerlichkeit, wie er seine | |
weitere Karriere, seinen Aufstieg zum BDI- und BDA-Mann, zum politischen | |
Chef des Kapitals, als einen vollkommen bruchlosen Übergang verstanden hat. | |
Damit hatte er öffentlich geprahlt, es war also kein Kunststück, auf ihn zu | |
kommen. | |
Aber ihr habt doch damals nicht gesagt, wir entführen Schleyer, um damit | |
die Kontinuität des Faschismus in der Bundesrepublik zu zeigen. In Italien | |
gab es viel klarere Aktionen: Die BR haben versucht, in aktuelle | |
Arbeitskämpfe einzugreifen, haben Manager entführt und mit runtergelassener | |
Hose zum Schichtwechsel vor einem Fabriktor wieder laufenlassen. Das sprach | |
für sich. | |
Wir haben auch immer gesagt, die besten Aktionen sind die, die für sich | |
sprechen. Bei Schleyer mußten jedenfalls nach der Entführung keine | |
langatmigen Erklärungen abgegeben werden, warum es gerade um ihn ging und | |
nicht um einen anderen Vertreter der herrschenden Klasse. Vergleichbares | |
wie in Italien ist aber auch 1975 in Argentinien gelaufen, als die | |
Montoneros einen Vertreter von Daimler- Benz entführten. Sie forderten die | |
Wiedereinstellung von Ausgesperrten und höhere Löhne. Ich glaube, bei den | |
Verhandlungen damals war Schleyer auch dabei. Aber solche Aktionen lassen | |
sich nicht einfach übertragen. Seht euch nur mal das Lohngefälle zwischen | |
einem Arbeiter bei Daimler in Stuttgart und dem in Buenos Aires an. Es war | |
aber zu jenem Zeitpunkt einfach noch nicht festgelegt. Die Einengung auf | |
den Gefangenenaustausch war auch aus der Zuspitzung entstanden, auf die wir | |
uns in der Gefangenenfrage im ganzen Jahr 77 zubewegten. | |
Erklär doch mal eure Dramaturgie für 1977 - vor der Schleyer-Entführung gab | |
es das Attentat auf Buback und den Mord an Ponto. | |
Buback war der oberste "Terroristenjäger" und für die Haltung gegenüber den | |
Gefangenen verantwortlich. Für uns war er auch verantwortlich für den Tod | |
Siegfried Hausners, den er aus Stockholm abtransportieren ließ, obwohl | |
Hausner lebensgefährlich verletzt war. Und wir sahen in ihm den | |
Verantwortlichen für den toten Trakt und die Haftbedingungen von Ulrike | |
Meinhof. Dem wollten wir Grenzen setzen. | |
Kam dazu, daß ihr, so hat es jedenfalls Peter Jürgen Boock erzählt, von den | |
Stammheimern massiv unter Druck gesetzt wurdet? | |
Ich habe keine Lust, die jeweils neueste Variante von Boock zu | |
kommentieren. Auf ihn trifft zu, was Régis Debray in seinem Buch "Kritik | |
der Waffen" über die Guerillabewegung in Lateinamerika sagte: "Die größten | |
Militaristen werden die besten Renegaten." Während Boock wie ein Tanzbär | |
durch die Talkshows tapst, haben andere, wie Brigitte Mohnhaupt, die in | |
einem bayrischen Knast weggebunkert ist, keinerlei Möglichkeit, sich dazu | |
zu äußern. | |
Du hast ja jetzt die Möglichkeit. Seid ihr damals unter Druck gesetzt | |
worden? | |
Das kann tatsächlich erst vollständig aufgearbeitet werden, wenn alle | |
Gefangenen etwas dazu sagen können. Gerade Boock bezieht sich immer auf | |
eine angebliche oder tatsächliche Korrespondenz mit den Stammheimern, die | |
außer ihm nur Brigitte Mohnhaupt kennen soll. Was soll ich also dazu sagen? | |
Sicher, die Gefangenen wollten unbedingt raus, und dieses Gefühl, mit dem | |
Kopf durch die Wand zu wollen, kennt schließlich jeder Gefangene. Die Frage | |
ist nur, welcher Einsatz dafür moralisch und politisch vertretbar ist. | |
Erst einmal haben die Verhältnisse Druck gemacht. Dazu kommt, es gab in der | |
Zeit die Theorie vom neuen Faschismus, der aus den Institutionen kommt und | |
keine Massenbasis braucht. Beides hat so nicht gestimmt. Diese schräge | |
Theorie wurde nicht nur von der RAF vor- und nachgebetet, sie führte auch | |
dazu, daß wir uns auf einen militaristischen Schlagabtausch mit dem Staat | |
beschränkten. Gleichzeitig haben wir beispielsweise die Produktion | |
rassistischer Mentalitäten unterschätzt, die zwischen Oben und Unten | |
funktionieren und so neu nicht sind. 1977 war auch das Jahr, in dem sich | |
viele SS- Traditionsverbände, von einigen Protesten der VVN abgesehen, | |
ungestört treffen konnten. Warum haben wir die nicht attakiert? Statt | |
dessen wurden in einigen Fällen leichtfertige Assoziationen zwischen | |
Isolations- und Vernichtungshaft und Auschwitz hergestellt, die nicht nur | |
zu grotesken Fehleinschätzungen und "Handlungszwängen" führten, sondern die | |
auch gegenüber den Opfern der Vernichtungslager schäbig waren. Dabei waren | |
die Bedingungen in den Isolationstrakten schlimm genug. Um dagegen zu | |
handeln wäre kein zusätzlicher "Druck" notwendig gewesen. Wir waren ja auch | |
keine Gruppe, die nur darauf gewartet hat, was die Stammheimer sagen. Mit | |
solchen Erklärungen versuchen einige, sich aus der Verantwortung zu | |
schleichen. | |
Das heißt nicht, daß nicht auch an den Stammheimern vieles hätte kritisiert | |
werden müssen. Ich hab' mich oft gefragt, was passiert wär', wenn wir sie | |
tatsächlich rausgeholt hätten. Ob ich mich mit ihnen verstanden hätte. | |
Damals ging ich automatisch davon aus. Heute bin ich da eher skeptisch. | |
Aber wenn sie draußen gewesen wären, hätten wir sie wenigstens kritisieren | |
können. Der Schmerz, daß das nicht ging, der bleibt bis heute hängen. | |
Damals dachten wir, wenn wir die Gefangenen befreit haben, dann können wir | |
wieder auf die ursprünglichen Ziele der RAF zurückkommen - die Ziele, die | |
schon während der 68er Revolte entstanden. | |
Du hast vorhin angesetzt, die Dynamik jener Zeit, 76/77, zu beschreiben. Da | |
warst du bei Bundesanwalt Siegfried Buback. Der Anschlag auf ihn sollte die | |
anderen Gefangenen schützen. Habt ihr erreicht, was ihr wolltet? | |
Nein, sonst hätten wir uns die weitere Eskalation ja ersparen können. Nach | |
dem Tod von Holger Meins und dem Anschlag auf den obersten Berliner | |
Richter, Günther Drenckmann, gab es im Spiegel ein Interview mit den | |
Stammheimern, in dem sie deutlich gesagt haben: Wenn es Beerdigungen gibt, | |
wenn Schmerz, Leid und Trauer, dann auf beiden Seiten. | |
Hättet ihr euch dieser Konfrontation nicht entziehen können? | |
Das hätte damals bedeutet, daß wir die Gefangenen aufgeben, daß wir sagen | |
müssen: Eine Befreiungsaktion geht einfach nicht, andere Initiativen sind | |
jetzt dringender. Heute würde ich eher sagen, wir hätten damals mehr Geduld | |
einfordern müssen. Obwohl, es ist ja heute noch schwer, mitansehen zu | |
müssen, wie der Staat auch gegenüber kranken Gefangenen wie Helmut Pohl | |
oder Adelheid Schulz hart bleibt. | |
Ihr habt dann also in relativ kurzer Zeit eine Struktur aufgebaut, um | |
Schleyer entführen zu können. Wie lief das? | |
Es waren wie gesagt zunächst verschiedene Gruppen, die erst mal nicht im | |
RAF- Zusammenhang standen. | |
Dann war das 1977 quasi eine Nachgründung oder Neugründung? | |
Nein, dieser Begriff der zweiten Generation RAF stimmt so nicht. Das waren | |
teilweise Leute, die aus alten Zusammenhängen übriggeblieben waren, teils | |
aber auch neue Leute, die aus ihren Erfahrungen sagten, daß jetzt mit der | |
RAF zusammen eine Chance für die Zukunft offengehalten wird. | |
Haben sich eure Hoffnungen am Erfolg der Lorenz-Entführung 1975 orientiert? | |
Oder habt ihr gedacht, ein so wichtiger Mann wie Hanns Martin Schleyer wird | |
auf jeden Fall ausgetauscht? | |
Am Augenmaß der Bewegung 2. Juni hätten wir uns ruhig ein Beispiel nehmen | |
können. Aber die Lorenz-Entführung hat wohl auch die Kräfteverhältnisse | |
verändert. Wir waren ursprünglich davon ausgegangen, daß Schleyer allein | |
für den Austausch der Gefangenen nicht reicht. Deshalb sollte außer | |
Schleyer noch der Chef der Dresdner Bank, Jürgen Ponto, entführt werden. Da | |
hätten wir das durch seine braune Vergangenheit belastete Finanzkapital, | |
für das die Dresdner Bank stand, und Schleyer mit seiner Rolle in den | |
Kapitalistenverbänden, also den Politiker, zusammengehabt. Ein Gewicht, an | |
dem sie nicht vorbeigekonnt hätten. Durch die Bekanntschaft einer damaligen | |
Genossin mit der Familie Ponto erschien uns die Entführung des Bankiers als | |
die militärisch leichtere Aktion. Das ging bekanntlich schief. Ponto wurde | |
erschossen, weil einer von uns die Situation falsch eingeschätzt hat. Es | |
war auch falsch, die private Bekanntschaft für so etwas auszunutzen. Das | |
hat unsere Erfolgsaussichten schon zu Beginn sehr eingeschränkt. | |
Die zweite Schwierigkeit war, daß Schleyer ursprünglich diese SEK-Bewachung | |
nicht gehabt hat. Die höchste Sicherheitsstufe wurde für ihn erst infolge | |
der Ponto-Aktion angeordnet. Angesichts dieser Schwierigkeiten haben wir | |
selbst schon damals der Aktion skeptisch gegenübergestanden. Zudem gab es | |
gleich vier Tote, den Fahrer und Schleyers Bewacher. Damit wurde die | |
Eskalation verschärft und ein Austausch noch weniger wahrscheinlich. | |
Aber ihr habt Schleyer doch wohl durchgehend observiert und hättet von den | |
Begleitern wissen müssen. | |
Ja sicher, das war uns bekannt. An diesem Tag waren aber drei statt der | |
üblichen zwei SEK-Beamten bei Schleyer. Das war nicht vorhersehbar. | |
Vorhersehbar war, daß man denen nicht sagen konnte, so, jetzt haltet euch | |
mal fein raus, sondern daß es nur geht, wenn die SEK-Beamten erschossen | |
werden. Beim Fahrer hatten wir gesagt, daß es möglichst vermieden werden | |
soll. Es war unsere gemeinsame politische Entscheidung. Aber die | |
Durchführung folgte dann eben der militärischen Logik. Jedes Opfer auf | |
beiden Seiten ist zu bedauern, aber die Polizisten sind in einer | |
Gefechtssituation erschossen worden, in der sie ja auch elf Schüsse aus der | |
Maschinenpistole und drei aus der Pistole abgegeben haben. Der Fahrer hatte | |
zwar eine Werkschutzausbildung für Entführungssituationen, aber er war | |
unbewaffnet. Deshalb finde nicht nur ich seinen Tod um so bedauerlicher. | |
Aber aller Skepsis zum Trotz habt ihr nicht überlegt, den Plan | |
fallenzulassen? | |
Diese Diskussion hat es schon gegeben. Die andere Seite waren aber die | |
Verhältnisse im Knast. Wir hatten Angst, wenn das so weitergeht, dann gibt | |
es unter Umständen erneut Tote, und wir stehen wieder da und können nur | |
trauern. Wir haben dann gedacht, jetzt sollen sie selbst einmal spüren, wie | |
das ist, in eine Situation zu kommen wie unsere Gefangenen. | |
Hat Schleyer das begriffen? | |
Nach seiner Entführung hat er auf den Videos davor gewarnt, das | |
Gefangenenproblem militärisch zu lösen. Da hat er allerdings bereits | |
gespürt, daß er von seinen politischen Freunden fallengelassen wird. | |
Das habt ihr auch gemerkt? | |
Natürlich. | |
Ihr hattet also relativ früh nicht mehr den Eindruck, daß die | |
Bundesregierung auf eure Forderungen eingehen würde? | |
Wir wußten, daß sich innerhalb von wenigen Tagen zeigt, wie der Krisenstab | |
sich entscheiden wird, ob sie z.B. die Kommuniqués veröffentlichen oder die | |
Videos, die gemacht wurden. Wären die im Fernsehen veröffentlicht worden, | |
wäre es für die Regierung sehr schwer geworden, einen Austausch abzulehnen. | |
Es gab also sehr früh Anzeichen, daß es nicht so schnell läuft. Die Aktion | |
war aber nicht auf längere Sicht angelegt. Wir wollten Leben gegen Leben, | |
einen schnellen Austausch von Gefangenen. Wenn das nicht läuft, sollte | |
Schleyer erschossen werden. | |
Habt ihr mit Schleyer so darüber geredet? | |
Ja, das war von vornherein klar. Als sich herausstellte, daß der Krisenstab | |
immer nur neue Möglichkeiten suchte, dieser Entscheidung auszuweichen, | |
wußten wir, daß sie ihn nicht austauschen wollen. Sie hofften, uns zu | |
finden und zu liquidieren. Im Grunde genommen war das schon klar, als sie | |
die erste Wohnung gefunden hatten, die sie dann gestürmt haben, ohne erst | |
mal nachzusehen, ob da überhaupt jemand drin ist. Da zeichnete sich die | |
Haltung schon ab. Und wir mußten überlegen, wie es weitergehen soll. Setzen | |
wir das Ultimatum um oder nicht. Gibt es noch die Möglichkeit, daß der | |
Druck stärker wird, wenn man das Ultimatum verlängert? Wir mußten schauen, | |
welche Möglichkeiten es noch gibt, ein neues Versteck zu finden und so | |
weiter. Das war die nächste wichtige Entscheidung. | |
Ihr hattet noch Hoffnung? | |
Wir sagten, wenn es in dieser Einheitsfront im Krisenstab überhaupt | |
Widersprüche gibt, dann muß man denen Zeit geben zu wirken. Beispielsweise | |
Spielraum für den Einfluß von Kräften aus der Industrie. Von Schleyer | |
selbst sind dann auch Initiativen gestartet worden, er hat seine | |
politischen Freunde angeschrieben. | |
Das waren seine Ideen? | |
Ja sicher, das kann man daran sehen, daß er viele Sachen geschrieben hat, | |
die wir niemals so formuliert hätten - er hat zum Beispiel von Terroristen | |
gesprochen. Er kannte seine Freunde und seine politische Klasse ja besser | |
als wir und wußte, wo er ansetzen mußte. Er selbst hatte nicht die | |
Einschätzung, daß er wirklich alles für einen Austausch mobilisieren | |
konnte, aber er hat darauf gebaut, daß seine Freunde ihn nicht | |
hängenlassen. Das war eine der erschütterndsten Erfahrungen für ihn, zu | |
erleben, daß er mit all der Macht, die er vorher hatte, auf einmal aus | |
seiner politischen Klasse, von seinen politischen Freunden fallengelassen | |
wurde. | |
So habt ihr das empfunden? | |
Nicht von Anfang an, aber diese menschliche Tragödie hat sich abgezeichnet | |
und die hat auch jeder von uns mitgekriegt. | |
Ist in einer solch harten Situation, die ja ganz viel Entschlossenheit und | |
Verhärtung eurerseits bedeutet, so ein Gefühl überhaupt möglich? | |
Eine solche Situation geht an keinem vorbei. Bei aller Anspannung - niemand | |
verhält sich in so einer Situation nur rational, nur entsprechend seiner | |
politischen Auffassung. | |
Haben sich da wirkliche Gesprächssituationen zwischen euch und Schleyer | |
entwickelt? | |
Ich würde sagen, nur Gesprächssituationen. Als Polizeiverhörspezialisten | |
waren wir sicher völlig ungeeignet und als solcher hat sich auch niemand | |
aufgespielt. | |
Aber ihr habt doch gezielt Tonbänder dieser Gespräche aufgenommen. | |
Sicher hatten wir gezielte politische Fragen. Aber diese | |
Auseinandersetzungen, diese Diskussionen waren keine Verhöre. | |
Boock sagt, es habe Kreuzverhöre gegeben und ihr hättet sogar geplant, | |
Schleyer vor ein Volksgericht zu stellen. | |
Beide Begriffe fassen nicht annähernd, was damals tatsächlich gelaufen ist. | |
Warum habt ihr mit Schleyers Vergangenheit damals überhaupt nicht | |
öffentlich gearbeitet? | |
Das war sicher ein politischer Fehler, aber wir wollten ihn in dieser | |
Situation nicht demütigen oder vorführen, weil er wußte, daß die Aktion für | |
ihn tödlich enden kann. Schleyer war ja nicht populär oder beliebt, und wir | |
hatten deshalb auch die Befürchtung, daß er nicht mehr austauschfähig ist, | |
wenn wir ihn weiter runtermachen. Deshalb haben wir auch die Idee, ihn mit | |
seiner SS-Nummer und einem Schild "Gefangener seiner eigenen Geschichte" | |
abzulichten, schnell verworfen. Das hat aber im Nachhinein eine verrückte | |
Umkehrung bedeutet: Schleyer wurde, nach dem was er geschrieben und gesagt | |
hat, nur noch als Familienvater, als Opfer gesehen. | |
Habt ihr damals überlegt, wie ihr dem Argument der Bundesregierung begegnen | |
könnt, ein Austausch würde nur dazu führen, daß die Leute aus dem | |
Untergrund neue Straftaten begehen. Habt ihr jemals daran gedacht, | |
öffentlich zu erklären, den bewaffneten Kampf einzustellen? | |
Andreas Baader hat ja so einen Vorstoß gegenüber einem Vertreter der | |
Bundesregierung gemacht. Ihr wißt, was daraus geworden ist. | |
Ihr habt nie ernsthaft überlegt, euch dem Angebot Baaders anzuschließen? | |
Wir wußten von diesem Angebot nichts. Es war nicht festgelegt, daß wir mit | |
dem bewaffneten Kampf so weiter machen würden, aber das wollten wir so | |
nicht einbringen. | |
Warum nicht? | |
Seht es mal so herum: Wir hatten Schleyer und die Gegenseite macht nicht | |
nur mobil, sondern sie verhängt die Kontaktsperre, sie bricht ihre eigenen | |
Gesetze. Überall setzt sie noch eins drauf. Sie sagt, sie macht keine | |
Fahndung und veranstaltet tatsächlich die größte Fahndung aller Zeiten, sie | |
bläst zur Hatz auf alle, die überhaupt nur irgend etwas Kritisches gegen | |
den Staat gesagt haben, sie verordnet die Nachrichtensperre. In dieser | |
Situation der Zuspitzung zu verlangen, daß wir sagen: Es war eigentlich gar | |
nicht so gemeint, wir wollen nur friedlich in irgendeinem | |
Palästinenserlager den Flüchtlingskindern helfen - das hätte uns doch | |
niemand abgenommen. Die Frage ist, ob es in der Situation Initiativen hätte | |
geben können, die unterhalb der Ebene eines Austauschs einen Ansatzpunkt | |
finden, an dem man hätte sagen können: Schluß jetzt, es hat genug Tote | |
gegeben, jetzt suchen wir was anderes. Ich weiß auch nicht, wie wir | |
reagiert hätten, wenn wir gewußt hätten, was Andreas Baader angeboten hat. | |
Es wäre zumindestens eine Chance gewesen, darauf Bezug zu nehmen. Für uns | |
waren die Gefangenen aber sechs Wochen verschwunden. Wir wußten überhaupt | |
nicht, was mit denen passiert war. Wir konnten uns in unserer Phantasie | |
alles mögliche vorstellen - die Stimmen, die die Wiedereinführung der | |
Todesstrafe forderten, haben ihren Teil dazu beigetragen. | |
Statt dessen habt ihr den Druck erhöht. Erst hat Schleyer an seine | |
politischen Freunde geschrieben und dann kam die Flugzeugentführung. War | |
das ein Angebot der Palästinenser, oder habt ihr euch an die Palästinenser | |
gewandt? | |
Es kam als Angebot. Ich weiß nicht genau wie, weil ich nicht bei der Hälfte | |
der Gruppe war, die in Bagdad war, aber die anderen haben uns natürlich | |
gefragt. Unsere Genossen haben uns, die wir in Westeuropa geblieben sind, | |
gefragt, ob wir damit einverstanden sind. | |
Ihr hattet kein Problem mit der Entführung eines Flugzeugs voller Urlauber? | |
Widersprachen Flugzeugentführungen nicht dem Konzept der RAF? | |
Bis dahin hatten wir uns Flugzeugentführungen auch nur aus der Sicht der | |
Palästinenser vorstellen können, aber nicht zur Durchsetzung unserer | |
Forderungen in Deutschland. Es gab ein Papier der Stammheimer Gefangenen, | |
in dem sie die Flugzeugentführung nach Entebbe 1976 heftig kritisieren. Der | |
Kritikpunkt war die Beteiligung von zwei deutschen RZ- Mitgliedern an einer | |
Aktion gegen Israel, dem Land, das ja auch der Fluchtort für die Opfer des | |
Holocaust war. In diesem Papier wird aber auch angedeutet, daß es anders | |
bewertet werden muß, wenn ein deutsches Flugzeug entführt wird. Nach einer | |
langen Debatte war das ein ausschlaggebender Punkt für unsere Zustimmung, | |
weil die Gefangenen diese Frage offen gelassen haben und wir deshalb das | |
Gefühl hatten, nicht gegen ihre Interessen zu handeln. Wir hätten auf | |
keinen Fall gegen den Willen der Gefangenen gehandelt. | |
War es dann doch eure Initiative? Haben eure Leute, Boock und andere, den | |
Palästinensern gesagt, ihr müßt uns helfen, wir kommen allein nicht mehr | |
weiter? | |
Nein, nein, das war ganz sicher nicht so. Dazu muß ich etwas genauer darauf | |
eingehen, wie unsere Zusammenarbeit mit den Palästinensern eigentlich | |
aussah. Die Palästinenser hatten eigene Interessen bei so einer Aktion. | |
Schon auch, daß die Gefangenen rauskommen, es ging ja auch um zwei | |
palästinensische Gefangene, die in einem türkischen Knast saßen, aber sie | |
haben dabei einen ganz anderen Hintergrund gehabt. Die haben sich gesagt, | |
ein Land wie die Bundesrepublik, das wichtigste Land in der EG, ist in eine | |
Konfrontation verwickelt, auf die die ganze Welt schaut, da können wir | |
unser Anliegen mit einbringen. In dem Flüchtlingslager Tell al-Zatar in | |
Beirut waren damals die Syrer den Falangisten zu Hilfe gekommen, als diese | |
6.000 Palästinenser massakriert haben. Die Fraktion innerhalb des | |
palästinensischen Widerstands, die die Landshut entführt hat, wollte in | |
dieser Situation verhindern, daß die Syrer oder andere arabische | |
Regierungen sich auf Kosten der Palästinenser mit Isreal einigen. Wir | |
wurden in diesem Konflikt auch in bezug auf Israel von der deutschen | |
Geschichte eingeholt. | |
War euch nicht klar, was es bedeutet, wenn bei der Flugzeugentführung 80 | |
unbeteiligte Urlauber umgebracht werden? | |
Es entschuldigt nichts, aber wir haben dabei an die erfolgreichen | |
Flugzeugentführungen von Leila Khaled gedacht, deren Buch lange als | |
Kultbuch in der Linken zirkulierte. Es war für uns ein Problem, die | |
Mallorca-Urlauber und Schleyer auf eine Stufe zu stellen. In dieser | |
speziellen Situation, in der Dynamik, die sich nach der Schleyer-Entführung | |
entwickelt hatte, konnte das Angebot aber die Lösung sein. Wir sind davon | |
ausgegangen, daß die Bundesregierung durch die Flugzeugentführung die | |
Gelegenheit bekam zu sagen: O.K., wir sind hart geblieben bei Schleyer, | |
aber jetzt können wir nicht mehr, jetzt müssen wir austauschen. | |
In dieser Haltung steckte ein grotesker Widerspruch. Wir haben einerseits | |
geglaubt, die Bundesrepublik befinde sich in einer Entwicklung hin zum | |
Faschismus und haben deshalb der politischen Klasse alles mögliche | |
zugetraut. Aber genau an diesem Punkt haben wir unsere eigene Analyse nicht | |
ernst genommen und gesagt: So jetzt müssen sie austauschen, das können sie | |
sich nicht leisten. Warum eigentlich nicht? | |
Wir sind damit nicht aus der Verantwortung entlassen, weil wir einfach | |
darauf vertraut haben. Aber für uns wäre es die Lösung gewesen: Schleyer | |
wird nicht erschossen, die Gefangenen kommen raus. | |
Ihr habt geglaubt, die 80 Leute sind nicht wirklich in Gefahr? | |
Wir haben gedacht, daß sie sehr, sehr wahrscheinlich ausgetauscht werden. | |
Wir sind aber auch dabei von falschen Voraussetzungen ausgegangen. Die | |
Aktion ist anders gelaufen, als sie geplant war. Die Entführung sollte im | |
Südjemen enden. Dort wäre die GSG 9 niemals an die Maschine herangekommen, | |
ohne sich gleich mit dem ganzen Land und dem Ostblock anzulegen. Die | |
Bundesregierung hätte verhandeln müssen. | |
Wieso ist es in Aden schiefgegangen? | |
So wie ich die Verhältnisse in Aden kannte, war für mich klar, daß die DDR | |
oder die Sowjetunion dafür gesorgt haben, daß die Maschine nicht dort | |
bleiben konnte. Diese Entscheidung ist nicht in Aden allein getroffen | |
worden. Die hatten ein ganz anderes Verhältnis zu den Palästinensern, | |
hätten sie niemals nach Somalia geschickt. | |
Hattet ihr von den Palästinensern so sichere Zusagen, daß ihr die | |
Möglichkeit von achtzig toten Urlaubern gar nicht in Betracht gezogen habt? | |
Habt ihr euch nicht gefragt, was machen wir als politische Gruppe, wenn | |
wegen der Aktion achtzig Urlauber umgebracht werden? | |
Wir haben auf die Erfahrung gebaut, daß die Palästinenser bei | |
Flugzeugentführungen immer verantwortungsbewußt gehandelt haben. Hätten wir | |
die Aktion zu Ende gedacht, hätten wir ihr nicht zustimmen können. Aber wir | |
haben tatsächlich nur an den guten Fall, die politische Lösung, gedacht. | |
War das eine einhellige Meinung? | |
Ja, das war unsere gemeinsame Einschätzung. Wir dachten dabei auch an die | |
fast gleichzeitig erfolgreich durchgeführte Entführung eines japanischen | |
Flugzeugs durch die japanische Rote Armee. Und dann hat sich hier ja auch | |
nichts bewegt. Damit meine ich nicht nur den großen Krisenstab, die | |
Bundesregierung, sondern irgendwelche anderen Initiativen, moralischen | |
Instanzen oder sonstige linke Gruppen haben sich ja auch nicht zu Wort | |
gemeldet. Wir haben Deutschland nur noch aus der Sicht der "Verdammten | |
dieser Erde" gesehen. | |
Hättet ihr es an euch herangelassen, wenn eine kritische Öffentlichkeit | |
euch genau zu diesem Zeitpunkt aufgefordert hätte: Laßt jetzt Schleyer | |
laufen, rettet die Landshut-Geiseln? | |
Damals gab es ja vor allem diese zwanghaften Distanzierungen. Wenn es als | |
eine unabhängige linke Position gekommen wäre, schon. Wir wurden aber nicht | |
in die Pflicht genommen. | |
Habt ihr denn damals geglaubt, daß es Unterstützung für die Forderung nach | |
einer Freilassung der Gefangenen geben würde? | |
Eigentlich schon. Wir hatten natürlich nicht mit der Nachrichtensperre | |
gerechnet. Das war eine Situation, in der wir plötzlich eng auf uns | |
begrenzt waren. Wir haben den Bezug nicht mehr gesehen. | |
Habt ihr ihn vermißt? | |
Was heißt vermißt? Wir waren davon ausgegangen, daß sich nach der | |
Entführung auch noch andere bemerkbar machen könnten. Unsere Planung war | |
allerdings nicht darauf angelegt. | |
Mit wieviel Leuten habt ihr eigentlich diskutiert. Wurden die | |
Entscheidungen von zwei, drei Leuten gefällt, oder haben alle diskutiert, | |
die an der Entführung beteiligt waren? | |
Es gab Situationen in denen nicht alle präsent waren. Es kamen Leute mit | |
unterschiedlichen Erfahrungen zusammen, aber alle wurden nach Möglichkeit | |
an den Entscheidungen beteiligt. Ich kenne niemanden, der sich damals | |
beschwert hat, daß er politisch nicht einbezogen war. | |
Hätte euch eine Reaktion aus der Linken denn noch erreicht? | |
Das war nicht der Punkt. Die Aktion sollte in ein paar Tagen entschieden | |
sein. In dieser Situation ist es unmöglich, öffentlich zu diskutieren. | |
Danach war es auch schwierig: Wenn wir ein Papier für die Linke verfaßt | |
hätten, wäre das doch gar nicht angekommen. Hätte jemand so ein Papier | |
gehabt und es nicht gleich zur Polizei getragen, der wäre sofort im Knast | |
gelandet. | |
Es gab doch die Möglichkeit, über die französische Zeitung Libération zu | |
kommunizieren. | |
Vielleicht. Ich bin mir nicht so sicher, ob in dieser Situation eine offene | |
Debatte mit der Linken möglich gewesen wäre. Fakt ist, es gab weder von uns | |
noch von der Linken solche Versuche. Die Geschichte ist wie sie ist, und | |
wir müssen sie erst einmal annehmen und die Verantwortung übernehmen. Ich | |
muß zu meiner Schande sagen, daß ich mir auch erst viel später, während | |
meines Prozesses, als ich anfing, meine eigene Geschichte unter einem | |
anderem Blickwinkel zu begreifen, überlegt habe, daß wir viel stärker | |
hätten deutlich machen müssen, warum wir ausgerechnet Schleyer | |
gefangengenommen haben. Wir hätten Forderungen stellen müssen, die in eine | |
ganz andere Richtung zielten. Es wäre naheliegend gewesen zu fordern, daß | |
Daimler-Benz die Archive über den Einsatz von Zwangsarbeitern öffnet, daß | |
der Konzern Entschädigungen für Zwangsarbeiter zahlt. Wir hätten sagen | |
können, bei der Frage der Gefangenen gibt es nur noch tödliche | |
Konfrontation, aber auf einem anderen Terrain kommen wir jetzt auf das | |
zurück, worum es uns eigentlich inhaltlich geht. Aus einer solchen Position | |
wäre es dann vielleicht auch möglich gewesen, ein anderes Ende, für | |
Schleyer eine menschlichere Lösung zu finden. | |
Habt ihr in der Gruppe darüber geredet? | |
Wir haben, wenn überhaupt, dann nur innerhalb der Konsequenz dieser Aktion | |
darüber geredet. Im Nachhinein muß ich sagen, wir haben nichts versucht, um | |
die vermeintliche Zwangsläufigkeit zu durchbrechen. Aber damals war niemand | |
bereit, ein Eingeständnis zu machen. Das hätte bedeutet, daß wir vieles, | |
was wir später wohl gesehen haben, vorweggenommen hätten. Wir hätten sagen | |
müssen, der bewaffnete Kampf, so wie er gelaufen ist, geht nicht. | |
Für euch war schon vor Beginn der Geschichte klar, wenn die Gefangenen | |
nicht rauskommen, wird Schleyer erschossen? | |
Ja, das ist auch das, was in den Kommuniqués drinsteht... | |
Es ist aber doch eine Sache, was man in Kommuniqués ankündigt, und eine | |
andere, was dann wirklich passiert. | |
Wir haben uns ja auch anders verhalten. Wir sind sogar während der Aktion | |
von einer anderen Gruppe kritisiert worden, daß wir nicht die Aktion | |
beendet haben, indem wir Schleyer erschießen. Sie haben gesagt, dadurch, | |
daß wir das hinauszögern und auf die Verschleppungstaktik des Krisenstabes | |
eingehen, machen wir es anderen unmöglich, bei späteren | |
Gefangenenbefreiungen noch ernstgenommen zu werden. | |
Es gab aber doch eine Zäsur, einen Punkt, an dem die Spirale der | |
wechselseitigen Drohungen beendet war. Das war nach dem 18. Oktober. Die | |
Maschine in Mogadischu war gestürmt, die Geiseln befreit, drei | |
Palästinenser erschossen, und die Gefangenen in Stammheim waren tot. Warum | |
konntet ihr da nicht aussteigen, warum habt ihr Schleyer nicht nach Hause | |
geschickt? | |
Das hätte aus unserer damaligen Sicht bedeutet, daß wir die Politik des | |
Krisenstabes bestätigen und legitimieren. Eine Freilassung ohne politische | |
Gegenleistung wäre nicht als eine menschliche Geste verstanden worden, | |
sondern als Eingeständnis der Niederlage, als voller Erfolg für den | |
Krisenstab, nach dem Motto: Härte zahlt sich aus. Aus heutiger Sicht sehe | |
ich auch unsere verpaßten Chancen, die politischen | |
Interventionsmöglichkeiten, die auch Schleyer den Weg nach Hause hätten | |
ebnen können. | |
Hattet ihr euch dazu etwas überlegt, gab es Kompromißlinien, z.B. weniger | |
Gefangene werden freigelassen, Hafterleichterungen, die Anerkennung, daß es | |
sich um politische Gefangene handelt? | |
Wenn in der damaligen Situation das Angebot von Andreas zum Rückzug der | |
Gefangenen zu einer Reaktion der Bundesregierung geführt hätte, wenn es | |
irgendeine Form der politischen Akzeptanz gegeben hätte, wenn | |
beispielsweise eine internationale Kommission zur Überprüfung der | |
Haftbedingungen angeboten worden wäre, dann hätten wir natürlich reagiert, | |
dann wäre es für uns undenkbar gewesen, strikt auf der ursprünglichen | |
Forderung zu beharren und Schleyer zu erschießen. Man kann uns vieles | |
vorwerfen, aber nicht, daß wir die Interessen der Gefangenen ignoriert | |
hätten. | |
Welche Rolle hat es gespielt, daß ihr nach den sechs Wochen Schleyer als | |
Person kanntet? | |
Das hat natürlich eine Rolle gespielt, es war bewegend und banal zugleich, | |
wie bei jedem, der um sein Leben bangt. Aber Schleyer war auch zuletzt für | |
uns nicht nur jemand, der eine Familie hat. Hat Schleyer jemals Rücksicht | |
auf die ausgesperrten Arbeiter genommen? Schleyer hat nie ernsthaft seine | |
Rolle im Protektorat Böhmen und Mähren bedauert - er war als SS- Mann für | |
die Integration der tschechischen Industrie in die deutsche | |
Kriegswirtschaft zuständig, sein Büro war damals nur 60 Kilometer vom KZ | |
Theresienstadt entfernt, von wo die Transporte nach Auschwitz gingen. | |
Außerdem hat die Bundesregierung ja die Ausstrahlung der Videobänder, in | |
denen Schleyer selbst an den menschlichen Aspekt appelliert hat, | |
verhindert. Sie hat auch die Gefangenen nicht reden lassen, dann wäre | |
vielleicht das Rückzugsangebot Baaders bekanntgeworden und die Gefangenen | |
hätten in der Öffentlichkeit ein anderes Gesicht bekommen. Sie hatten auch | |
Freunde und Familie, die sie gerne wiedergesehen hätten. Aber die | |
menschlichen Gesichtspunkte wurden vom Krisenstab bewußt ausgeschaltet. In | |
der Logik der Aktion war dann auch das bittere Ende konsequent. Aber für | |
unsere menschlichen und politischen Ziele war es ein Desaster. | |
Wir waren so unheimlich konsequent, als es darauf angekommen wäre, | |
menschliche Stärke und Großzügigkeit zu zeigen, und waren politisch so | |
wenig radikal, sogar harmlos, als es darum ging, die gesellschaftlich | |
Verhältnisse umzuwälzen und zum tanzen zu bringen. | |
Interview: P. Groll / J. Gottschlich | |
11 Oct 1997 | |
## TAGS | |
Rote Armee Fraktion / RAF | |
Rote Armee Fraktion / RAF | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Kurzfilm „Der Tote im Livestream“: Holger Meins’ Spukbild | |
Das Foto des toten Holger Meins hat die Kunstwelt inspiriert. Christian Bau | |
nimmt das zum Anlass für einen diskussionswürdigen Film. |