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# taz.de -- Kurzfilm „Der Tote im Livestream“: "Wir waren so unheimlich kon…
> Stefan Wisniewski, wegen der Schleyer-Entführung verurteilt, spricht im
> ersten Interview aus dem Gefängnis heraus darüber, weshalb die RAF im
> Oktober 1977 keinen Ausweg aus der militärischen Eskalation fand
Bild: Gespenstisch: In der Auktion durchbricht das Foto des Aufgebahrten die Ü…
1977 hatte die Rote Armee Fraktion ihre Politik längst auf eine
Konfrontation mit dem Staatsapparat samt Befreiung ihrer Gefangenen
reduziert. Der Weg in die Sackgasse war programmiert. Angefangen vom Mord
an Generalbundesanwalt Siegfrid Buback, über die gescheiterte Entführung
des Dresdner Bank-Chefs Jürgen Ponto bis zur Entführung Hanns-Martin
Schleyers lief alles auf eine tödliche Logik hinaus. Sie außer Kraft zu
setzen, waren weder die RAF noch der Bonner Krisenstab bereit. Stefan
Wisniewski heute: "Wir haben nichts versucht, um die vermeintliche
Zwangsläufigkeit der Ereignisse zu durchbrechen. Aber auch die Linke hat
sich nicht zu Wort gemeldet."
taz: Das Jahr 1977 war das Jahr der Konfrontation zwischen der RAF und dem
Staat. Als ihr euer ganzes Potential auf die Befreiung der Gefangenen
konzentriert habt, waren die erst ein paar Jahre im Knast...
Stefan Wisniewski: Die erste bewaffnete Aktion der RAF, quasi ihre
Geburtsstunde, war im April 1970 die Befreiung Andreas Baaders, der
seinerzeit noch weniger Knast hinter beziehungsweise vor sich hatte. Nach
den vier, fünf Jahren vor 1977 haben wir gesagt: Das kann kein Jahr mehr so
weitergehen. Ulrike Meinhof war tot, Holger Meins war tot, Katharina
Hammerschmidt, Siegfried Hausner waren auch tot.
Du bist zur hierzulande zulässigen Höchststrafe, zu lebenslänglicher Haft
verurteilt worden und hast nun fast 20 Jahre abgesessen.
Die Revolution hab' ich trotzdem nicht verpaßt... Und aus heutiger Sicht
muß natürlich unsere "Zeit der Ungeduld" hinterfragt werden.
Wie ist deine Situation jetzt?
Der Knast hat natürlich keine Perspektive, außer daß ich hier Zeit absitze,
eher sinnlos.
Wie sind denn deine Kontakte nach draußen, abgesehen von der Familie? Wie
informierst du dich?
Im Lauf der Jahre hat sich einiges an Besuchskontakten entwickelt, über
alle politischen Differenzen hinweg. Einige von uns sind ja mittlerweile
entlassen, aber es kommen auch andere, ganz verschiedene Leute. Vieles von
dem, was die machen, kann ich natürlich sinnlich schlecht nachvollziehen:
Kinder kriegen, aufwachsen und spielen sehen, den ewigen Existenzkampf
zwischen Leben und Sterben, der sich täglich außerhalb der Mauern
abspielt... Ich lese viel, Bücher vor allem. In den ersten zehn Jahren
hatte ich TV-Verbot, hab' aber deswegen nicht viel verpaßt. Bis auf einige
Besonderheiten, meine Post wird weiterhin für die Bundesanwaltschaft
registriert - immer mal wieder gibt es eine Anhalteverfügung -, lebe und
verfluche ich den Knast inzwischen wie die anderen Gefangenen, arbeite
sogar seit zwei Monaten, nachdem ich fast all die Jahre davor Arbeitsverbot
hatte.
Du wolltest doch immer in den Normalvollzug?
Den Begriff an sich hab' ich schon immer abgelehnt, weil ich diesen Vollzug
auch für andere Gefangene nicht normal finde. Aber ich hab' den Knast immer
als ein gesellschaftliches Terrain gesehen, von dem ich mich nicht
isolieren wollte.
Im Gegensatz zu dir hat die RAF immer die Zusammenlegung der politischen
Gefangenen und nicht die Integration in den Normalvollzug gefordert.
Auch die RAF hat erst mal versucht, mit anderen zusammenzukommen. Da gab es
durchaus Vorstellungen für eine revolutionäre Gefangenenbewegung. Die
Situation war aber so, daß von vornherein gegen uns diese umfassenden
Isolationsmaßnahmen angeordnet wurden. Dann kamen die Prozesse, und von
unserer Seite wurde versucht, diese Prozesse gemeinsam und politisch zu
führen. Es war und ist legitim, eine Zusammenlegung zu fordern, um
gemeinsam zu diskutieren und die Isolationshaft aufzubrechen.
Das haben wir in den ersten Hungerstreikerklärungen nachgelesen. Aber die
Linie änderte sich schnell: Alles lief auf den Kriegsgefangenenstatus
hinaus.
Als das zu einer politischen Linie verabsolutiert wurde, hab' ich gesagt,
gut, das können wir politisch diskutieren, aber ich kann dann auch eine
andere Linie einschlagen. Wenn wir es hier nicht schaffen, mit anderen
Gefangenen zusammenzukommen, wie sollen wir es dann draußen schaffen. Hier
sind die Leute selber eingesperrt und erfahren, was das System ist. Dafür
muß nicht erst eine wissenschaftliche Untersuchung gemacht werden, obwohl
eine Analyse über die Neuzusammensetzung der Gefangenen in den neuen
Gefängnissen mehr denn je sinnvoll wäre. Mindestens die Hälfte der
Gefangenen sind Ausländer, viele von ihnen sind mit Abschiebung in
Folterländer bedroht.
Ist es an diesem Punkt zum Bruch zwischen dir und den anderen Gefangenen
aus der RAF gekommen?
Als Bruch war es zumindest von mir nicht inszeniert. Der Stein kam
jedenfalls bei meinem Prozeß ins Rollen, es war 1981 der erste Prozeß wegen
der Schleyer-Entführung.
Moment mal, von deiner Verhaftung 78 bis zum Prozeßbeginn hast du volle
drei Jahre in U-Haft verbracht?
Bevor dieser Prozeß begann, hatte ich schon zwei andere Verfahren. Nach
meiner Verhaftung hatte ich einem Bundesrichter auf die Nase gehauen. Das
war gleich nach meiner Auslieferung aus Frankreich, als er mir ein
Telefongespräch mit einem Rechtsanwalt provokativ unterbrach, nachdem mir
bereits bei meiner Verhaftung in Paris-Orly am Tag davor keine Möglichkeit
gegeben wurde, einen französischen Anwalt zu sprechen.
Deine Auslieferung verlief blitzartig, möglicherweise, weil man bei der
damals ausgesprochen antideutschen Stimmung in der französischen
Öffentlichkeit tatsächlich damit rechnen mußte, daß dir Asyl gewährt
wird...
Ja, alles lief sehr schnell, praktisch nur auf der Polizeischiene. Selbst
der Richter mußte später eingestehen, das sei alles nicht rechtmäßig
gewesen damals. Aber das war dann nicht mehr wichtig. Wichtig war: Jetzt
haben sie mich. Für diesen Schlag auf den BGH- Richter gab es dann sieben
Monate, die mir noch zusätzlich zu den 20 Jahren von meinem Lebenslänglich
angerechnet werden, während meine Verurteilung zu sechs Jahren wegen eines
Fluchtversuchs in die spätere Berechnung der "besonderen Schwere der
Schuld" einbezogen wurde. Der politischer Hintergrund war, daß sie damals
fast nichts gegen mich in der Hand hatten. Also wurde vor dem Prozeß um
Schleyer versucht, meine Gefährlichkeit zu demonstrieren.
Jedenfalls war ich drei Jahre fast völlig weggebunkert, als dann der
eigentliche Prozeß anfing. Die Gefangenen planten damals einen
Hungerstreik. Und weil die Presse natürlich in meinen Prozeß kam, sollte
ich dort, quasi zum Auftakt, die Hungerstreikerklärung verlesen. Da hab'
ich Stopp gesagt. Wenn wir jetzt im Hungerstreik sind, dann ist der ganze
Prozeß, die politische Auseinandersetzung darum auf den Hungerstreik
konzentriert. Ich hatte aber das Interesse, den Prozeß politisch offensiv
zu führen. Ich wollte die Auseinandersetzung über 1977.
Die Gefangenen haben den Hungerstreik trotzdem begonnen.
Sie hatten einen anderen Weg gefunden, um den Hungerstreik publik zu
machen. Es kam dann, wie es kommen mußte, die politischen Fragen im
Gerichtssaal und in der Öffentlichkeit spitzten sich zunehmend darauf zu:
Können die Gefangenen das überleben? Wer will mit wem zusammen usw. Zum
Glück waren auch noch viele sozialen Gefangenen mit zum Teil eigenen
Forderungen in den Hungerstreik gegangen, auf die ich mich beziehen konnte,
als ich auch für sechs Wochen in den Streik ging - mit Forderungen, die ich
aus meinen konkreten Erfahrungen entwickelt hatte.
Sigurd Debus ist in diesem Streik für die Zusammenlegung durch die Tortur
der Zwangsernährung gestorben. Im Gerichtssaal bin ich danach auch kaum
über die üblichen Rituale der Konfrontation mit dem Staatsschutzsenat
hinausgekommen.
Es hieß immer, du hast dich 1981 aus der RAF verabschiedet?
Abschwören und unterwerfen war nie meine Sache. Ich war auf der Suche nach
anderen Möglichkeiten, nachdem wir 77 an der Gefangenenfrage - unserem
schwächsten Punkt - die politische Machtfrage stellten. Und diesen
tödlichen Fehler wollte ich als Gefangener auf keinen Fall wiederholen.
Es ist aber von der RAF aus dann doch mit vielen Toten weitergelaufen.
Dazu müßt ihr die Verfasser und Träger des
Antiimperialistischen-Front-Konzepts fragen, zu denen ich nicht gehöre.
Mein Schritt war ein "Back to the Roots", zurück zu den Wurzeln, zu all den
Fragen, die uns überhaupt dazu gebracht haben, zornig und militant zu
werden...
Wie bist du denn bei der RAF gelandet?
Dazu muß ich erst einmal erzählen, wie ich zur antiautoritären Bewegung
gekommen bin. Ich bin in den 50er Jahren in einem kleinen idyllischen
Schwarzwalddorf geboren und aufgewachsen, als Sohn eines polnischen
Zwangsarbeiters. Keine spektakuläre Geschichte, in Polen wäre es nur eine
von hunderttausend anderen gewesen, aber in diesem Dorf bläute mir meine
Mutter ein: "Erzähl bloß nichts von der Geschichte deines Vaters, sonst
kriegst du Ärger." Im Ort gab es etliche frühere SS- und SA-Männer und
Mitläufer, die zu den angesehenen Bürgern zählten. Mein Vater hat "die
Vernichtung durch Arbeit" in einem KZ-Außenkommando nur acht Jahre nach
seiner Befreiung überlebt - ich war damals noch ein Baby und meine
Schwester war gerade unterwegs. Meine Mutter wollte mich ohne Haß erziehen.
Aber auch in guter Absicht zu "schweigen" war wohl doch nicht der richtige
Weg. Ich bin jedenfalls aus verschiedenen Gründen für kürzere Zeit in ein
Heim für "schwererziehbare" Jungs gesteckt worden. Die meisten Kinder dort
kamen aus den untersten sozialen Schichten, viele Farbige, Kinder
ehemaliger GIs, auch Sinti und sogar ein Junge mit polnischer Abstammung.
Im Heim sollten wir eine Lehre machen, mit Meistern, die uns mit Sprüchen
wie: "Bei Hitler hätten wir mit euch kurzen Prozeß gemacht" traktierten.
Ich bin von dort siebenmal in einem Jahr abgehauen und teilweise nach
abenteuerlichen Jagden von der Polizei wieder eingefangen worden. Als ich
das, auch mit Hilfe meiner Mutter, endlich hinter mir hatte, bin ich nach
Hamburg gegangen und von dort zur See gefahren. Das war gar nicht
romantisch, ich hab' dabei das Elend in der Dritten Welt kennengelernt,
wenn in afrikanischen Häfen ältere Männer an Bord kamen und im Tausch für
Essensreste ihre Ehefrauen anboten. Wer sich da nicht schämt, sollte den
Haifischen zum Fraß vorgeworfen werden. Ich bin dann in Hamburg geblieben,
hab' gejobbt und eine Abendschule besucht.
Wie alt warst du damals?
Da war ich knapp 20 Jahre. In jeder dieser Phasen hätte ich auch einen ganz
anderen Weg gehen können, entscheidend für mich war die antiautoritäre
Bewegung: die neuen Lebensformen, Wohngemeinschaften, Stones-Musik, lange
Haare, das hatte auf mich eine enorme Anziehung. Dazu kam der Sozialismus
und andere revolutionäre Theorien, vor allem der in der Revolte geborene
Sinn für Gerechtigkeit. Ich ging zur Roten Hilfe, war bei einer
Hausbesetzung dabei, der Eckhoffstraße, einem Haus der Neuen Heimat. Wir
waren militant, aber wir haben auch soziale Arbeit mit Obdachlosen oder
Fürsorgezöglingen gemacht. Polizei und Springerpresse sind damals gemeinsam
auf uns losgegangen - einige mußten für ein Jahr in den Knast, und es war
eigentlich nur Zufall, daß ich nicht dazugehörte. Damals hatten wir das
Gefühl, noch wirklich etwas verändern zu können, auch wenn sich der Rückzug
der 68er längst abzeichnete und der Repressionsapparat immer härter
zuschlug. Vor diesem Hintergrund erschien uns die RAF als besonders
glaubwürdig, immerhin setzten die GenossInnen ihr Leben für ihre
Überzeugung ein. Es herrschte damals, als die ersten RAF-Leute verhaftet
wurden, eine ungeheure Hetze. Schon deshalb dachten wir, da muß doch etwas
dran sein, wenn gegen die so gehetzt wird. Es waren viele verschiedene
Anstöße, die bei mir dazu geführt haben, mich mit der RAF zu beschäftigen.
Ich bin dann aber erst noch nach Berlin gegangen.
Ich war auch 1974 in Berlin und hab' bei der Demo nach dem Tod von Holger
Meins erstmals richtig Prügel gekriegt. Diese Situation haben ganz viele
Leute erlebt, aber ganz wenige sind zur RAF gegangen.
Dort hätten wir uns eigentlich treffen können. Ich habe nie vergessen, wie
ich damals im Jugendzentrum in der Potsdamer Straße gewesen bin. Es ging um
den Hungerstreik. Wir hatten von amnesty international bis Pfarrer Albertz
alles mobilisiert, was überhaupt möglich schien. Ich stand also da in
diesem Jugendzentrum, auf einem Tisch, ein Podium gab es nicht, und hielt
gerade eine Rede. In dem Moment kommt jemand rein und sagt: Der Holger ist
tot. Mir - und nicht nur mir - sind die Tränen in die Augen geschossen.
Einige, die sonst eher zu den Kritikern der RAF zählten, haben sofort
angefangen Molotowcocktails zu basteln, sind zum Ku'damm los. Wenn die
anfangen, die Gefangenen umzubringen oder verrecken zu lassen, dann muß was
anderes geschehen, dachten wir. Alles, was ich bis dahin in bezug auf die
Gefangenen politisch gemacht hatte, war schlicht wirkungslos geworden. So
konnte es nicht weitergehen. Die Beerdigung von Holger Meins
mitzuorganisieren war meine letzte legale politische Tätigkeit. Das war für
mich das Überschreiten einer Schwelle.
Der Tod von Holger Meins war eine einschneidende Erfahrung
Da hast du beschlossen, zur RAF zu gehen?
Ich wußte damals auch, wie ich die Leute vom 2. Juni erreichen konnte. Doch
jemand hatte einen toten Briefkasten nicht geleert oder mir einen falschen
gesagt - der Kontakt kam nicht zustande.
Die wären für dich vielleicht viel passender gewesen.
Das haben schon manche gesagt, aber die Geschichte ist halt anders
gelaufen.
War das nicht so wichtig?
Beim 2. Juni gab es nicht nur Arbeiter- und in der RAF nicht nur
Bürgerkinder, daran würde ich es nicht unbedingt festmachen. Als ich in
Berlin und noch in der Legalität lebte, habe ich sowohl Frauen aus dem 2.
Juni wie auch aus der RAF im Knast besucht. Die hatten wohl ihre
Auseinandersetzungen untereinander, aber mir hat das nicht viel bedeutet.
Ob ich damals die Ina Siepmann aus dem 2. Juni besucht hab' oder Ingrid
Schubert aus der RAF, entscheidend war, das es jemand aus der Bewegung war,
der eingefahren ist. Die konnten oder wollten wir nicht hängenlassen.
Aber die unterschiedlichen Konzepte waren dir doch bewußt?
Klar, die kannte ich. Aber sie waren zu dem Zeitpunkt - zumindest für mich
- noch nicht ausreichend in der Praxis überprüft, die Lorenz-Entführung und
die Botschaftsbesetzung in Stockholm waren da noch nicht gelaufen.
Es wäre heute sicher interessant, genauer zu untersuchen, wie sich die
unterschiedlichen Konzepte von Stadtguerilla ausgewirkt haben. Auf die
Abkopplung der RAF von den sozialen Bewegungen und die verheerenden
Auswirkungen werden wir bei 77 sicher noch kommen. Die Bewegung 2. Juni,
die ihre Stärke und sprachliche Ausdruckskraft aus der Wechselwirkung mit
ihrem sozialen Milieu bezog, hatte in der Beziehung sicher die besseren
Karten. Als allerdings ihr sozialer Bezugsrahmen und ihre Basis zunehmend
verlorenging oder sich neuen Themen zuwandte, blieb ein Teil von ihnen auch
nicht von ähnlichen Fehlern verschont wie wir. Ähnliches läßt sich auch von
den Revolutionären Zellen und den Roten Zoras sagen, die unsere Schwächen
gründlich untersucht haben und mit ihrer illegalen Organisationstruktur "am
Puls der Bewegung" blieben. Ihrem internationalen Flügel blieb ein Desaster
allerdings auch nicht erspart.
Anfang der 70er Jahre haben sich die Aktionen der RAF noch auf den
Vietnamkrieg bezogen.
Einen Konsens gab es innerhalb der Bewegung, dem, was von 68 übriggeblieben
war: daß eine Revolution, soweit sie hier stattfinden kann, einen
antiimperialistischen Charakter haben muß. Daß sie auch nur dann hier eine
Chance hat zu bestehen, wenn sie die Bewegungen in der Dritten Welt
berücksichtigt. Ohne Vietnam, ohne die Entwicklung in der Dritten Welt,
wäre die RAF nicht geworden, was sie dann geworden ist. Unsere
Hoffnungsträger waren die Tupamaros und die Black Panther.
Ihr habt euch dann aber schnell auf die Frage konzentriert: Wie kriegen wir
die Leute aus dem Knast?
Wir haben auch überlegt, was es an anderen Möglichkeiten, auf anderen
Gebieten gibt. Aber wir haben es so gesehen, daß wir, als relativ kleine
Gruppe, auf anderen Gebieten nur stärker werden, wenn wir an diesem Punkt
etwas erreichen können. Unsere nüchterne Einschätzung war, daß Staat und
Kapital die Situation dermaßen dominieren, daß von der Bewegung, die 67/68
aufgebrochen war, nichts mehr übrigbleiben konnte. Über die Gefangenenfrage
wollten wir etwas von diesem Staat vermitteln. Seinen Charakter. Seine
Geschichte.
Wem wolltet ihr das vermitteln?
Wir waren nicht, so wie die ML-Gruppen, auf das Industrieproletariat
ausgerichtet. Diesen Gedanke haben wir damals schon mit der Analyse über
die Arbeiteraristokratie in den Metropolen verworfen. Für uns war das
revolutionäre Subjekt nicht ökonomistisch bestimmbar. Wir haben gesagt:
Jeder, der kämpft, kann Revolutionär sein. Dadurch, daß wir es diffuser
gefaßt haben, hatten wir aber auch nicht das notwendige Korrektiv einer
sozialen Basis. Das war damals eher bei den Roten Brigaden in Italien der
Fall, die in den Fabriken ganz anders verankert waren.
Italien war anders.
Ja sicher. Auch Irland war anders. Trotzdem haben wir uns in diesem
Zusammenhang gesehen. Hätten wir in Italien gelebt, hätten wir natürlich
lieber das Konzept der Brigaden gemacht, das haben wir schon in den frühen
Texten gesagt. In Italien hatte es eine starke Resistenza gegeben, mit der
hing selbst die Geschichte der italienischen Christdemokraten zusammen.
Hier jedoch hatte der Faschismus alles zerstört, was von Arbeiterbewegung
übriggeblieben war. Das war eine ganz andere Kontinuität, die erst mal
aufgebrochen werden mußte.
Unser internationalistischer Ansatz hatte auch darauf gebaut, daß durch die
"Einkreisung der Städte durch die Dörfer" das "Modell Deutschland" Risse
bekommt, in denen wir uns auf Dauer sozial verankern und festkrallen
können.
Aber worüber wolltet ihr euch legitimieren, über die Verhältnisse hier oder
über die weltweite Bewegung?
Im besten Fall über beides, aber die Frage ist bis heute strategisch nicht
gelöst: Tatsache ist, daß wir in einer Metropole leben, mit ungeheurem
Reichtum und Privilegien, in anderen Ländern dagegen ungeheure Armut
herrscht, und die sozialen Bedingungen für einen revolutionären Ansatz ganz
andere sind. Heute kommen noch die "Inseln der Dritten Welt" in den
Metropolen und die Armutsregionen im Osten dazu. Für beide ist die Lösung
der sozialen Frage zu einer Überlebensfrage geworden, die mehr denn je den
nationalstaatlichen Rahmen sprengen muß und die zugleich jeden abstrakten
Internationalismus verblassen läßt. Wenn man sich in diesen internationalen
Zusammenhang stellt, ist jedoch die Gefahr groß, den sozialen Kontakt, die
kritische Reibungsfläche zu verlieren, sich mit dem Verweis auf die
internationalen Verhältnisse sogar jeder Kritik zu entziehen.
So kamen mir die Diskussionen der Roten-Hilfe-Gruppen auch vor, die ich
Mitte der 70er Jahre in meinem Kreuzberger Umfeld erlebte.
Da müßten wir die Berliner GenossInnen mal fragen. Ich kenn' die Hamburger
Rote Hilfe aus dieser Zeit. Da hat es andere Ansätze gegeben. Selbst wenn
es alles nicht das gebracht hat, was an sozialen Utopien damit verbunden
war, heute erlebe ich, daß oft die einzigen Gruppen, die sich noch um
Gefangene kümmern, von rechten Organisationen getragen werden, die hier
versuchen, ein rassistisches Potential zu etablieren. Mit denen bin ich
mehrfach und in verschiedenen Knästen konfrontiert worden. Da hat die
Bewegung damals einfach ein Terrain fallenlassen. Übrigens auch die taz,
die ja mal eine Knastseite hatte.
Wir bestreiten ja nicht, daß das eine sinnvolle Arbeit war und auch heute
wäre. Damals hatten wir aber immer den Eindruck, daß die, die sich da
Avantgarde nennen, über die Themen, die uns interessieren, überhaupt nicht
sprechen.
Geredet wurde schon, soweit ein Austausch darüber mit unseren GenossInnen
in der Legalität möglich war, allerdings bekanntlich ohne diese Themen in
unsere Praxis aufzunehmen. Ich würde an diesem Punkt in der
selbstkritischen Reflexion noch weitergehen: Die Gefangenenfrage wurde von
einem Teil der Gefangenen und uns in den Antifolterkomitees furchtbar
moralisisert, und damit haben wir sicher viele in der Linken abgeschreckt,
die sich kritisch, aber solidarisch mit uns auseinandergesetzt haben. Peter
Brückner und andere wurden vor den Kopf gestoßen, da gibt es sicher noch
viel Widerwärtiges aufzuarbeiten. Trotzdem seid ihr damit noch lange nicht
aus dem Schneider, denn es gab - parallel zum Rückzug der 68er - auch eine
massive Entsolidarisierung. Das hat sich dann später gerächt: Wer die
Bedingungen der Gefangenen in den Isolationstrakten verdrängte und keine
Verantwortung übernahm, zum Beispiel durch eine eigene, unabhängige
Position, der sollte sich nachträglich wenigstens nicht wundern, daß ihn
die Gefangenenfrage im Herbst 77 in einer militärischen Zuspitzung wieder
einholte.
Unsere Situation damals war wie gesagt eine andere. Wir waren vom Zerfall
der 68er Revolte geprägt, wir wollten ihre sozialrevolutionären und
antiimperialistischen Ansätze weitertragen, und der Horizont von neuen
sozialen Bewegungen war für uns noch lange nicht greifbar. Die Bedeutung
der Anti-AKW-Bewegung haben wir einfach auch lange unterschätzt oder nur
unter dem Gesichtspunkt ihrer Militanz gegen den Staat gesehen. Noch
schwerwiegender war vielleicht die fehlende Auseinandersetzung mit der
Frauenbewegung. Da möchte ich gar nicht drum rum reden. Doch selbst wenn
wir uns in dieser Phase direkt in den neuen sozialen Bewegungen aufgelöst
hätten, was nicht unbedingt sinnvoll gewesen wäre, die Gefangenenfrage wäre
geblieben. Sie saßen auch für die Geschichte einer gemeinsamen Bewegung und
wären genauso für unabsehbare Zeit in den Sicherheitstrakten vergraben
geblieben. Wir wollten die Gefangenen draußen haben und stellten an diesem
Punkt die Machtfrage.
War das nicht schon so, als die RAF über die Besetzung der Deutschen
Botschaft in Stockholm die Gefangenen befreien wollte?
Gerade aus der Niederlage von Stockholm hat sich der Gedanke entwickelt,
daß wir eine präzisere Aktion machen müssen.
War die Idee der Schleyer-Entführung also ein direktes Resultat aus der
Erkenntnis, Stockholm war ein Fehler?
Es war der falsche Weg. Das hat das Ergebnis gezeigt: vier Tote, auf beiden
Seiten zwei, niemand war rausgekommen, im Gegenteil, die Zuspitzung wurde
noch schärfer.
Und eure Analyse war, daß eine Botschaftbesetzung nicht ausreicht, um die
Freilassung der Gefangenen zu erzwingen?
Daß eine Botschaft nicht reicht, und auch, daß wir politisch einen Punkt
treffen müssen, an dem es zu ihren Ungunsten ausfällt, wenn sie nicht
nachgeben.
Gab es in dieser Überlegung schon die konkrete Person Schleyer?
Nein, nein, so schnell ging das nicht. Stellt euch das nicht so vor, daß
eine Aktion nach der anderen anstand. Bevor ich in den Untergrund ging,
hatte ich auch ganz andere Vorstellungen davon, was RAF ist und was möglich
ist. Als ich noch legal war, kannte ich viele, die dauernd darüber redeten,
wie sie die RAF unterstützen wollten. Als ich dann selber im Untergrund
war, mußte ich feststellen, daß das überhaupt nicht so war. Nach Stockholm
stand ich plötzlich quasi vor dem Nichts. Es gab noch ein paar Mark und
zwei Pistolen, die aber auch nicht richtig funktionierten.
Wie seid ihr dann auf Schleyer gekommen?
Schleyer, so wie er sich präsentierte in der Öffentlichkeit, in Interviews
und all seinen Auftritten, war einfach ein Magnet. Ein naheliegender
Gedanke. Es gab aber auch andere Überlegungen, beispielsweise kamen wir auf
Filbinger, den baden-württembergische Ministerpräsidenten. Filbingers
Vergangenheit als Nazi-Marinerichter war damals noch nicht öffentlich
bekannt. Aber bekannt war, daß er nach der NS-Zeit praktisch ungebrochen
zum Landesvater geworden war. In seinem Fall sind wir sehr schnell zu dem
Ergebnis gekommen, daß wir da den ganzen Landtag stürmen müßten. Das fiel
natürlich aus. Schleyer ist dann übriggeblieben.
Und da habt ihr angefangen, die Entführung vorzubereiten?
Nein, zu dem Zeitpunkt wurde noch keine Aktion festgelegt. Das waren erst
mal Überlegungen.
Wann war das?
Das war direkt nach Stockholm, da hatte sich die Gruppe noch gar nicht
konstituiert. Da kamen erst später noch zwei andere Gruppen zusammen, die
sich bis dahin nicht als RAF begriffen haben. Da gab es noch keine
konkreten Pläne, aber es war eine Richtung, und wir wollten, auch bewußt im
Unterschied zu Stockholm, an dieser Person klarmachen, worum es uns ging,
wo wir herkommen, wofür wir eigentlich kämpfen.
Dachtet ihr, bei Schleyer könnte Schmidt nicht hart bleiben, da müssen sie
austauschen?
Nein, diese Überlegung war noch nicht so weit. Erst mal haben wir Schleyer
gesehen, bei dem sich alles konzentriert hat, wogegen wir, die ganze Linke,
rebelliert hatten. Ich erinnere mich noch sehr gut an diese Geschichte über
Schleyer im Stern 1974. Da wurde nicht nur seine NS-Geschichte
thematisiert, sondern vor allem diese Ungeheuerlichkeit, wie er seine
weitere Karriere, seinen Aufstieg zum BDI- und BDA-Mann, zum politischen
Chef des Kapitals, als einen vollkommen bruchlosen Übergang verstanden hat.
Damit hatte er öffentlich geprahlt, es war also kein Kunststück, auf ihn zu
kommen.
Aber ihr habt doch damals nicht gesagt, wir entführen Schleyer, um damit
die Kontinuität des Faschismus in der Bundesrepublik zu zeigen. In Italien
gab es viel klarere Aktionen: Die BR haben versucht, in aktuelle
Arbeitskämpfe einzugreifen, haben Manager entführt und mit runtergelassener
Hose zum Schichtwechsel vor einem Fabriktor wieder laufenlassen. Das sprach
für sich.
Wir haben auch immer gesagt, die besten Aktionen sind die, die für sich
sprechen. Bei Schleyer mußten jedenfalls nach der Entführung keine
langatmigen Erklärungen abgegeben werden, warum es gerade um ihn ging und
nicht um einen anderen Vertreter der herrschenden Klasse. Vergleichbares
wie in Italien ist aber auch 1975 in Argentinien gelaufen, als die
Montoneros einen Vertreter von Daimler- Benz entführten. Sie forderten die
Wiedereinstellung von Ausgesperrten und höhere Löhne. Ich glaube, bei den
Verhandlungen damals war Schleyer auch dabei. Aber solche Aktionen lassen
sich nicht einfach übertragen. Seht euch nur mal das Lohngefälle zwischen
einem Arbeiter bei Daimler in Stuttgart und dem in Buenos Aires an. Es war
aber zu jenem Zeitpunkt einfach noch nicht festgelegt. Die Einengung auf
den Gefangenenaustausch war auch aus der Zuspitzung entstanden, auf die wir
uns in der Gefangenenfrage im ganzen Jahr 77 zubewegten.
Erklär doch mal eure Dramaturgie für 1977 - vor der Schleyer-Entführung gab
es das Attentat auf Buback und den Mord an Ponto.
Buback war der oberste "Terroristenjäger" und für die Haltung gegenüber den
Gefangenen verantwortlich. Für uns war er auch verantwortlich für den Tod
Siegfried Hausners, den er aus Stockholm abtransportieren ließ, obwohl
Hausner lebensgefährlich verletzt war. Und wir sahen in ihm den
Verantwortlichen für den toten Trakt und die Haftbedingungen von Ulrike
Meinhof. Dem wollten wir Grenzen setzen.
Kam dazu, daß ihr, so hat es jedenfalls Peter Jürgen Boock erzählt, von den
Stammheimern massiv unter Druck gesetzt wurdet?
Ich habe keine Lust, die jeweils neueste Variante von Boock zu
kommentieren. Auf ihn trifft zu, was Régis Debray in seinem Buch "Kritik
der Waffen" über die Guerillabewegung in Lateinamerika sagte: "Die größten
Militaristen werden die besten Renegaten." Während Boock wie ein Tanzbär
durch die Talkshows tapst, haben andere, wie Brigitte Mohnhaupt, die in
einem bayrischen Knast weggebunkert ist, keinerlei Möglichkeit, sich dazu
zu äußern.
Du hast ja jetzt die Möglichkeit. Seid ihr damals unter Druck gesetzt
worden?
Das kann tatsächlich erst vollständig aufgearbeitet werden, wenn alle
Gefangenen etwas dazu sagen können. Gerade Boock bezieht sich immer auf
eine angebliche oder tatsächliche Korrespondenz mit den Stammheimern, die
außer ihm nur Brigitte Mohnhaupt kennen soll. Was soll ich also dazu sagen?
Sicher, die Gefangenen wollten unbedingt raus, und dieses Gefühl, mit dem
Kopf durch die Wand zu wollen, kennt schließlich jeder Gefangene. Die Frage
ist nur, welcher Einsatz dafür moralisch und politisch vertretbar ist.
Erst einmal haben die Verhältnisse Druck gemacht. Dazu kommt, es gab in der
Zeit die Theorie vom neuen Faschismus, der aus den Institutionen kommt und
keine Massenbasis braucht. Beides hat so nicht gestimmt. Diese schräge
Theorie wurde nicht nur von der RAF vor- und nachgebetet, sie führte auch
dazu, daß wir uns auf einen militaristischen Schlagabtausch mit dem Staat
beschränkten. Gleichzeitig haben wir beispielsweise die Produktion
rassistischer Mentalitäten unterschätzt, die zwischen Oben und Unten
funktionieren und so neu nicht sind. 1977 war auch das Jahr, in dem sich
viele SS- Traditionsverbände, von einigen Protesten der VVN abgesehen,
ungestört treffen konnten. Warum haben wir die nicht attakiert? Statt
dessen wurden in einigen Fällen leichtfertige Assoziationen zwischen
Isolations- und Vernichtungshaft und Auschwitz hergestellt, die nicht nur
zu grotesken Fehleinschätzungen und "Handlungszwängen" führten, sondern die
auch gegenüber den Opfern der Vernichtungslager schäbig waren. Dabei waren
die Bedingungen in den Isolationstrakten schlimm genug. Um dagegen zu
handeln wäre kein zusätzlicher "Druck" notwendig gewesen. Wir waren ja auch
keine Gruppe, die nur darauf gewartet hat, was die Stammheimer sagen. Mit
solchen Erklärungen versuchen einige, sich aus der Verantwortung zu
schleichen.
Das heißt nicht, daß nicht auch an den Stammheimern vieles hätte kritisiert
werden müssen. Ich hab' mich oft gefragt, was passiert wär', wenn wir sie
tatsächlich rausgeholt hätten. Ob ich mich mit ihnen verstanden hätte.
Damals ging ich automatisch davon aus. Heute bin ich da eher skeptisch.
Aber wenn sie draußen gewesen wären, hätten wir sie wenigstens kritisieren
können. Der Schmerz, daß das nicht ging, der bleibt bis heute hängen.
Damals dachten wir, wenn wir die Gefangenen befreit haben, dann können wir
wieder auf die ursprünglichen Ziele der RAF zurückkommen - die Ziele, die
schon während der 68er Revolte entstanden.
Du hast vorhin angesetzt, die Dynamik jener Zeit, 76/77, zu beschreiben. Da
warst du bei Bundesanwalt Siegfried Buback. Der Anschlag auf ihn sollte die
anderen Gefangenen schützen. Habt ihr erreicht, was ihr wolltet?
Nein, sonst hätten wir uns die weitere Eskalation ja ersparen können. Nach
dem Tod von Holger Meins und dem Anschlag auf den obersten Berliner
Richter, Günther Drenckmann, gab es im Spiegel ein Interview mit den
Stammheimern, in dem sie deutlich gesagt haben: Wenn es Beerdigungen gibt,
wenn Schmerz, Leid und Trauer, dann auf beiden Seiten.
Hättet ihr euch dieser Konfrontation nicht entziehen können?
Das hätte damals bedeutet, daß wir die Gefangenen aufgeben, daß wir sagen
müssen: Eine Befreiungsaktion geht einfach nicht, andere Initiativen sind
jetzt dringender. Heute würde ich eher sagen, wir hätten damals mehr Geduld
einfordern müssen. Obwohl, es ist ja heute noch schwer, mitansehen zu
müssen, wie der Staat auch gegenüber kranken Gefangenen wie Helmut Pohl
oder Adelheid Schulz hart bleibt.
Ihr habt dann also in relativ kurzer Zeit eine Struktur aufgebaut, um
Schleyer entführen zu können. Wie lief das?
Es waren wie gesagt zunächst verschiedene Gruppen, die erst mal nicht im
RAF- Zusammenhang standen.
Dann war das 1977 quasi eine Nachgründung oder Neugründung?
Nein, dieser Begriff der zweiten Generation RAF stimmt so nicht. Das waren
teilweise Leute, die aus alten Zusammenhängen übriggeblieben waren, teils
aber auch neue Leute, die aus ihren Erfahrungen sagten, daß jetzt mit der
RAF zusammen eine Chance für die Zukunft offengehalten wird.
Haben sich eure Hoffnungen am Erfolg der Lorenz-Entführung 1975 orientiert?
Oder habt ihr gedacht, ein so wichtiger Mann wie Hanns Martin Schleyer wird
auf jeden Fall ausgetauscht?
Am Augenmaß der Bewegung 2. Juni hätten wir uns ruhig ein Beispiel nehmen
können. Aber die Lorenz-Entführung hat wohl auch die Kräfteverhältnisse
verändert. Wir waren ursprünglich davon ausgegangen, daß Schleyer allein
für den Austausch der Gefangenen nicht reicht. Deshalb sollte außer
Schleyer noch der Chef der Dresdner Bank, Jürgen Ponto, entführt werden. Da
hätten wir das durch seine braune Vergangenheit belastete Finanzkapital,
für das die Dresdner Bank stand, und Schleyer mit seiner Rolle in den
Kapitalistenverbänden, also den Politiker, zusammengehabt. Ein Gewicht, an
dem sie nicht vorbeigekonnt hätten. Durch die Bekanntschaft einer damaligen
Genossin mit der Familie Ponto erschien uns die Entführung des Bankiers als
die militärisch leichtere Aktion. Das ging bekanntlich schief. Ponto wurde
erschossen, weil einer von uns die Situation falsch eingeschätzt hat. Es
war auch falsch, die private Bekanntschaft für so etwas auszunutzen. Das
hat unsere Erfolgsaussichten schon zu Beginn sehr eingeschränkt.
Die zweite Schwierigkeit war, daß Schleyer ursprünglich diese SEK-Bewachung
nicht gehabt hat. Die höchste Sicherheitsstufe wurde für ihn erst infolge
der Ponto-Aktion angeordnet. Angesichts dieser Schwierigkeiten haben wir
selbst schon damals der Aktion skeptisch gegenübergestanden. Zudem gab es
gleich vier Tote, den Fahrer und Schleyers Bewacher. Damit wurde die
Eskalation verschärft und ein Austausch noch weniger wahrscheinlich.
Aber ihr habt Schleyer doch wohl durchgehend observiert und hättet von den
Begleitern wissen müssen.
Ja sicher, das war uns bekannt. An diesem Tag waren aber drei statt der
üblichen zwei SEK-Beamten bei Schleyer. Das war nicht vorhersehbar.
Vorhersehbar war, daß man denen nicht sagen konnte, so, jetzt haltet euch
mal fein raus, sondern daß es nur geht, wenn die SEK-Beamten erschossen
werden. Beim Fahrer hatten wir gesagt, daß es möglichst vermieden werden
soll. Es war unsere gemeinsame politische Entscheidung. Aber die
Durchführung folgte dann eben der militärischen Logik. Jedes Opfer auf
beiden Seiten ist zu bedauern, aber die Polizisten sind in einer
Gefechtssituation erschossen worden, in der sie ja auch elf Schüsse aus der
Maschinenpistole und drei aus der Pistole abgegeben haben. Der Fahrer hatte
zwar eine Werkschutzausbildung für Entführungssituationen, aber er war
unbewaffnet. Deshalb finde nicht nur ich seinen Tod um so bedauerlicher.
Aber aller Skepsis zum Trotz habt ihr nicht überlegt, den Plan
fallenzulassen?
Diese Diskussion hat es schon gegeben. Die andere Seite waren aber die
Verhältnisse im Knast. Wir hatten Angst, wenn das so weitergeht, dann gibt
es unter Umständen erneut Tote, und wir stehen wieder da und können nur
trauern. Wir haben dann gedacht, jetzt sollen sie selbst einmal spüren, wie
das ist, in eine Situation zu kommen wie unsere Gefangenen.
Hat Schleyer das begriffen?
Nach seiner Entführung hat er auf den Videos davor gewarnt, das
Gefangenenproblem militärisch zu lösen. Da hat er allerdings bereits
gespürt, daß er von seinen politischen Freunden fallengelassen wird.
Das habt ihr auch gemerkt?
Natürlich.
Ihr hattet also relativ früh nicht mehr den Eindruck, daß die
Bundesregierung auf eure Forderungen eingehen würde?
Wir wußten, daß sich innerhalb von wenigen Tagen zeigt, wie der Krisenstab
sich entscheiden wird, ob sie z.B. die Kommuniqués veröffentlichen oder die
Videos, die gemacht wurden. Wären die im Fernsehen veröffentlicht worden,
wäre es für die Regierung sehr schwer geworden, einen Austausch abzulehnen.
Es gab also sehr früh Anzeichen, daß es nicht so schnell läuft. Die Aktion
war aber nicht auf längere Sicht angelegt. Wir wollten Leben gegen Leben,
einen schnellen Austausch von Gefangenen. Wenn das nicht läuft, sollte
Schleyer erschossen werden.
Habt ihr mit Schleyer so darüber geredet?
Ja, das war von vornherein klar. Als sich herausstellte, daß der Krisenstab
immer nur neue Möglichkeiten suchte, dieser Entscheidung auszuweichen,
wußten wir, daß sie ihn nicht austauschen wollen. Sie hofften, uns zu
finden und zu liquidieren. Im Grunde genommen war das schon klar, als sie
die erste Wohnung gefunden hatten, die sie dann gestürmt haben, ohne erst
mal nachzusehen, ob da überhaupt jemand drin ist. Da zeichnete sich die
Haltung schon ab. Und wir mußten überlegen, wie es weitergehen soll. Setzen
wir das Ultimatum um oder nicht. Gibt es noch die Möglichkeit, daß der
Druck stärker wird, wenn man das Ultimatum verlängert? Wir mußten schauen,
welche Möglichkeiten es noch gibt, ein neues Versteck zu finden und so
weiter. Das war die nächste wichtige Entscheidung.
Ihr hattet noch Hoffnung?
Wir sagten, wenn es in dieser Einheitsfront im Krisenstab überhaupt
Widersprüche gibt, dann muß man denen Zeit geben zu wirken. Beispielsweise
Spielraum für den Einfluß von Kräften aus der Industrie. Von Schleyer
selbst sind dann auch Initiativen gestartet worden, er hat seine
politischen Freunde angeschrieben.
Das waren seine Ideen?
Ja sicher, das kann man daran sehen, daß er viele Sachen geschrieben hat,
die wir niemals so formuliert hätten - er hat zum Beispiel von Terroristen
gesprochen. Er kannte seine Freunde und seine politische Klasse ja besser
als wir und wußte, wo er ansetzen mußte. Er selbst hatte nicht die
Einschätzung, daß er wirklich alles für einen Austausch mobilisieren
konnte, aber er hat darauf gebaut, daß seine Freunde ihn nicht
hängenlassen. Das war eine der erschütterndsten Erfahrungen für ihn, zu
erleben, daß er mit all der Macht, die er vorher hatte, auf einmal aus
seiner politischen Klasse, von seinen politischen Freunden fallengelassen
wurde.
So habt ihr das empfunden?
Nicht von Anfang an, aber diese menschliche Tragödie hat sich abgezeichnet
und die hat auch jeder von uns mitgekriegt.
Ist in einer solch harten Situation, die ja ganz viel Entschlossenheit und
Verhärtung eurerseits bedeutet, so ein Gefühl überhaupt möglich?
Eine solche Situation geht an keinem vorbei. Bei aller Anspannung - niemand
verhält sich in so einer Situation nur rational, nur entsprechend seiner
politischen Auffassung.
Haben sich da wirkliche Gesprächssituationen zwischen euch und Schleyer
entwickelt?
Ich würde sagen, nur Gesprächssituationen. Als Polizeiverhörspezialisten
waren wir sicher völlig ungeeignet und als solcher hat sich auch niemand
aufgespielt.
Aber ihr habt doch gezielt Tonbänder dieser Gespräche aufgenommen.
Sicher hatten wir gezielte politische Fragen. Aber diese
Auseinandersetzungen, diese Diskussionen waren keine Verhöre.
Boock sagt, es habe Kreuzverhöre gegeben und ihr hättet sogar geplant,
Schleyer vor ein Volksgericht zu stellen.
Beide Begriffe fassen nicht annähernd, was damals tatsächlich gelaufen ist.
Warum habt ihr mit Schleyers Vergangenheit damals überhaupt nicht
öffentlich gearbeitet?
Das war sicher ein politischer Fehler, aber wir wollten ihn in dieser
Situation nicht demütigen oder vorführen, weil er wußte, daß die Aktion für
ihn tödlich enden kann. Schleyer war ja nicht populär oder beliebt, und wir
hatten deshalb auch die Befürchtung, daß er nicht mehr austauschfähig ist,
wenn wir ihn weiter runtermachen. Deshalb haben wir auch die Idee, ihn mit
seiner SS-Nummer und einem Schild "Gefangener seiner eigenen Geschichte"
abzulichten, schnell verworfen. Das hat aber im Nachhinein eine verrückte
Umkehrung bedeutet: Schleyer wurde, nach dem was er geschrieben und gesagt
hat, nur noch als Familienvater, als Opfer gesehen.
Habt ihr damals überlegt, wie ihr dem Argument der Bundesregierung begegnen
könnt, ein Austausch würde nur dazu führen, daß die Leute aus dem
Untergrund neue Straftaten begehen. Habt ihr jemals daran gedacht,
öffentlich zu erklären, den bewaffneten Kampf einzustellen?
Andreas Baader hat ja so einen Vorstoß gegenüber einem Vertreter der
Bundesregierung gemacht. Ihr wißt, was daraus geworden ist.
Ihr habt nie ernsthaft überlegt, euch dem Angebot Baaders anzuschließen?
Wir wußten von diesem Angebot nichts. Es war nicht festgelegt, daß wir mit
dem bewaffneten Kampf so weiter machen würden, aber das wollten wir so
nicht einbringen.
Warum nicht?
Seht es mal so herum: Wir hatten Schleyer und die Gegenseite macht nicht
nur mobil, sondern sie verhängt die Kontaktsperre, sie bricht ihre eigenen
Gesetze. Überall setzt sie noch eins drauf. Sie sagt, sie macht keine
Fahndung und veranstaltet tatsächlich die größte Fahndung aller Zeiten, sie
bläst zur Hatz auf alle, die überhaupt nur irgend etwas Kritisches gegen
den Staat gesagt haben, sie verordnet die Nachrichtensperre. In dieser
Situation der Zuspitzung zu verlangen, daß wir sagen: Es war eigentlich gar
nicht so gemeint, wir wollen nur friedlich in irgendeinem
Palästinenserlager den Flüchtlingskindern helfen - das hätte uns doch
niemand abgenommen. Die Frage ist, ob es in der Situation Initiativen hätte
geben können, die unterhalb der Ebene eines Austauschs einen Ansatzpunkt
finden, an dem man hätte sagen können: Schluß jetzt, es hat genug Tote
gegeben, jetzt suchen wir was anderes. Ich weiß auch nicht, wie wir
reagiert hätten, wenn wir gewußt hätten, was Andreas Baader angeboten hat.
Es wäre zumindestens eine Chance gewesen, darauf Bezug zu nehmen. Für uns
waren die Gefangenen aber sechs Wochen verschwunden. Wir wußten überhaupt
nicht, was mit denen passiert war. Wir konnten uns in unserer Phantasie
alles mögliche vorstellen - die Stimmen, die die Wiedereinführung der
Todesstrafe forderten, haben ihren Teil dazu beigetragen.
Statt dessen habt ihr den Druck erhöht. Erst hat Schleyer an seine
politischen Freunde geschrieben und dann kam die Flugzeugentführung. War
das ein Angebot der Palästinenser, oder habt ihr euch an die Palästinenser
gewandt?
Es kam als Angebot. Ich weiß nicht genau wie, weil ich nicht bei der Hälfte
der Gruppe war, die in Bagdad war, aber die anderen haben uns natürlich
gefragt. Unsere Genossen haben uns, die wir in Westeuropa geblieben sind,
gefragt, ob wir damit einverstanden sind.
Ihr hattet kein Problem mit der Entführung eines Flugzeugs voller Urlauber?
Widersprachen Flugzeugentführungen nicht dem Konzept der RAF?
Bis dahin hatten wir uns Flugzeugentführungen auch nur aus der Sicht der
Palästinenser vorstellen können, aber nicht zur Durchsetzung unserer
Forderungen in Deutschland. Es gab ein Papier der Stammheimer Gefangenen,
in dem sie die Flugzeugentführung nach Entebbe 1976 heftig kritisieren. Der
Kritikpunkt war die Beteiligung von zwei deutschen RZ- Mitgliedern an einer
Aktion gegen Israel, dem Land, das ja auch der Fluchtort für die Opfer des
Holocaust war. In diesem Papier wird aber auch angedeutet, daß es anders
bewertet werden muß, wenn ein deutsches Flugzeug entführt wird. Nach einer
langen Debatte war das ein ausschlaggebender Punkt für unsere Zustimmung,
weil die Gefangenen diese Frage offen gelassen haben und wir deshalb das
Gefühl hatten, nicht gegen ihre Interessen zu handeln. Wir hätten auf
keinen Fall gegen den Willen der Gefangenen gehandelt.
War es dann doch eure Initiative? Haben eure Leute, Boock und andere, den
Palästinensern gesagt, ihr müßt uns helfen, wir kommen allein nicht mehr
weiter?
Nein, nein, das war ganz sicher nicht so. Dazu muß ich etwas genauer darauf
eingehen, wie unsere Zusammenarbeit mit den Palästinensern eigentlich
aussah. Die Palästinenser hatten eigene Interessen bei so einer Aktion.
Schon auch, daß die Gefangenen rauskommen, es ging ja auch um zwei
palästinensische Gefangene, die in einem türkischen Knast saßen, aber sie
haben dabei einen ganz anderen Hintergrund gehabt. Die haben sich gesagt,
ein Land wie die Bundesrepublik, das wichtigste Land in der EG, ist in eine
Konfrontation verwickelt, auf die die ganze Welt schaut, da können wir
unser Anliegen mit einbringen. In dem Flüchtlingslager Tell al-Zatar in
Beirut waren damals die Syrer den Falangisten zu Hilfe gekommen, als diese
6.000 Palästinenser massakriert haben. Die Fraktion innerhalb des
palästinensischen Widerstands, die die Landshut entführt hat, wollte in
dieser Situation verhindern, daß die Syrer oder andere arabische
Regierungen sich auf Kosten der Palästinenser mit Isreal einigen. Wir
wurden in diesem Konflikt auch in bezug auf Israel von der deutschen
Geschichte eingeholt.
War euch nicht klar, was es bedeutet, wenn bei der Flugzeugentführung 80
unbeteiligte Urlauber umgebracht werden?
Es entschuldigt nichts, aber wir haben dabei an die erfolgreichen
Flugzeugentführungen von Leila Khaled gedacht, deren Buch lange als
Kultbuch in der Linken zirkulierte. Es war für uns ein Problem, die
Mallorca-Urlauber und Schleyer auf eine Stufe zu stellen. In dieser
speziellen Situation, in der Dynamik, die sich nach der Schleyer-Entführung
entwickelt hatte, konnte das Angebot aber die Lösung sein. Wir sind davon
ausgegangen, daß die Bundesregierung durch die Flugzeugentführung die
Gelegenheit bekam zu sagen: O.K., wir sind hart geblieben bei Schleyer,
aber jetzt können wir nicht mehr, jetzt müssen wir austauschen.
In dieser Haltung steckte ein grotesker Widerspruch. Wir haben einerseits
geglaubt, die Bundesrepublik befinde sich in einer Entwicklung hin zum
Faschismus und haben deshalb der politischen Klasse alles mögliche
zugetraut. Aber genau an diesem Punkt haben wir unsere eigene Analyse nicht
ernst genommen und gesagt: So jetzt müssen sie austauschen, das können sie
sich nicht leisten. Warum eigentlich nicht?
Wir sind damit nicht aus der Verantwortung entlassen, weil wir einfach
darauf vertraut haben. Aber für uns wäre es die Lösung gewesen: Schleyer
wird nicht erschossen, die Gefangenen kommen raus.
Ihr habt geglaubt, die 80 Leute sind nicht wirklich in Gefahr?
Wir haben gedacht, daß sie sehr, sehr wahrscheinlich ausgetauscht werden.
Wir sind aber auch dabei von falschen Voraussetzungen ausgegangen. Die
Aktion ist anders gelaufen, als sie geplant war. Die Entführung sollte im
Südjemen enden. Dort wäre die GSG 9 niemals an die Maschine herangekommen,
ohne sich gleich mit dem ganzen Land und dem Ostblock anzulegen. Die
Bundesregierung hätte verhandeln müssen.
Wieso ist es in Aden schiefgegangen?
So wie ich die Verhältnisse in Aden kannte, war für mich klar, daß die DDR
oder die Sowjetunion dafür gesorgt haben, daß die Maschine nicht dort
bleiben konnte. Diese Entscheidung ist nicht in Aden allein getroffen
worden. Die hatten ein ganz anderes Verhältnis zu den Palästinensern,
hätten sie niemals nach Somalia geschickt.
Hattet ihr von den Palästinensern so sichere Zusagen, daß ihr die
Möglichkeit von achtzig toten Urlaubern gar nicht in Betracht gezogen habt?
Habt ihr euch nicht gefragt, was machen wir als politische Gruppe, wenn
wegen der Aktion achtzig Urlauber umgebracht werden?
Wir haben auf die Erfahrung gebaut, daß die Palästinenser bei
Flugzeugentführungen immer verantwortungsbewußt gehandelt haben. Hätten wir
die Aktion zu Ende gedacht, hätten wir ihr nicht zustimmen können. Aber wir
haben tatsächlich nur an den guten Fall, die politische Lösung, gedacht.
War das eine einhellige Meinung?
Ja, das war unsere gemeinsame Einschätzung. Wir dachten dabei auch an die
fast gleichzeitig erfolgreich durchgeführte Entführung eines japanischen
Flugzeugs durch die japanische Rote Armee. Und dann hat sich hier ja auch
nichts bewegt. Damit meine ich nicht nur den großen Krisenstab, die
Bundesregierung, sondern irgendwelche anderen Initiativen, moralischen
Instanzen oder sonstige linke Gruppen haben sich ja auch nicht zu Wort
gemeldet. Wir haben Deutschland nur noch aus der Sicht der "Verdammten
dieser Erde" gesehen.
Hättet ihr es an euch herangelassen, wenn eine kritische Öffentlichkeit
euch genau zu diesem Zeitpunkt aufgefordert hätte: Laßt jetzt Schleyer
laufen, rettet die Landshut-Geiseln?
Damals gab es ja vor allem diese zwanghaften Distanzierungen. Wenn es als
eine unabhängige linke Position gekommen wäre, schon. Wir wurden aber nicht
in die Pflicht genommen.
Habt ihr denn damals geglaubt, daß es Unterstützung für die Forderung nach
einer Freilassung der Gefangenen geben würde?
Eigentlich schon. Wir hatten natürlich nicht mit der Nachrichtensperre
gerechnet. Das war eine Situation, in der wir plötzlich eng auf uns
begrenzt waren. Wir haben den Bezug nicht mehr gesehen.
Habt ihr ihn vermißt?
Was heißt vermißt? Wir waren davon ausgegangen, daß sich nach der
Entführung auch noch andere bemerkbar machen könnten. Unsere Planung war
allerdings nicht darauf angelegt.
Mit wieviel Leuten habt ihr eigentlich diskutiert. Wurden die
Entscheidungen von zwei, drei Leuten gefällt, oder haben alle diskutiert,
die an der Entführung beteiligt waren?
Es gab Situationen in denen nicht alle präsent waren. Es kamen Leute mit
unterschiedlichen Erfahrungen zusammen, aber alle wurden nach Möglichkeit
an den Entscheidungen beteiligt. Ich kenne niemanden, der sich damals
beschwert hat, daß er politisch nicht einbezogen war.
Hätte euch eine Reaktion aus der Linken denn noch erreicht?
Das war nicht der Punkt. Die Aktion sollte in ein paar Tagen entschieden
sein. In dieser Situation ist es unmöglich, öffentlich zu diskutieren.
Danach war es auch schwierig: Wenn wir ein Papier für die Linke verfaßt
hätten, wäre das doch gar nicht angekommen. Hätte jemand so ein Papier
gehabt und es nicht gleich zur Polizei getragen, der wäre sofort im Knast
gelandet.
Es gab doch die Möglichkeit, über die französische Zeitung Libération zu
kommunizieren.
Vielleicht. Ich bin mir nicht so sicher, ob in dieser Situation eine offene
Debatte mit der Linken möglich gewesen wäre. Fakt ist, es gab weder von uns
noch von der Linken solche Versuche. Die Geschichte ist wie sie ist, und
wir müssen sie erst einmal annehmen und die Verantwortung übernehmen. Ich
muß zu meiner Schande sagen, daß ich mir auch erst viel später, während
meines Prozesses, als ich anfing, meine eigene Geschichte unter einem
anderem Blickwinkel zu begreifen, überlegt habe, daß wir viel stärker
hätten deutlich machen müssen, warum wir ausgerechnet Schleyer
gefangengenommen haben. Wir hätten Forderungen stellen müssen, die in eine
ganz andere Richtung zielten. Es wäre naheliegend gewesen zu fordern, daß
Daimler-Benz die Archive über den Einsatz von Zwangsarbeitern öffnet, daß
der Konzern Entschädigungen für Zwangsarbeiter zahlt. Wir hätten sagen
können, bei der Frage der Gefangenen gibt es nur noch tödliche
Konfrontation, aber auf einem anderen Terrain kommen wir jetzt auf das
zurück, worum es uns eigentlich inhaltlich geht. Aus einer solchen Position
wäre es dann vielleicht auch möglich gewesen, ein anderes Ende, für
Schleyer eine menschlichere Lösung zu finden.
Habt ihr in der Gruppe darüber geredet?
Wir haben, wenn überhaupt, dann nur innerhalb der Konsequenz dieser Aktion
darüber geredet. Im Nachhinein muß ich sagen, wir haben nichts versucht, um
die vermeintliche Zwangsläufigkeit zu durchbrechen. Aber damals war niemand
bereit, ein Eingeständnis zu machen. Das hätte bedeutet, daß wir vieles,
was wir später wohl gesehen haben, vorweggenommen hätten. Wir hätten sagen
müssen, der bewaffnete Kampf, so wie er gelaufen ist, geht nicht.
Für euch war schon vor Beginn der Geschichte klar, wenn die Gefangenen
nicht rauskommen, wird Schleyer erschossen?
Ja, das ist auch das, was in den Kommuniqués drinsteht...
Es ist aber doch eine Sache, was man in Kommuniqués ankündigt, und eine
andere, was dann wirklich passiert.
Wir haben uns ja auch anders verhalten. Wir sind sogar während der Aktion
von einer anderen Gruppe kritisiert worden, daß wir nicht die Aktion
beendet haben, indem wir Schleyer erschießen. Sie haben gesagt, dadurch,
daß wir das hinauszögern und auf die Verschleppungstaktik des Krisenstabes
eingehen, machen wir es anderen unmöglich, bei späteren
Gefangenenbefreiungen noch ernstgenommen zu werden.
Es gab aber doch eine Zäsur, einen Punkt, an dem die Spirale der
wechselseitigen Drohungen beendet war. Das war nach dem 18. Oktober. Die
Maschine in Mogadischu war gestürmt, die Geiseln befreit, drei
Palästinenser erschossen, und die Gefangenen in Stammheim waren tot. Warum
konntet ihr da nicht aussteigen, warum habt ihr Schleyer nicht nach Hause
geschickt?
Das hätte aus unserer damaligen Sicht bedeutet, daß wir die Politik des
Krisenstabes bestätigen und legitimieren. Eine Freilassung ohne politische
Gegenleistung wäre nicht als eine menschliche Geste verstanden worden,
sondern als Eingeständnis der Niederlage, als voller Erfolg für den
Krisenstab, nach dem Motto: Härte zahlt sich aus. Aus heutiger Sicht sehe
ich auch unsere verpaßten Chancen, die politischen
Interventionsmöglichkeiten, die auch Schleyer den Weg nach Hause hätten
ebnen können.
Hattet ihr euch dazu etwas überlegt, gab es Kompromißlinien, z.B. weniger
Gefangene werden freigelassen, Hafterleichterungen, die Anerkennung, daß es
sich um politische Gefangene handelt?
Wenn in der damaligen Situation das Angebot von Andreas zum Rückzug der
Gefangenen zu einer Reaktion der Bundesregierung geführt hätte, wenn es
irgendeine Form der politischen Akzeptanz gegeben hätte, wenn
beispielsweise eine internationale Kommission zur Überprüfung der
Haftbedingungen angeboten worden wäre, dann hätten wir natürlich reagiert,
dann wäre es für uns undenkbar gewesen, strikt auf der ursprünglichen
Forderung zu beharren und Schleyer zu erschießen. Man kann uns vieles
vorwerfen, aber nicht, daß wir die Interessen der Gefangenen ignoriert
hätten.
Welche Rolle hat es gespielt, daß ihr nach den sechs Wochen Schleyer als
Person kanntet?
Das hat natürlich eine Rolle gespielt, es war bewegend und banal zugleich,
wie bei jedem, der um sein Leben bangt. Aber Schleyer war auch zuletzt für
uns nicht nur jemand, der eine Familie hat. Hat Schleyer jemals Rücksicht
auf die ausgesperrten Arbeiter genommen? Schleyer hat nie ernsthaft seine
Rolle im Protektorat Böhmen und Mähren bedauert - er war als SS- Mann für
die Integration der tschechischen Industrie in die deutsche
Kriegswirtschaft zuständig, sein Büro war damals nur 60 Kilometer vom KZ
Theresienstadt entfernt, von wo die Transporte nach Auschwitz gingen.
Außerdem hat die Bundesregierung ja die Ausstrahlung der Videobänder, in
denen Schleyer selbst an den menschlichen Aspekt appelliert hat,
verhindert. Sie hat auch die Gefangenen nicht reden lassen, dann wäre
vielleicht das Rückzugsangebot Baaders bekanntgeworden und die Gefangenen
hätten in der Öffentlichkeit ein anderes Gesicht bekommen. Sie hatten auch
Freunde und Familie, die sie gerne wiedergesehen hätten. Aber die
menschlichen Gesichtspunkte wurden vom Krisenstab bewußt ausgeschaltet. In
der Logik der Aktion war dann auch das bittere Ende konsequent. Aber für
unsere menschlichen und politischen Ziele war es ein Desaster.
Wir waren so unheimlich konsequent, als es darauf angekommen wäre,
menschliche Stärke und Großzügigkeit zu zeigen, und waren politisch so
wenig radikal, sogar harmlos, als es darum ging, die gesellschaftlich
Verhältnisse umzuwälzen und zum tanzen zu bringen.
Interview: P. Groll / J. Gottschlich
11 Oct 1997
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Rote Armee Fraktion / RAF
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