# taz.de -- Harry Potter: Ein moderner Erziehungsroman | |
> Am Freitag werden Buchläden gestürmt und bange Fans erfahren, ob Harry | |
> Potter sterben muss. Vorab eine Gesamtwürdigung dieses | |
> Paralleluniversums. | |
Bild: Mann der Stunde: Er bringt Spielfutter, Fantasieanreger, Gut und Böse | |
Haben Sie schon einmal Kindern beim Harry-Potter-Spielen zugesehen? Sie | |
fuchteln mit ihren selbstgebastelten Zauberstäben und rufen sich | |
lateinische Flüche zu. Stupor! Expelliarmus! Avada Kedavra! Stundenlang. | |
Gleichermaßen fasziniert von der Fremdheit der Wörter und den strikten | |
Regeln ihrer Auswirkung. | |
Wie viele Erwachsene habe auch ich meine Verneinungsgeschichte mit Harry | |
Potter. Ich hätte die Bücher nie gelesen, denn ich habe eine tiefe | |
Abneigung gegen das Fantasygenre. Aber das erzwungene Vorlesen der Bände 1 | |
bis 5 hat seinen immer wieder kolportierten Effekt auch bei mir nicht | |
verfehlt: Man wird mitgerissen von den Figuren, von der Geschichte, und | |
fiebert der Fortsetzung entgegen. Band 6 war der einzige Moment, in dem ich | |
die zwischenzeitlich stabilisierte Lesefähigkeit meines Sohnes bedauert | |
habe. Er hat ihn allein gelesen. | |
Mit Eskapismus lässt sich diese Faszination ebenso wenig erklären wie mit | |
einer "Remythisierung", einer "ästhetischen Wiederverzauberung" (Norbert | |
Bolz) in unserer entzauberten, aufgeklärten Moderne. Solche Befunde sind | |
unbefriedigend. Sie übersehen, dass es sich bei den Romanen auch um ein | |
Paralleluniversum handelt, das unserem sehr ähnlich ist. Sind sie also | |
säkularer Religionsersatz oder Spiegel unserer Welt? Die Fragestellung | |
allein zeigt bereits, wie komplex diese Bücher sind. Eine Komplexität, die | |
sich dem allseits beschworenen Grundmuster des ewigen Kampfes zwischen Gut | |
und Böse widersetzt. Nach diesem Muster funktionieren Fantasygeschichten. | |
Aber eine Geschichte, in der es ebenso eine Menschen- wie eine Zaubererwelt | |
gibt, die wiederum in Gut und Böse gespalten ist, was aber keine strikte | |
Unterscheidung ist, da sie Gesinnungswandel ebenso wie Opportunismus | |
zulässt? "Harry Potter" sprengt das Fantasygenre. | |
Die Menschenwelt hat eine besondere Funktion in diesem Setting. Es ist wohl | |
allseits bekannt, dass selbige Muggel heißen - also konsequent aus der | |
Zaubererperspektive betrachtet werden. Damit ist klar, dass die | |
Zaubererwelt ein Außen kennt. Dieses Außen ist zentral, es garantiert die | |
Realität des Potter-Universums in mehrfacher Hinsicht. Zum einen existiert | |
dieses neben oder quasi inmitten unserer Muggelwelt - wie das Gleis 9 ¾ für | |
die Abfahrt des Hogwartsexpresses zwischen Gleis 9 und Gleis 10 liegt. Es | |
könnte also tatsächlich existieren. Der Muggelleser muss seine Lebenswelt | |
nicht transzendieren, um an dieses "Jenseits" zu glauben. Aber nicht nur | |
für den Leser, auch für die Figuren ist der Bezug zu diesem Außen | |
entscheidend. An ihm scheiden sich die guten von den bösen Zauberern - also | |
jene, die für einen Multikulturalismus oder gar eine Vermischung mit den | |
Muggeln stehen, und jene, die eine strikte Trennung, die ethnische Reinheit | |
der Zaubererwelt fordern; die reinen Fantasy-Adepten innerhalb des Buches | |
gewissermaßen. | |
Die Zaubererrealität ist also nicht das ganz Andere der Menschenwelt. Sie | |
ist gegenüber den Muggeln nur etwas verschoben. Die zwei Welten sind | |
zugleich ganz anders und sehr gleich. So mobilisiert die Realitätsnähe des | |
Potter-Universums gleichzeitig Identifikation und Fantasie. | |
Worin aber besteht diese Realität? Bei J. K. Rowlings haben wir es mit der | |
Komplexität einer Fantasiewelt zu tun, in der Magier gleichzeitig auch eine | |
Verwaltung haben - das Unmagischste schlechthin. Neben dem Ministerium hat | |
diese paradoxe Welt noch eine zweite wesentliche Institution: Hogwarts, | |
eine Schule. Mit der Verwaltungseinheit Ministerium und der | |
Reproduktionseinheit Schule und deren jeweiligen Amtsinhabern, dem Minister | |
und dem Schulleiter, ist diese magische Welt alles andere als irrational. | |
Sie präsentiert sich vielmehr als eine Mischung von bürokratischer und | |
traditionaler Herrschaft, eine Verbindung von rationaler, regelgeleiteter | |
Macht mit einem Alltagsglauben an die Traditionen. So sieht bei Harry | |
Potter die Seite des Guten aus. (Wobei selbst das nicht eindeutig ist, denn | |
das Ministerium ist schon mal gekippt und hat sich in eine totalitäre | |
Bürokratie verwandelt.) Ihr Gegenspieler, Lord Voldemort, repräsentiert die | |
dritte Form der Herrschaft, die regelfremde, die charismatische Macht. | |
Damit spielen die Bücher im Spannungsfeld der drei klassischen | |
Herrschaftsformen, die in der Soziologie von Max Weber auf den Begriff | |
gebracht wurden. Damit sind wir auch beim zentralen Thema: dem Charisma, | |
selbst wenn dieses Wort kein einziges Mal auftaucht. Die Bücher, könnte man | |
sagen, schildern den Konflikt zwischen charismatischer und | |
traditional-bürokratischer Macht. Wobei dieser Konflikt selbst wiederum | |
nicht reduzierbar ist auf die Konfrontation zwischen Institution und | |
Charisma. Vielmehr haben die Figuren, die diesen Institutionen vorstehen - | |
allen voran der Schulleiter Albus Dumbledore -, nicht weniger Charisma als | |
deren Herausforderer. Nur hat Dumbledore seine charismatischen Fähigkeiten | |
in den Dienst der Ordnung gestellt, während Voldemort eben diese nützt, um | |
die Macht (zurück) zu erobern. So dass Charisma sowohl das zentrale Moment | |
ist, das die magische Ordnung stützt, als auch das, was sie bedroht. | |
Dumbledore ist nicht der "Herrscher der weißmagischen Welt", wie der | |
Potter-Kenner Michael Maar schreibt, er ist in erster Linie deren | |
Amtsinhaber. Dies ist genau jene entscheidende Differenz, um die die | |
tödliche Auseinandersetzung geführt wird: Steht das Charisma innerhalb der | |
Ordnung - oder außerhalb. | |
Dieser Kampf hat noch ein Spezifikum, das sich mit zunehmender Bedeutung | |
durch alle Bände zieht. Harrys Siege über Voldemort gründen letztlich auf | |
der magischen Kraft von Liebe, Treue und Freundschaft. Dieser Umstand | |
verliert seine Plattheit, wenn man ihn mit dem zusammen liest, wogegen er | |
steht: Der nahezu tote Lord kehrt als Parasit an anderen Lebewesen bzw. in | |
wechselnden Partialobjekten, den sogenannten Horkruxen, wieder. Das sind | |
Dinge, magische Behälter, in denen er noch zu Lebzeiten seine Seele bzw. | |
Teile seiner Seele aufbewahrt hat. Das Böse besteht (auch) in einer | |
Parzellierung der Seele, in der Auflösung der Einheit der Person und des | |
Körpers also, die ein wesentliches Thema der Bücher ist. Während das Gute | |
(auch) darin besteht, an der Einheit der Person, der Identität, ebenso wie | |
an der historischen - etwa der familiären - Kontinuität festzuhalten. | |
In dieser Konfrontation erhält das Liebe-Treue-Freundschaft-Motiv eine ganz | |
andere Konnotation: Es wird zu einer Stütze der traditionalen Ordnung, die | |
wesentlich durch Kontinuität zusammengehalten wird. Dabei sollte man nicht | |
vergessen, dass bereits bei Max Weber die traditionale Herrschaft meist aus | |
der Versachlichung, der Veralltäglichung des Charismas, aus seiner | |
Institutionalisierung also hervorgeht. | |
In diese Ambivalenz ist auch Hogwarts, die Zaubereischule, eingeschrieben. | |
Sie ist keine gnostische Sekte, die geheime Wahrheiten weitergibt, sondern | |
eben eine Schule, die Können lehrt. Jeder weiß, der Fluch "Expelliarmus!" | |
dient der Entwaffnung des Gegners. Aber das Wissen allein reicht nicht aus. | |
Das ist genau jene Grenze der Zauberei, die Rowlings für so relevant hält. | |
Man muss den Zauber also können. Worin aber besteht dieses Können? In viel | |
historischem Wissen, wie es die eifrige Hermine Granger verkörpert, aber in | |
letzter Instanz in den magischen Fähigkeiten, der Begabung, die nichts | |
anderes als eben Charisma ist. Damit überlebt man sogar den Todesfluch. | |
Eine Schule, die solch Außeralltägliches lehrt, steckt in einer ausweglosen | |
Aporie (darin den Muggelschulen letztlich verwandt). Zum einen soll sie | |
durchschnittliche, normale Zauberer hervorbringen, die den Zaubereralltag - | |
denn auch einen solchen gibt es in der paradoxen Potter-Welt - meistern | |
sollen. Auf der anderen Seite bedarf sie der Ausnahmefiguren für die | |
existenziellen Kämpfe ebendort. Denn Hogwarts ist nicht nur Vorbereitung | |
fürs Zaubererleben, sondern auch der Schauplatz, an dem deren Konflikte | |
ausgetragen werden. | |
In diesem Sinne muss sie eine besondere Erziehung leisten. Sie muss sowohl | |
ein Wissen vermitteln, das erlernt und eingeprägt werden kann, wie auch | |
jene Fähigkeiten, die nur "erweckt und erprobt" werden können, also das, | |
was Max Weber als "charismatische Erziehung" bezeichnet hat. Was das | |
bedeutet, hat er aber nicht dazu gesagt. Bei Harry Potter sehen wir es | |
deutlich: Die magischen, die charismatischen Fähigkeiten, die bei Harry | |
geweckt werden, sind immer auch rebellische Energien - vielleicht sind sie | |
sogar nichts anderes als das. Das zeigt sich nicht zuletzt an der | |
dramaturgisch genialen Nähe von Harry und Lord Voldemort, an der | |
Verwandtschaft ihrer magischen Fähigkeiten. Das entscheidende Moment dabei | |
ist, die geweckten Energien zu kanalisieren, das Charisma zu integrieren. | |
In der Geschichte werden die Weichen hiefür bereits ganz am Anfang | |
gestellt, als Harry bei der Aufnahme in die Zaubererschule in jenem Haus in | |
Hogwarts landet, das die Guten beherbergt, und nicht in jenem, in dem | |
Voldemort früher Zögling war. Bei Rowlings erfahren wir sehr anschaulich, | |
dass die Differenz zwischen Gut und Böse keine substanzielle, sondern nur | |
eine der Zielrichtung ist. Richten sich dieselben Kräfte gegen die Ordnung | |
oder stützen sie diese? Das Böse ist die Kraft, die für die erste Option | |
votiert hat, das Gute ist die Kraft, die sich integriert. Harry Potter - | |
ein moderner Erziehungsroman. | |
Damit erfahren wir aber auch, wie labil unsere politische Ordnung ist. Denn | |
sie beruht auf einem unlösbaren Widerspruch: Die Institutionalisierung, die | |
Rationalisierung der Macht allein reichen nicht aus. Ein politisches System | |
braucht immer wieder eine Zufuhr von charismatischen Energien, die es | |
gleichzeitig auch bedrohen. Es ist also gezwungen, den rebellischen Geist | |
immer wieder zu erwecken und gleichzeitig durch Selbstverpflichtung zu | |
zähmen. Ein heikles und unabschließbares Unterfangen. | |
20 Jul 2007 | |
## AUTOREN | |
Isolde Charim | |
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