# taz.de -- Pfadfinder: Allzeit bereit, immer bereit! | |
> Vor 100 Jahren rief ein Brite die Pfadfinder ins Leben. Die deutsche | |
> Jugendbewegung war schneller - und entwickelte eine ganz eigene Dynamik. | |
Bild: Mit Kreditkarten muss hier keiner kommen: Pfadfinderlager | |
"Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein", nölte Tocotronic-Sänger Dirk | |
von Lotzow vor Jahren. Tatsächlich? Die hippen Jungs aus Hamburg in kurzen | |
Hosen, die Klampfe geschultert und dann auf "Fahrt" in die Lüneburger Heide | |
zum Volksliedersingen? Unvorstellbar. Doch um das Jahr 1900 und folgend | |
wären sie mit ihrem Habitus aus deutscher Innerlichkeit und | |
bildungsbürgerlicher Intellektualität sowie dem Bewusstsein, einer | |
kulturell-sozialen Avantgarde anzugehören, in der Lüneburger Heide genau | |
richtig aufgestellt gewesen, und das bis hin zur Frisur: Die Wandervögel | |
waren mal so etwas wie die absoluten Hipster der deutschen Jugend, die als | |
eigener Lebensabschnitt erstmals in dieser Zeit gedacht und gelebt wurde: | |
"Jugend" als Moratorium, als "Freiraum". Was wie bei der Urtruppe des | |
großstädtischen "Steglitzer Wandervogels" zunächst als freigeistiges | |
Adoleszenzvehikel (bildungs)bürgerlicher Jugend funktionierte - zurück zur | |
Natur! -, weitete sich im späteren Verlauf auf alle sozialen Schichten aus, | |
allerdings zum Preis der Vereinnahmung durch sämtliche nur denkbaren | |
Institutionen: Kirchen, Parteien, Gewerkschaften - nicht mehr die originäre | |
Bewegung, sondern die "Jugendpflege" stand nun im Vordergrund, und zwar | |
unter der Fragestellung: Wie kann es uns gelingen, die Jugendlichen am | |
besten in unserem Sinne zu beeinflussen? | |
Die Botschaft der Bibel oder das Parteiprogramm lässt sich eben besser | |
eintrichtern, wenn man zugleich eine Portion Abenteuer und Lagerfeuer | |
verabreicht - was im späteren Verlauf des Jahrhunderts sowohl von der | |
NSDAP, die sämtliche Jugendbewegungen unter dem Dach der Hitlerjugend | |
(zwangs)vereinigte, als auch von der SED begriffen wurde, die wiederum nach | |
1945 mit der FDJ an die Tradition der Arbeiterjugendbewegung aus den 20er- | |
und 30er-Jahren anknüpfte. Mit dem Ergebnis, dass die letzten von | |
Blauhemden geschlagenen Trommeln erst 1989 verstummten. Und das, obwohl mit | |
ihren Trägern schon sehr lange keine "neue Zeit" mehr zog, im Gegenteil. | |
Der oberste Pfadfinder - auch Erich Honecker war dereinst | |
arbeiterjugendbewegt und später FDJ-Vorsitzender - war schon längst dem Tod | |
geweiht. Und die Jugend der DDR wollte schon lange nicht mehr "Sag mir, wo | |
du stehst" singen, sondern westlich-dekadente Rock- und Popmusik in der | |
Disco hören, anstatt im Wald zu campieren. | |
Etwas später dran, dafür jedoch unter anderen Vorzeichen, war der Brite | |
Robert Stephenson Smyth Baden-Powell, der nach einem dem kolonialen | |
Militäreinsatz gewidmeten Leben im Jahr 1907 endlich die Zeit fand, seine | |
lang gehegte Idee einer Jugendpfadfindertruppe umzusetzen. Vom 25. Juli bis | |
zum 9. August gleichen Jahres veranstaltete er das erste Jugendzeltlager | |
mit 22 Jungen aus allen sozialen Schichten. Bereits 1908 erschien sein Buch | |
"Scouting for Boys", in dem er erstmals den bis heute populären | |
pädagogischen Lehrgrundsatz learning by doing formulierte. Noch auf dem | |
Totenbett formulierte der greise Jugendheld die bis heute wichtigsten | |
Grundsätze der internationalen Pfadfinderbewegung: "Versucht, die Welt ein | |
bisschen besser zurückzulassen, als ihr sie vorgefunden habt", und: "Der | |
wahre Weg, um Glück zu erlangen, besteht darin, andere Menschen glücklich | |
zu machen." | |
Jeden Tag eine gute Tat - eine angelsächsische Mixtur aus Idealismus und | |
Commonsense. Allerdings standen die Camps des alten Haudegens Baden-Powell, | |
der seine Erfahrungen unter anderem in Indien, Afghanistan und Südafrika | |
gesammelt hatte, von Anfang an unter paramilitärischen Vorzeichen: Die | |
jungen "Spurenleser" wurden in kleinen "Einheiten" formiert und in | |
Uniformen gesteckt. Zum einen waren sie so in der Tat der Logik der | |
sozialen Schichten entzogen, zum anderen wurden sie so auf das | |
Hervorragendste auf den späteren Militärdienst vorbereitet. | |
Die berühmtesten boyscouts der Welt, die Disney-Protagonisten Tick, Trick | |
und Track (englisch Huey, Dewey and Louie) vom Fähnlein Fieselschweif, | |
bekannt aus den Donald Duck-Heften, sind denn auch für den geneigten Leser | |
niemals individuell unterscheidbar, sondern gehen stets in ihrer | |
Kleingruppe auf, die sich mit Hilfe des "Schlauen Buchs" durchs Leben | |
schlägt: stets smart und im Vergleich zu ihrem chaotischen Onkel Donald | |
fast schon altklug. Von wem, wann und wo die Geschwister gezeugt wurden, | |
erfährt man übrigens nicht. | |
Die deutsche Jugendbewegung hatte zumindest in Fragen der Sexualität doch | |
etwas mehr zu bieten: Innerhalb des Wandervogels und später der Bündischen | |
Jugend experimentierten Jungmann und Jungfrau mit Freikörperkultur, freier | |
Liebe und gleichgeschlechtlichem Sex - Letzterer gerne auch zwischen | |
älterem Jugendführer und geführten Epheben. Die letzten noch existierenden | |
Reste der Bündischen Jugend machen denn auch heute vor allem auf sich | |
aufmerksam, wenn es mal wieder einen Missbrauchsfall zu beklagen gibt. | |
Damals lief das Ganze unter dem Arbeitstitel pädagogischer Eros, was später | |
unter der geistigen Anleitung des etwas verdrehten Denkers und Theoretikers | |
der Jugendbewegung Hans Blüher gleich zu einem kompletten, männerbündischen | |
Staatskonzept weitergedreht wurde - bis es von Heinrich Himmler persönlich | |
abgewürgt wurde: Männerbund ja, Homosexualität nein. | |
Aus britischer Sicht der typische Wahnsinn der crazy Krauts, doch | |
anschlussfähig zum Beispiel für den romantischen, modernitätskritischen | |
Schriftsteller D. H. Lawrence, der seine Lady Chatterley die sexuelle | |
Befreiung mit Dresdener Wandervögeln erfahren lies. Im Wald. Doch auch die | |
avantgardistischen Strömungen der deutschen Jugendbewegung befanden sich | |
stets in einer zum Teil befruchtenden, zum Teil vereinnahmenden | |
Auseinandersetzung mit der damals sich entwickelnden Reformpädagogik - die | |
trotz allem noch immer eine Pädagogik war. | |
Die deutsche Jugendbewegung hat mehrere Generationen von Deutschen | |
nachhaltig geprägt, insbesondere die Eliten der bundesrepublikanischen | |
Nachkriegsgesellschaft - auch wenn sich kaum noch jemand an den wandernden | |
Bundespräsidenten Karl Carstens erinnern kann. Und wenn Rentneraktivistin | |
Trude Unruh von den Grauen Panthern sich heute für die Kulturleistung des | |
Volksmusikduos Marianne und Michael stark macht, dann liegt das daran, dass | |
die heute alten Menschen noch eine Jugend erlebt haben, in der Volksmusik | |
schwer angesagt war. | |
Der Geist der Jugendbewegung ist jedoch schon lange tot. Allerspätestens in | |
den 60ern erklang überall jene Musik, die von den Nazis als | |
"kulturbolschewistische Negermusik" und in der DDR als "westlich-dekadent" | |
verschimpft wurde: Swing, Jazz, Rock, später Pop. Die passt so gar nicht | |
zum Wandern - was auch die Kids von heute irgendwann merken, nachdem sie | |
von ihren Eltern etwa bei der Pfadfinderschaft St. Georg angemeldet worden | |
sind. Prompt treten sie wieder aus und treffen sich lieber mit ihren | |
Altersgenossen an der Tankstelle. | |
Übrig geblieben ist jedoch das Konzept Jugend, das heute den ganzen | |
Planeten beherrscht. Die Formationsprozesse sind längst anderen, | |
hauptsächlich kapitalistisch-konsumistischen Grundsätzen unterworfen: Man | |
trägt, hört und isst, was man ist. Mit kurzen Hosen, Gitarre und Erbswurst | |
zum Abkochen ist es jedoch nicht mehr getan, man braucht im Prinzip eine | |
Kreditkarte. | |
"Teil einer Bewegung" möchte die Jugend von heute eben doch ganz gerne | |
sein, aber ohne eine Verpflichtung einzugehen, die über den Besuch | |
bestimmter Konzerte und den Ankauf gewisser Kleidungstückte hinausgeht. Die | |
Baden-Powells dieser Welt können derweil noch so schön auf der Flöte | |
spielen - im Großen und Ganzen ziehen die kleinen Ratten lieber ihr | |
individuelles Ding durch. Beruhigend. | |
28 Jul 2007 | |
## AUTOREN | |
Martin Reichert | |
Martin Reichert | |
## TAGS | |
Transgender | |
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