| # taz.de -- Kalabrien: Nebenan wird geschossen | |
| > Muss man sich nach dem Mord an sechs Italienern in Duisburg auch in | |
| > Deutschland an ein Leben in Angst vor der Mafia gewöhnen? Ein Blick nach | |
| > Italien zeigt: Das geht. Und es ist gar nicht so schwer. | |
| Bild: Aber hier Leben? Kalabrische Küste im Sonnenschein. | |
| Rom taz "Nie würde ich meine Kinder in Rom leben lassen. Die Stadt ist doch | |
| viel zu gefährlich!" Die Hotelbesitzerin aus Caulonia, einem Dorf ganz tief | |
| unten in Kalabrien, hatte keine Zweifel in dem vor gar nicht langer Zeit | |
| geführten Gespräch. Und ihre Tochter, Mitte 20, gab sich genauso überzeugt. | |
| "Einmal war ich in Rom auf Besuch. Gleich am ersten Tag hat mir ein Dieb im | |
| Bus das Portemonnaie gestohlen!" | |
| Caulonia dagegen - da fühle sie sich einfach sicher. Caulonia liegt nur | |
| einen Steinwurf weg von der Kleinstadt Locri, in ganz Italien berühmt und | |
| berüchtigt als eine der Hochburgen der kalabresischen Mafia; jedes Dorf in | |
| der Umgegend zählt mindestens einen, wenn nicht zwei Clans der ndrangheta, | |
| wie die Mafia an der Stiefelspitze heißt. | |
| Und die hält sich nicht mit Taschendiebstahl auf. Man muss kein Ortskenner | |
| sein, man muss keine umständlichen Recherchen unter Einheimischen geführt | |
| haben, um sich davon zu überzeugen; ein kurzer Spaziergang durch Caulonia | |
| reicht. Alle paar Meter das gleiche Bild: rußgeschwärzte, verbogene | |
| Rollgitter vor einer Bäckerei, einem Blumengeschäft, einer Bar. Mit Bomben | |
| sollte da der Zahlungsbereitschaft der Eigentümer nachgeholfen werden, die | |
| das Schutzgeld nicht oder an den falschen Clan entrichtet hatten. | |
| Doch von Schutzgelderpressungen, beteuert die Hotelbesitzerin, hat sie | |
| "seit Jahren nichts mehr gehört", und wie das mit den verbeulten | |
| Rollgittern kommt, kann sie sich nicht so recht erklären. Ja gewiss, | |
| gesteht sie dann zu, in Locri und Umgebung wird immer mal wieder einer | |
| erschossen, sie aber fühle sich "hier völlig sicher", hier könne sie auch | |
| nachts auf die Straße gehen, ohne vor Kriminellen Angst zu haben. | |
| Das Sicherheitsgefühl mag daher rühren, dass hier alle, wirklich alle die | |
| Namen der Bosse, der Don Ciccios und Don Peppinos kennen, dass alle meist | |
| wissen, warum im jeweiligen Falle geschossen wurde - und deshalb glauben, | |
| die "übliche" Gewalt sei für sie kalkulierbar, besser jedenfalls als der | |
| üble Anschlag eines fingerfertigen Taschendiebs in einem römischen Bus. Die | |
| beiden Familien, die einander seit Jahren in ihrem Dorf San Luca - und | |
| jetzt auch in Duisburg - bekriegen, müssen den Ortsansässigen in Kalabrien | |
| nicht vorgestellt werden; wenn sie aufeinander schießen, ist das "ihre | |
| Sache". | |
| Aber selbst in Kalabrien, selbst im Sizilien der Cosa Nostra, im Neapel der | |
| Camorra ist es heutzutage absolut nicht üblich, sechs Leute auf einen | |
| Streich zu erschießen. Das war anders in den großen Mafiakriegen der | |
| Achtzigerjahre: Im Zeitraum 1981-1990 starben in Neapel und Umgebung | |
| jährlich 260 Menschen, weil zwei Camorra-Gruppierungen einen wahren Krieg | |
| um die Vorherrschaft austrugen, und in Sizilien betrug die jährliche | |
| Todesrate gar 290; dort schoss sich in jenen Jahren der legendäre Clan der | |
| Corleonesi um Totò Riina und Bernardo Provenzano an die Macht. In Kalabrien | |
| dagegen wurden seinerzeit "nur" 180 Leichen jährlich gezählt. Wo immer aber | |
| auch: Nur in seltensten Ausnahmen griffen die Mafiosi zu | |
| Massenhinrichtungen. Lieber ließen zum Beispiel die Sizilianer die Leichen | |
| ihrer Konkurrenten einfach verschwinden, mit Säure aufgelöst in der | |
| Badewanne oder einbetoniert in einen Brückenpfeiler. | |
| Seit rund 15 Jahren ist fast überall Ruhe, in Palermo genauso wie in Reggio | |
| Calabria oder Locri. "Pax Mafiosa" heißt das Ganze, die großen Clans haben | |
| ihre Claims abgesteckt, die Morde finden eher selten statt, und Prominente | |
| wurden in Ruhe gelassen, mit einer einzigen Ausnahme: In Locri erschossen | |
| 'ndrangheta-Mörder im Oktober 2005 einen Regionalpolitiker aus dem | |
| Prodi-Lager, der ihren kriminellen Interessen im lokalen Gesundheitsdienst | |
| - dort verdient die Mafia heute viel Geld - in die Quere gekommen war. | |
| Die einzige Stadt, in der die Gewalt in größerem Stil immer wieder | |
| aufflammt, ist zurzeit Neapel. Dort engagieren die Camorra-Clans blutjunge, | |
| nicht mal 20-jährige Jungs, die erst eine Linie Kokain schnupfen und dann | |
| in den Krieg um einen der größten Drogenmärkte Europas ziehen. Bei den | |
| Ballereien auf Neapels Straßen trifft es alle paar Monate auch Unschuldige, | |
| Unbeteiligte, die das Pech hatten, als Passanten im Schussfeld | |
| herumzustehen. Drei Tage lang gibt es dann Schlagzeilen in Italiens Presse, | |
| doch neben dem Entsetzen steht vor Ort auch die Abstumpfung, die Gewöhnung | |
| an die Gewalt. Schockiert sind höchstens die Auswärtigen, wie jener | |
| Mitarbeiter einer Umweltorganisation, der auf die Straße stürzte, als er | |
| Schüsse hörte. "Ach, da war nichts", kriegte er von einem 12-jährigen Buben | |
| zu hören, "dem haben sie bloß in den Oberschenkel geschossen." | |
| 15 Aug 2007 | |
| ## AUTOREN | |
| Michael Braun | |
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| Italien | |
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