# taz.de -- Filmfestspiele Venedig: Ang Lee will es genau wissen | |
> Über den zweiten Löwen für den virtuosen Regisseur der Gefühle, Ang Lee, | |
> kann man sich freuen, ansonsten aber blieb das Festival blass. | |
Bild: Regisseur Ang Lee mit Trophäe. Ein Glanz immerhin. | |
Hongkong Ende der 30er-Jahre. China und Japan führen Krieg, die Kronkolonie | |
steht im Begriff, in japanische Hände zu fallen. Im Wohnzimmer eines | |
weitläufigen Appartments sitzt die Studentin Wang Chia-Chih (Tang Wei), | |
neben ihr eine Kommilitonin. Im Türrahmen und im Nebenzimmer stehen junge | |
Männer. Es sind Studenten, patriotisch gesinnte junge Menschen. Im | |
militanten Kampf haben sie zwar wenig Erfahrung, doch umso entschiedener | |
verfolgen sie ihr Ziel: Sie wollen Yee, einen mächtigen Mann und | |
Kollaborateur der Japaner (Tony Leung), töten. | |
Um besser an ihn heranzukommen, soll Wang Chia-Chih dessen Geliebte werden. | |
Das haben sie eben beschlossen, doch nun sitzt Wang Chia-Chih auf dem Sofa, | |
und etwas Ungeklärtes liegt schwer in der Luft. Man merkt das an der Art | |
und Weise, wie die Blicke der Figuren den Raum queren oder wie Sätze halb | |
aus-, aber nicht zu Ende gesprochen werden. Es ist die Frage: Weiß Wang | |
Chia-Chih denn überhaupt, wie es ist, mit einem Mann zu schlafen? Wie das | |
geht: eine Geliebte zu sein? | |
Sie weiß es nicht, und deshalb wird einer der Studenten - der einzige, der | |
immerhin schon "Erfahrung mit Prostituierten" hat, - ausersehen, es ihr | |
beizubringen. Die Verhandlung darüber vollzieht sich in einer frappierenden | |
Mischung aus Verstocktheit, peinlichem Schweigen, halben Sätzen und | |
verschämten Blicken. Man ist zum Äußersten bereit, doch reden kann man | |
darüber nicht. | |
Es ist dies nur eine Szene in Ang Lees neuem Film "Se, Jie" ("Lust, | |
Caution"), und doch steht sie stellvertretend für das herausragende Talent | |
des Regisseurs, widersprüchliche Gefühlslagen in wenigen Einstellungen | |
darzulegen. Lees Kino erschließt in Andeutungen und genau beobachteten | |
Details einen ganzen Kosmos von inneren und äußeren Konflikten. In "Se, | |
Jie" ist es das Double Bind, in das Wang Chia-Chih gerät, je länger ihre | |
Affäre mit Yee währt. Nicht, dass sie sich in den Mann verliebte, dazu ist | |
er zu sehr als Feind markiert, dazu ist sie ihren politisch-patriotischen | |
Idealen zu treu. | |
Trotzdem kann sie ihre Distanz, kann sie den Panzer aus Verstellung und | |
Schauspiel nicht intakt halten. Wang Chia-Chih wird von dem, worauf sie | |
sich mit Yee einlässt, affiziert. "Wie eine Schlange kriecht er zu meinem | |
Herzen empor" sagt sie einmal, als sie einem Verbindungsoffizier zu | |
erklären versucht, was die sexuellen Begegnungen mit Yee in ihr auslösen. | |
Der Offizier will es so genau nicht wissen und ermahnt sie zum Schweigen. | |
Ang Lee aber will genau wissen, wie es ist, wenn eine junge Frau so kühl | |
und kalkuliert ist, ihr sexuelles und emotionales Erleben einem politischen | |
Ideal unterzuordnen, aber nicht kühl genug, um die Kontrolle zu bewahren. | |
Er will genau wissen, wie dieser Kontrollverlust aussieht, und er findet | |
die Bilder dafür. Das macht die Virtuosität seines Kinos aus. | |
So nimmt es nicht wunder, wenn der aus Taiwan stammende, in den USA lebende | |
Lee nun zum zweiten Mal in dichter Folge bei der Filmbiennale von Venedig | |
einen Goldenen Löwen erhält. 2005 bekam er die Auszeichnung für sein | |
Western-Melo "Brokeback Mountain", am Samstagabend für "Se, Jie". Die | |
Entscheidung der Jury, deren Vorsitz der chinesische Regisseur Zhang Yimou | |
innhehatte, ist auch deshalb nachvollziehbar, weil nur wenige | |
Wettbewerbsfilme der Mostra so uneingeschränkt überzeugten wie "Se, Jie". | |
Im vergangenen Jahr hatten Marco Müller, der Direktor des Festivals, und | |
sein Team eine glückliche Hand bei der Filmauswahl; in diesem war ihnen | |
weniger Fortune beschieden. 23 Filme und einige viel versprechende Namen | |
umfasste der Wettbewerb, viele Beiträge boten die Attraktionen gut | |
gemachten Hollywood-Kinos (etwa Paul Haggis "In the Valley of Elah" und | |
Tony Gilroys "Michael Clayton" ), einige stammten von Autorenfilmern, die | |
auf viele Arbeitsjahre und ein großes Oeuvre zurückblicken, von Eric | |
Rohmer, Ken Loach oder Youssef Chahine zum Beispiel. Das spricht nicht | |
zwangsläufig gegen die einzelnen Filme, ergibt aber in der Summe einen | |
gewissen Mangel an Abwechslung. | |
Am Ende begeisterten nur "Se, Jie" und Todd Haynes Anti-Biopic "Im not | |
there", ein entfesselter, multiperspektivischer Film über Vita und Werk Bob | |
Dylans. Letzterer erhielt den Spezialpreis der Jury ex aequo mit "La Grain | |
et le mulet" von Abdellatif Kechiche; Cate Blanchett, die Darstellerin | |
einer der sechs Dylan-Figuren in "Im not there", wurde für ihre Leistung | |
mit der Coppa Volpi ausgezeichnet. | |
Der zweitwichtigste Preis des Festivals, der Silberne Löwe, ging an | |
"Redacted" von Brian De Palma, mithin an den Film, der die kontroversesten | |
Diskussionen auslöste. "Redacted" spielt im Irak der Gegenwart und gibt | |
sich von Anfang an kämpferisch. Gleich in den ersten Einstellungen macht De | |
Palma deutlich, dass sein Film als Anti-Hollywood- und Anti-Illusions-Kino | |
auftritt. Keine Helden, keine bekannten Schauspieler, keine ästhetische | |
Veredelung des Kriegsgeschehens. Stattdessen kaputte Figuren und | |
Digitalvideo-Aufnahmen, eine improvisierte Anmutung, die Authentizität | |
suggeriert, deshalb aber nicht minder konstruiert ist. | |
"Redacted" kombiniert die wackligen Videotagebücher der Soldaten mit | |
gestellten journalistischen Recherchen, und er spielt die Trophäenbilder | |
ein, die auf beiden Seiten der Front angefertigt werden. Eine Enthauptung | |
und die Detonation einer Mine an einem US-Stützpunkt sind auf einer | |
fiktiven islamistischen Website zu sehen. Wie zwei US-amerikanische | |
Soldaten eine Schülerin vergewaltigen und töten, fängt die Digicam eines | |
dritten US-Soldaten ein, in fahrigen Bildern und dem rauen Look des | |
Nachtsichtgeräts. | |
Neu und interessant an "Redacted" ist, wie sehr sich der Film an den | |
Bildwelten des Internet orientiert. Er geht der Frage nach, wie das Netz | |
vom Fernsehen die Rolle übernommen hat, unsere Vorstellungen vom Krieg zu | |
prägen. Schließlich war es das Netz, in dem zuerst, als Trophäen, die | |
Bilder aus Abu Ghraib zirkulierten; schließlich ist es das Netz, in dem die | |
Bilder wuchern, und zu allerlei Zwecken verwendet werden - zur Propaganda | |
genauso wie zur Selbsttherapie. | |
Doch diese Fülle wird eingehegt, weil De Palma in das disparate Material | |
eine recht einfache narrative Schneise schlägt. Immer wieder betont er die | |
Arroganz und die Ignoranz der US-amerikanischen Besatzungstruppen. Weder an | |
den Checkpoints noch bei Hausdurchsuchungen wissen sie, was sie tun, und | |
bevor sie sich schlaumachen, schießen sie lieber. Dies wird weniger als | |
strukturelles, dem Krieg inhärentes Problem erfasst denn als eine Frage von | |
Sadismus. | |
Manchmal hat "Redacted" etwas geradezu obszön Schlichtes, so dicht bewegt | |
sich De Palma am Exploitation-Kino. Am Ende scheint der Regisseur denn auch | |
der Erforschung der Netz-Bilderwelten müde; er blendet Pressefotos ein, die | |
verletzte und tote Zivilisten abbilden, vor allem tote Kinder. Hier ist ein | |
agitatorischer Furor im Spiel, der jede differenzierte Frage unterbinden | |
möchte. Aber: Warum sollte man nun ausgerechnet diesen Bildern trauen? | |
Warum stellt der Film ihren Wahrheitsgehalt nicht zur Debatte? Und warum | |
schickt De Palma zunächst so viele Bilderstränge ins Rennen, um sich am | |
Ende doch auf den kräftigen emotionalen Effekt, den Aufnahmen entstellter | |
Körper auslösen, zurückzuziehen? | |
So liegt denn das größte Verdienst des Filmes weniger in ihm selbst als in | |
seiner Fähigkeit, leidenschaftliche Diskussionen über angemessene Formen | |
der Kriegsdarstellung zu entfachen. | |
Wie es unterdessen mit der Mostra internazionale darte cinematografica | |
weitergeht, ist offen. Es war das vierte Festival unter Marco Müllers | |
Leitung; sein Vertrag ist auf vier Jahre begrenzt. Viel wurde | |
dementsprechend darüber spekuliert, unter welchen Bedingungen Müller | |
weitermachen würde. Definitives weiß niemand zu sagen. Noch werde | |
verhandelt, heißt es am Samstag in der Pressestelle der Mostra - vermutlich | |
bis zum Dezember, bis Müllers Vertrag endgültig auslaufe. Dabei geht es in | |
den Verhandlungen nicht nur um die finanzielle Ausstattung des Festivals, | |
sondern auch um eine Erneuerung der Infrastruktur: Mehr und neuere Kinos | |
stünden dem Festival gut an. | |
10 Sep 2007 | |
## AUTOREN | |
Cristina Nord | |
Cristina Nord | |
## TAGS | |
Matt Damon | |
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