# taz.de -- Neue Studie: Deutschland ist ungerecht | |
> Nicht einmal 20 Prozent der Deutschen empfinden, dass es in unserem Land | |
> noch gerecht zugeht. Dabei sehen 85 Prozent Gerechtigkeit als ein hohes | |
> Gut an | |
Bild: Hohes Gut und billige Ware: SozialeGerechtigkeit. | |
Mit der Gerechtigkeit ist das so eine Sache. Sie lässt sich nicht messen, | |
man kann sie nur fühlen. | |
In Deutschland ist das mit der Gerechtigkeit eine ganz besondere Sache. Sie | |
wird von den meisten Menschen als ein hohes Gut betrachtet - nicht zuletzt | |
deswegen ist sie auch zu einer billigen Ware geworden. Jede Partei hat sie | |
mittlerweile im Angebot. Neuerdings nimmt sogar Guido Westerwelle das Wort | |
soziale "Gerechtigkeit" in den Mund, ohne sich übergeben zu müssen. | |
Es gilt also zu fragen, was jemand unter Gerechtigkeit versteht und wie er | |
sie herzustellen gedenkt. Sozialwissenschaftler der Humboldt-Universität in | |
Berlin haben dies getan. Im Auftrag der Zeitschrift GEO befragten sie 1019 | |
repräsentativ ausgewählte Bürger zu ihrem Gerechtigkeitsempfinden. Der | |
Anlass war die Jubiläumsausgabe zum 31. Geburtstag des Reportermagazins; | |
sie widmet sich in 20 Geschichten dem "Menschheitsthema Gerechtigkeit". | |
Die Wissenschaftler haben im Sommer 2007 ebenso aufschlussreiche wie | |
überraschende Erkenntnisse gewonnen, die sie gestern in Berlin der | |
Öffentlichkeit präsentierten. Zusammengefasst lauten sie so: Die Verteilung | |
von Einkommen und Chancen in Deutschland empfinden die meisten als | |
ungerecht. Das eigene Einkommen jedoch sowie Bildung und Vererbung werden | |
eher als gerecht bewertet. Und die allermeisten Deutschen erwarten vom | |
Staat, dass er für soziale Gerechtigkeit sorgt. | |
Die Studie selbst belegt, warum "Gerechtigkeit" alle anderen politischen | |
Fragen in den vergangenen Jahren Stück für Stück in den Hintergrund gerückt | |
hat: Es ist das bestimmende Thema in den privaten wie öffentlichen | |
Debatten. 85 Prozent aller Befragten geben an, "oft" oder "manchmal" | |
darüber zu diskutieren. Angela Merkel hat diese Lektion bereits im Herbst | |
2005 gelernt. Ihr Bundestagswahlkampf, den sie mit der Fackel der Freiheit | |
in der Hand führte, endete fast in einem Deasaster. | |
Weitgehend Einigkeit herrscht darüber, dass die Verhältnisse in Deutschland | |
ungerechter geworden sind. Nur knapp die Hälfte der Bürger glaubt heute | |
noch, dass Begabung und Intelligenz belohnt werden. Im Jahr 1991, als die | |
Studie des "International Social Justice Project" das erste Mal | |
durchgeführt wurde, waren deutlich mehr dieser Ansicht. Heute stimmen nur | |
noch 18 Prozent der Aussage zu, dass Einkommen und Vermögen gerecht | |
verteilt sind; in Osten sind es sogar nur 8 Prozent, im Westen 20 Prozent. | |
Solange es gleiche Chancen für alle gibt, ist es gerecht, wenn einige mehr | |
Geld und Vermögen haben als andere - diesem Satz stimmen 78 Prozent der | |
West- und 73 Prozent der Ostdeutschen zu. Ein Anreiz für Leistung besteht | |
nur dann, wenn die Unterschiede im Einkommen groß genug sind - dieser | |
Aussage befürworten immerhin 59 Prozent der West- und 55 Prozent der | |
Ostdeutschen zu. Gleichzeitig aber sind große Teile der Bevölkerung | |
überzeugt davon, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter | |
auseinander geht. Das empfinden sie als ungerecht. Ihrer Ansicht nach | |
sollten Manager weniger, ungelernte Arbeiter hingegen mehr verdienen. Das | |
geschätzte monatliche Durchschnittseinkommen von führenden Managern beträgt | |
125.000 Euro - als gerecht empfinden die Befragten rund 48.000 Euro. Ein | |
Hilfsarbeiter verdient rund 1.130 Euro monatlich - für gerecht hielten die | |
Befragten 1.431 Euro. | |
Klar wird in der Umfrage auch, dass sich die Deutschen einen Staat | |
wünschen, der mehr soziale Verantwortung übernimmt. Auffällig ist, dass | |
Ostdeutsche höhere Ansprüche an den Sozialstaat stellen als Westdeutsche. | |
Eine große Mehrheit (West: 75 Prozent; Ost: 88 Prozent) plädiert dafür, | |
dass "der Staat für alle, die arbeiten wollen, einen Arbeitsplatz zur | |
Verfügung stellen" sollte. Fast ebenso viele Menschen sind der Ansicht, die | |
Regierung müsse "für alle Menschen einen Mindestlebensstandard | |
garantieren". Der Aussage "Der Staat sollte eine Obergrenze für die | |
Einkommenshöhe festsetzen" stimmen im Westen 41 Prozent, im Osten immerhin | |
57 Prozent der Befragten zu. | |
Die gefühlte Ungerechtigkeit führt jedoch nicht etwa zu mehr Klarheit in | |
der Frage, was Gerechtigkeit genau ausmacht. So wie die Zustände heute | |
seien, wüssten sie gar nicht mehr, was eigentlich gerecht ist - das | |
behaupten immerhin 52 Prozent der West- und 65 Prozent der Ostdeutschen. | |
Fast die Hälfte der Befragten ist sogar der Überzeugung, es sei zwecklos, | |
sich über soziale Gerechtigkeit zu streiten. Die Verhältnisse würden sich | |
doch nicht ändern lassen. | |
Diese Verunsicherung macht auch drei Überraschungen der Studie | |
nachvollziehbar. Zum einen halten die meisten Leute ihr eigenes Einkommen | |
gar nicht für so ungerecht. Das gilt auch für Befragte, die wenig | |
verdienen. Die Erklärung der Sozialwissenschaftler: Wer nicht zu den besser | |
Gestellten gehört, neige dazu, soziale Unterschiede nicht so stark | |
wahrzunehmen. | |
Zum anderen wird die Ungleichheit durch Erbschaft akzeptiert. 84 Prozent | |
finden es gerecht, dass Eltern ihr Vermögen an ihre Kinder weitergeben, | |
auch wenn Kinder reicher Eltern dadurch bessere Chancen haben. Und etwas | |
mehr als die Hälfte der Deutschen plädiert sogar für die völlige | |
Abschaffung der Erbschaftssteuer. "Die Leute wollen ihr Erbe behalten", | |
sagt Bernd Wegener, Leiter der Forschungsgruppe. "Erben betrachten sie als | |
Familienangelegenheit." | |
Und schliesslich halten nur 34 Prozent der Befragten das deutsche | |
Bildungssystem für ungerecht - obwohl es im internationalen Vergleich als | |
extrem unfair dasteht. Auch hierfür haben die Wissenschaftler eine | |
einleuchtende Erklärung: Gerade Eltern aus der Mittelschicht sähen das | |
soziale Problem schon, sie hätten aber kein Interesse, es zu lösen. Gerade | |
ihre Kinder seien es doch, die von dem unsozialen Bildungssystem | |
profitierten. | |
Die Folgen dieser gefühlten Ungerechtigkeit? Politikverdrossenheit und | |
Fatalismus. Nur 31 Prozent der Befragten im Westen und 34 Prozent im Osten | |
geben an, ihr Verhalten in den vergangenen 12 Monaten geändert zu haben. | |
Die wenigsten Menschen sind bereit, selbst für mehr Gerechtigkeit zu | |
kämpfen. | |
14 Sep 2007 | |
## AUTOREN | |
Jens König | |
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Erbschaftsteuer | |
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