# taz.de -- Montagsinterview: "Kleine Filme sind legitim" | |
> Er hat das Forum des jungen Films bei der Berlinale und das erste | |
> kommunale Kino gegründet. Jetzt wird Ulrich Gregor 75. | |
Bild: Die Berliner Künstlerin Jutta Brückner | |
taz: Herr Gregor, Sie sollen einmal gesagt haben "Ich erlebe die Realität | |
eines Landes eher auf der Leinwand als in der Wirklichkeit". Hat sich was | |
an diesem Zustand verbessert? Immerhin sind sie nicht mehr als | |
"Weltreisender in Sachen Kino" auf der Suche nach Filmen für die Berlinale | |
unterwegs. | |
Ulrich Gregor: Viel unterwegs sind meine Frau und ich immer noch. Das | |
Amüsante dabei ist doch, die Reisen verlaufen meist nach einem bestimmten | |
Muster. Wir kommen am Flughafen an, fahren in einen Vorführraum, sind | |
zwischendurch in einem Hotel und kehren zum Flughafen zurück. Aber wenn Sie | |
wüssten, in welch kuriosen Gegenden Vorführräume manchmal angesiedelt sind | |
und welche Menschen dort leben und arbeiten und mit welchen Filmen man | |
konfrontiert wird, dann ist das mehr als nur ein durch die Leinwand | |
vermittelter Zugang zur Realität. | |
Sie düsen also noch immer herum und begeistern sich für unabhängige Filme? | |
Sie sind ein unverbesserlicher Kino-Junkie. | |
Ich empfinde das ja nicht als Mangel. Es ist meine Art, mich im Leben und | |
in der Realität zu bewegen. Durch die Filme haben sich Freundschaften in | |
aller Welt, auch über große Distanzen, entwickelt. | |
Sie können nicht loslassen, oder? | |
Nein? Ich habe die Leitung des Internationalen Forums junger Film auf der | |
Berlinale seit Jahren abgegeben, sitze dort nicht mehr in | |
Auswahlkommissionen oder mache Programme. Gut, ich betreue noch die ein | |
oder andere Reihe im Kino Arsenal. Und, wie gesagt, wir reisen noch immer | |
gerne, wie in der vorvergangenen Woche, da saß ich in der "Orrizzonti"-Jury | |
der Filmfestspiele von Venedig. Ich kann es mir, ehrlich gesagt, auch kaum | |
anders vorstellen. Wir haben so viel aufgebaut in Berlin mit unserer | |
filmischen Arbeit. Das prägt, und davon kann man sich nicht einfach | |
verabschieden. Eine Filmkritikerin schrieb einmal: Wir können nur hoffen, | |
dass die Helden nicht müde werden. | |
Sie sind Filmhistoriker, Publizist, Mitbegründer der "Freunde der deutschen | |
Kinemathek" und des Arsenals, des ersten deutschen Kommunalen Kinos. 1971 | |
haben Sie als Leiter des Forums das zweite große Standbein der Berlinale | |
geschaffen. Hatten Sie nie den Wunsch, selbst Filme zu drehen? | |
Ich komme ja ursprünglich aus der Filmkritik. Aber ich habe nie das | |
Schreiben über Film nur als eine Durchgangsstation auf dem Weg, selbst | |
Filme zu machen, betrachtet. Schreiben über Film hat seine eigene | |
Legitimität - auch wenn es genug Beispiele gibt, wo das Fach gewechselt | |
wurde, wie etwa von vielen Regisseuren der Nouvelle Vague. Es gibt doch auf | |
der Welt sehr viele Filmregisseure und täglich werden so viele Filme | |
gedreht. Warum sollte man nun noch einen hinzufügen? | |
Was war für Sie die Initialzündung, sich für das junge, unabhängige Kino zu | |
begeistern - und den Mainstream beiseite zu lassen? | |
Als ich in der Nachkriegszeit etwa die Filme des italienischen Neorealismus | |
mit den frühen Werken von Rossellini, de Sica oder Luchino Visconti sah, | |
war ich begeistert. Ebenso vom französischen Kino. Auch die | |
Wiederentdeckung von Chaplin war von großer Bedeutung. Nach der NS-Zeit | |
erschloss sich dies alles für mich als eine Sphäre großer Entdeckungen. | |
Welche Vorbilder machten den Filmkritiker aus Ihnen? | |
Fundamental wichtig war Siegfried Kracauers Werk "Von Caligari bis Hitler". | |
Hier wurde der klassische deutsche Film mit einem Blick auf die | |
Gesellschaft beschrieben. Das war eine Erleuchtung, lange Jahre wurde | |
dadurch bei der Zeitschrift Filmkritik unser Denken und Fühlen bestimmt. | |
Kracauer schrieb uns auch einmal aus den USA: "Halten Sie ihre Klingen | |
scharf!" Die andere Figur war Lotte Eisner und ihr Buch "Die dämonische | |
Leinwand". Meinen Anspruch, das Kino und den Film als künstlerische | |
Disziplin ernst zu nehmen, sah ich dort vorbereitet. | |
War es zugleich eine Absetzbewegung vom Kino der Nazis und dem der | |
50er-Jahre? | |
Natürlich. Es war klar, dass sowohl im Kino als auch in allen Bereichen der | |
Künste eine Auseinandersetzung mit unserer Geschichte stattfinden musste. | |
Was ist eigentlich ein so genannter unabhängiger Film? | |
Das ist schwer zu definieren. Für mich bedeutet unabhängiger Film eine | |
filmische Artikulationsweise, die sich nicht kommerziellen Erwägungen | |
unterwirft. Im Idealfall entsteht ein solcher Film nach eigenen | |
Bedürfnissen unabhängig von Auftraggebern oder Zensurinstanzen. Hinzu | |
kommen Filme, die neue Erzählweisen und filmische Strategien ausprobieren | |
und die ausgetretenen Pfade verlassen. Das lässt sich beim Dokumentarfilm | |
oder dem Experimentalfilm besonders gut aufzeigen. Da gibt es Regisseure, | |
die einfach keine Kompromisse eingehen. Solche Leute genießen meine | |
Sympathie. | |
Was sind das für Typen, die unabhängige Filme drehen? Sie müssen doch | |
Hunderte kennengelernt und in der Erinnerung haben. | |
Der amerikanische Regisseur Jim Jarmusch ist so ein Typ. Jarmusch hatten | |
wir 1981 im Forum mit "Permanent Vacation" und er war damals der Prototyp | |
des unabhängigen Filmemachers und ist es in gewisser Weise noch heute. Er | |
hat zwar eine Entwicklung durchgemacht und ist im System der industriellen | |
Filmproduktion angekommen. Trotzdem muss man sagen, dass er noch immer | |
seine eigene Handschrift hat, eine große Individualität besitzt und wenige | |
Kompromisse eingeht. Das Klima von Unabhängigkeit besteht in der Ablehnung | |
von Kompromissen, dem Nichtschielen nach Zuschauerzahlen und Geld. Die | |
Existenz dieses Kinos ist ungemein wichtig. Und für mich bedeutet es keine | |
Nische. | |
Aber das unabhängige Kino ist durch die wahnsinnige Kommerzialisierung | |
bedroht. Eine Dynamik wie die der Autorenfilmer der 70er- und 80er-Jahre | |
ist schwer erkennbar. | |
Das sehe ich genauso und das macht mir Sorge. Auf der anderen Seite | |
vertraue ich darauf, dass die Zuschauer sich nicht ganz von der | |
Mainstream-Maschinerie erfassen lassen und sich "Gehirnwäschen" | |
unterziehen. Ich denke, dass es immer ein Bedürfnis nach Filmen geben wird, | |
die eine andere Sprache sprechen, andere Erzählformen wählen und andere | |
Wege gehen. Wir haben es beim Forum ja erlebt: Filme, die im Kino-Alltag | |
wegen ihres hohen Schwierigkeitsgrades einen sehr schweren Stand hätten, | |
wurden hier gefeiert und intensiv diskutiert. Wenn man eine Struktur mit | |
einer bestimmten Ausrichtung schafft wie beim Forum, kann man der | |
Unabhängigkeit und neuen Themen zum Leben verhelfen. Kleine Filme sind | |
legitim, es ist nichts verloren. | |
War das auch Ihre Botschaft an die Berliner Filmfestspiele, als nach dem | |
Berlinale-Krach 1970 - Michael Verhoevens Anti-Vietnamkriegs-Film "O.K." | |
sollte aus dem Programm fliegen und das Festival wurde abgebrochen - 1971 | |
das Forum gegründet und als Spielstätte für avantgardistische Programme | |
installiert wurde? | |
Es musste damals was passieren, die Berlinale war nicht mehr zeitgemäß: | |
Unsere Botschaft war und ist bis dato, dass das Forum eine Bühne für den | |
unabhängigen Film darstellt und die Bedürfnisse eines Publikums ernst | |
nimmt, das nicht nur am Wettbewerb und dem Mainstream interessiert ist - | |
sondern an Entdeckungen und Filmen, die herausfordern, vielleicht auch | |
irritieren, die auf jeden Fall zur Diskussion zwingen. Dafür entstand die | |
Berlinale-Sektion Forum. Ich sage immer, wir wurden gerufen, die | |
"gefährlichen" und "schwierigen" Filmen zu zeigen. Wichtig war uns damals | |
aber auch, ein Filmarchiv anzulegen. Wir wollten, dass unsere Filme nicht | |
zehn wunderbare Tage gezeigt werden und dann verschwinden, sondern dass die | |
Kopien hier lagern, ausgewertet, verliehen oder in Programmen abgespielt | |
werden konnten. Heute umfasst unser Bestand ungefähr 8.000 Filmtitel. Das | |
ist ein Rückblick auf die Geschichte des Forums und des unabhängigen Films. | |
Manchmal kommen Leute aus dem Ausland und wollen Filme ausleihen, weil es | |
von diesen dort keine Kopien mehr gibt. | |
Lange Zeit sprach man vom Forum als Gegenberlinale, kritisierte es als | |
linkes filmpolitisches Instrument, es gab Streit. | |
Wir sahen uns von Anfang an in einer Konfrontation zur "Haupt-Berlinale". | |
Diese Konfrontation war aber nicht so gemeint, dass wir das Ruder | |
übernehmen und uns an Stelle des Festivals setzen wollten. Wir wollten ein | |
Teil der Berlinale sein, betrachteten diese sogar als wichtigen Spiegel der | |
internationalen Kinematographie, wenn auch mit beschränkter Bandbreite und | |
einseitig kommerzieller Ausrichtung. Aber zugleich wollten wir etwas ganz | |
anderes, Radikaleres und Gegensätzlicheres zur Berlinale sein - dies aber | |
mit gleichermaßen gesellschaftlich-politisch und ästhetisch-formal | |
wichtigen Beiträgen. Ein Kritiker hat das einmal auf die Formel gebracht, | |
dass wir zwischen Barrikade und Elfenbeinturm stünden. Es war darum kein | |
Wunder, dass das Forum da von Anfang an mit großem Misstrauen betrachtet | |
wurde, wir bekamen auch nur Verträge für ein Jahr. Trotzdem erhielten wir | |
immer mehr Zuspruch und Beifall für unser Konzept. Die Konkurrenzsituation | |
bestand sogar noch bis ins Jahr 2000, als das Forum längt arriviert war. | |
Der damalige Berlinale-Chef Moritz de Hadeln wollte uns immer Filme | |
wegschnappen für sein Wettbewerbsprogramm. Damals waren de Hadeln und ich | |
Gegner, Antipoden, heute versuchen wir das abzuschütteln. An der Rivalität | |
war aber damals gut, dass jeder sein eigenes Profil schärfen und | |
weiterentwickeln konnte. Wir mussten oft um unsere Existenz kämpfen, das | |
hat uns motiviert, hat uns Mut und Kraft gegeben. | |
Berlinale Besucher kennen die Szene: Ein Forum-Film ist zu Ende, ein | |
Holztisch wird aufs Podium gestellt, daran nehmen Sie und die Regisseure | |
Platz und diskutieren über den Beitrag. Fast alle, die heute Rang und Namen | |
haben, saßen dort mit Ihnen: Jean-Luc Godard, Jutta Brückner, Claude | |
Lanzmann, Aki Kaurismäki, Jarmusch und viele andere. Bis zuletzt, 2001, | |
haben Sie das gemacht, warum war Ihnen das so wichtig? | |
Ja, ja, der Tisch! Es war von Anfang an unsere Maxime: Über die Filme zu | |
reden und nachzudenken ist ebenso wichtig, wie sie zu zeigen. Natürlich war | |
es mir ein Anliegen, bei den Gesprächen nach dem Film in das Zentrum der | |
Filme vorzudringen, herauszubekommen, was ihr wesentlicher Kern ist. Es | |
ging aber auch darum: Die Filmemacher sollten mit dem Publikum ins Gespräch | |
kommen, deren Reaktionen kennenlernen, Fragen beantworten. Der Dialog | |
zwischen Zuschauer und denen, die Kino machen, war mir zentral wichtig. | |
16 Sep 2007 | |
## AUTOREN | |
Rolf Lautenschläger | |
## TAGS | |
80. Geburtstag | |
Kino | |
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