# taz.de -- Manifest eines Rappers: Den Computer "real" machen | |
> Musik heißt heute: tausende Downloads auf der Festplatte, ewig gleiche | |
> Hits im Radio. Der Rapper Textor fordert mehr Achtsamkeit von allen | |
> Beteiligten. | |
Bild: Textor: "17.000 Titel auf der Festplatte - wann soll man die hören?" | |
Freiheit und unbegrenzte Möglichkeiten sind die Versprechen der schönen | |
neuen digitalen Welt. Für keep it real hat sie keine Verwendung. Ganz im | |
Gegensatz zum Hiphop, den ich immer noch mache. Die Forderungen des Hiphop | |
und die der Welt im digitalen Zeitalter haben ein Problem, wenn sie | |
aufeinandertreffen. Meine Welt zum Beispiel hat sich zwar um viele | |
Möglichkeiten erweitert, sich dabei aber virtualisiert und nicht | |
realisiert. Mein Alltag spielt sich viel mehr als früher an nur einem Platz | |
ab: vor dem Bildschirm - egal, ob ich nun Musik oder Bürokram mache. Ich | |
tippe auf einer Tastatur, ich bewege die Maus, immer das Gleiche. Es ist | |
günstig und praktisch: Ich habe ein ganzes Studio in nur einer Kiste. Und | |
noch mehr. Mein Rechner spielt nicht nur Studio, er tut auch so, als sei er | |
eine Hammond-Orgel, ein Wurlitzer-Piano, ein Sinfonie-Orchester - und das | |
alles in erstaunlicher Qualität: Wer sich nur oberflächlich mit Sound | |
auseinandersetzt, kann das virtuelle Ergebnis kaum noch vom Original | |
unterscheiden. | |
Der Rechner kann also Realitäten erfinden: Ich kann so tun, als würde ich | |
eine virtuelle Harfe über einen virtuellen | |
Fender-Bassman-Gitarrenverstärker spielen, das Ganze mit einem emulierten | |
Neumann-Mikrofon aus den Vierzigerjahren aufnehmen und es dann so klingen | |
lassen, als hätte die Aufnahmesession in einer Waschmaschinentrommel | |
stattgefunden. Lustig ist das schon eine Weile, aber schnell fühlt es sich | |
auch an wie ein bis unter die Decke vollgestopftes Spielzimmer: Man | |
verliert die Lust, weil man ob der schieren Masse nichts mehr unterscheiden | |
kann. | |
Interessant wird es am Rechner immer dann, wenn man die Technik nicht im | |
Sinne das Handbuchs verwendet. Wenn man Audiomaterial bis an die Grenze der | |
Machbarkeit komprimiert und der Rechner anfängt, Fehler zu machen, zu | |
verzerren. Diese Fehler lassen sich einsetzen - ein altes Prinzip, das | |
schon bei verzerrten E-Gitarren funktioniert hat. Es wäre eine Aufgabe, | |
daraus eine neue Ästhetik zu entwickeln: Den Rechner wirklich "real" zu | |
machen - ihm mit der gleichen Mischung aus Liebe und Missachtung zu | |
begegnen, die immer nötig ist, wenn man die Oberhand über das Werkzeug | |
erlangen will. Ich will das mal "aktive Sorgfalt" nennen. | |
Da ein Rechner alles sein kann, ist es allerdings schwierig, ihn | |
"festzunageln". Musikinstrumente und ausformulierte musikalische Konzepte | |
waren da in ihren Aufgaben, in ihren Stärken und Schwächen klarer. Die neue | |
aktive Sorgfalt, die ich mir wünsche, erfordert wohl mehr Gedankenarbeit: | |
Es wird nicht reichen, statt einer Gitarre ein Apple-Laptop auf der Bühne | |
zu zerschlagen. Man muss sich die kraft-, zeit- und konzentrationsintensive | |
Mühe machen, sich so weit in den Rechner hineinzubohren, bis man über die | |
von den Programmierern vorgesehenen Grenzen hinausschießt. Oder man | |
entwickelt an anderen Instrumenten ein schlüssiges Konzept und nutzt den | |
Rechner dann nur mehr als Umsetzungshilfe. Man kann diese beiden Positionen | |
natürlich auch verschränken, so wie wir es bei Kinderzimmer Productions | |
machen: Mein Partner Sascha Klammt bevorzugt die erste Methode, ich die | |
zweite. | |
Auf Seiten der Musikhörer stellt sich die Situation ähnlich dar. Früher | |
musste man Musik suchen, kaufen oder auf Konzerte gehen - es ging gar nicht | |
anders. Konzerte bleiben ein Sonderfall, aber alles, was mit | |
Schallaufnahmen zu tun hat, hat sich genauso virtualisiert wie das | |
Musikmachen. Musste man früher von Flohmarkt zu Flohmarkt pilgern für diese | |
eine besondere Platte, ist man heute nur ein paar Klicks vom kostenfreien | |
Download entfernt. Warum sollte man es sich schwerer machen als nötig? | |
Warum Platten schleppen, wenn nicht aus reiner | |
Früher-war-alles-Besserwisserei? Da lädt man dann eben runter, nächtelang. | |
Aber die ganze unüberschaubare Masse verleidet einem schnell die Freude am | |
Hören. 17.000 Titel auf der Festplatte - wann soll man sich das alles | |
anhören? Musik, die Aufmerksamkeit braucht, um zu wirken, hat da nicht so | |
gute Karten. Dazu kommt noch, dass MP3s, nach wie vor das populärste | |
Dateiformat für Musik im Internet, bei einer geringen Bitrate unerträglich | |
klingen. Wenn man die Sachen dann noch über Laptoplautsprecher hört oder | |
einfach das Handy laut stellt, was hat man dann davon? Es quäkt einfach | |
etwas, mehr nicht. Ziemlich achtlos. | |
Die Folgen dieser Achtlosigkeit sind einem von der Plattenindustrie schon | |
oft genug vorgeheult worden. Leider muss ich sagen, dass da zur Abwechslung | |
nicht übertrieben wird. Wir bringen die Platten von Kinderzimmer | |
Productions heute nicht nur deshalb auf unserem eigenem Label raus, weil | |
wir unsere künstlerische Freiheit so lieben, sonder auch, weil heute auf | |
einer Party, zu der ein Label, ein Verlag, ein Vertrieb und ein Management | |
eingeladen sind, einfach nicht mehr genug Kuchen für jeden da ist. | |
Der Verkauf von CDs bringt nicht genug zum Leben und läuft zu gut zum | |
Sterben. Jeder spart und knappst, beutet sich und andere aus, um der fast | |
ausgequetschten Zitrone Musikindustrie noch ein paar Tropfen zu entlocken. | |
Was danach kommen soll, weiß niemand. Die viel beschworenen Downloads mögen | |
sich in der gesamten Masse für iTunes vielleicht mal lohnen, aber für einen | |
Künstler ergibt sich aus den gesammelten Cent-Einkünften nur ein besseres | |
Taschengeld. Das Live-Spielen bringt nur dann Geld, wenn man bekannt genug | |
ist, um mehr als 200 Leute am Abend zu ziehen. Dafür muss man Promotion | |
machen, die kostet Geld - wo soll das herkommen? Und die Gagen für | |
unbekanntere Bands sind in den letzten Jahren schlechter geworden, nicht | |
besser. Man ist als Musiker entweder arm oder reich, das Dazwischen ist | |
viel seltener als noch vor zehn Jahren. | |
Was tun? Musik ist für mich eine existenzielle Sache - ob ich davon leben | |
kann oder nicht, ändert daran nichts. Dann muss das Geld eben woanders | |
herkommen. Und es gibt immer noch eine Gruppe von Hörern, die sich | |
interessiert - die Musik verhallt also nicht ungehört. Diese Gruppe ist | |
aber zu klein, um einen ganzen Kulturzweig durch CD-Käufe und | |
Konzertbesuche über Wasser zu halten. Geld gibt es nur noch am Top-Ende des | |
Mainstreams und bei den "Eliten": Der klassische Musikbetrieb überlebt nur | |
durch Subventionen. Vielleicht kann man von denen ja mal was abbekommen. | |
Wer weiß, vielleicht will sich die Gesellschaft ja doch noch eine Kultur | |
zwischen Pop im RTL-Sinne und E-Musik im Geiste Beethovens leisten? | |
Es scheint noch nicht wirklich bemerkt zu werden, wie viel zumindest der | |
Mainstream genau von dieser Musik aus dem "Irgendwo-Dazwischen" profitiert | |
hat. Der Pop-Betrieb ist in seiner Funktionalität nicht in Gefahr. Es wird | |
immer etwas fürs Radio und Popsternchen zum Anhimmeln geben, aber wenn die | |
Substanz unter der "Spitze" wegbricht, wird aus Madonna ganz schnell | |
Britney Spears - und übrig bleibt schließlich irgendwas Zusammengecastetes. | |
Die Ideen für guten Pop werden nicht an der Spitze entwickelt. Wem das | |
nichts ausmacht, der hat sowieso kein Problem - der Markt wird | |
aussortieren, was nicht gebraucht wird. Das Radio hat es ja schon | |
vorgemacht: 350 Superhits ist die ganze Musik, die die meisten von uns je | |
brauchen werden - und die gibts ja schon, da braucht man die Beatles nicht | |
neu zu erfinden. | |
Wem als Hörer diese Aussicht nicht gefallen will, der wird seine bequeme | |
Position vorm Rechner verlassen müssen. Die Sache reguliert sich nicht von | |
selbst, und die Aufgabe lässt sich auch nicht delegieren. Man muss selbst | |
laufen, kaufen, hören, verstehen, wertschätzen - "keep it real" eben. Und | |
wird merken: Die größere Investition, auch in Zeit und Konzentration, macht | |
sich bezahlt. Wie das Ganze praktisch abläuft, wird sich weisen. | |
Entscheidend ist, ob diese Form von Kultur gewollt wird. Ob man ganz | |
urdeutsch Vereine gründet oder sich sonstwie engagiert - und sei es nur, | |
dass man der Sache echte Aufmerksamkeit widmet und die Musiker, die man | |
wirklich mag, auch unterstützt. Mir persönlich ist es egal, ob jemand meine | |
Platte kauft oder mir Geld überweist, weil er die Downloadversion | |
hundertmal gehört hat. Man muss den Dingen selbst Wert geben, es ist kein | |
Preisschild mehr drauf. | |
Die gute Nachricht ist: Die Qualität der gemachten Musik stimmt noch, es | |
gibt mehr als genug neue gute Musik, wenn man sich umsieht. Auch das will | |
allerdings getan sein. Die Produzenten tun alles in ihrer Macht stehende, | |
um auf sich hinzuweisen. Sie können nicht noch lauter nach Aufmerksamkeit | |
schreien, ohne aufdringlich und geschmacklos zu werden. Was für Musik in | |
Zukunft gehört wird, hängt viel mehr vom Konsumenten ab, als dem | |
wahrscheinlich bewusst ist. Er hat heute mehr Einfluss darauf als je zuvor. | |
Diese Chance kann er nutzen oder es bleiben lassen. Wie auch immer die | |
Entscheidung ausfällt: Alle, die professionell mit Musik verbunden sind, | |
werden sie akzeptieren müssen. | |
You can get with this / Or you can get with that / The choice is yours. | |
(Black Sheep) | |
21 Sep 2007 | |
## AUTOREN | |
Henrik V. Holtum | |
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