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# taz.de -- Postpunk-Spezialist Reynolds: "Punk war bloß der Urknall"
> 30 Jahre Punk? Gähn. Der britische Musikjournalist Simon Reynolds hat ein
> grandioses Buch über die bessere Musik geschrieben: Postpunk. Und über
> Do-it-yourself und feministische Höhenflüge.
Bild: "Mischung aus Todesfee und Bergziege" urteilt Reynolds über Johnny Rotte…
taz: Herr Reynolds, beginnen wir ketzerisch: Kann man wirklich sagen, Punk
war eine tolle Idee, aber die gute Musik, die kam erst danach?
Simon Reynolds: Ich liebe auch eine Menge Punkrock. Aber ich habe das
Gefühl - und das hatte ich bereits, als Punk passierte -, es mit einer
ziemlich limitierten Form von Musik zu tun zu haben. Punk war notwendig, um
den Bombast und die Selbstzufriedenheit des Siebzigerjahrerocks abzuwerfen.
Aber schon in dem Moment, als das passierte, war es für die Musik an der
Zeit, sich erneut auszudehnen, zu wachsen und sich zu entwickeln. Für mich
und für viele andere damals war die interessanteste Musik im Zusammenhang
mit Punk deswegen eben Postpunk, weil der sich in alle möglichen Richtungen
bewegte, die unterschiedlichsten Einflüsse in sich aufnahm - und trotzdem
an gewissen Punkprinzipien festhielt: an der Idee des Minimalistischen und
an der Weigerung, musikalisches Können prahlerisch auszustellen.
Gleichzeitig war Postpunk dabei jedoch dem Fortschritt und der Veränderung
verpflichtet. Genau wie Sie sagen also: Das, was Punk überdauert hat, ist
eine Idee, die Vorstellung des Do-it-yourself-Prinzips. Vergeude keine
Jahre mit dem Üben an deinem Instrument, bevor du es in einer Band
versuchst! Wenn du etwas zu sagen hast, steh einfach auf und sag es!
Als Sie Ihr Buch geschrieben haben, war das Postpunk-Revival im vollen
Schwange, Bands wie The Rapture oder das New Yorker Label DFA waren
angesagt. Spricht davon heute überhaupt noch jemand?
Ich habe mein Buch 2004 fertiggeschrieben, 2005 erschien es auf Englisch.
Zu dieser Zeit war das Postpunk-Revival noch eine Riesensache. Jetzt, das
gebe ich zu, ist das schon wieder gegessen. Obwohl natürlich immer noch
manche das letzte Album von LCD-Soundsystem großartig finden, andere das
von den Liars. Aber als eine rockhistorische Periode, auf die sich junge
Bands beziehen, ist Postpunk eindeutig nicht mehr so angesagt. Was als
nächstes kommt, weiß ich nicht. Das Problem ist ja, dass nach 1985 Rock
allgemein zu einer Retro-Sache wurde. Da stellt sich schon die Frage, wie
man etwas recyceln kann, das bereits eine Form von Recycling ist. Aber es
geht. Wir sehen das ja andauernd. Ein Grunge-Revival könnte anstehen oder
ein Manchester-"Baggy"-Revival, das sich auf Bands wie die Happy Mondays
bezieht. Viele reden auch von einem Shoegazing-Revival, das uns bevorstehen
könnte.
Sie erklären die Postpunk-Periode 1984 für beendet. Was danach kam, so
sagen Sie, war alles retro. Aber gab es nicht in den späten Achtzigern noch
mal postpunkartige Bewegungen, die sich auf Punk bezogen, aber etwas
Eigenes kreierten, zum Beispiel den sogenannten C86-Sound mit Primal Scream
als seinen bekanntesten Vertretern. Oder Labels wie Él oder Sarah, die sich
eine dandyeske, typisch englische Attitüde gaben?
Nicht nach meiner Postpunk-Definition. Ich sehe einen echten Bruch zwischen
Postpunk (der experimentell und nach vorne blickend war und entweder von
Dancemusik beeinflusst war oder elektronisch) und Indierock, der lediglich
auf Gitarre, Schlagzeug, Bass und Sixties-Einflüssen beruhte. C86 hatte
gewisse Postpunk-Bezüge - das typisch Englische, die emotionale
Zerbrechlichkeit und die weinerlichen Vocals, wie man sie von den Buzzcocks
und den Television Personalities her kannte und dazu den schrammelig
krachigen Gitarrensound der Swell Maps und von Subway Sect. Aber das war
auch alles. C86 war Postpunk ohne die Einflüsse schwarzer Musik und ohne
politisches Bewusstsein, was eigentlich die beiden interessantesten Dinge
an Postpunk sind. Labels wie Sarah fehlte die Postpunk-Ambition,
musikalisch wie auch in seinem mangelnden Willen zur Macht. Es ging hier
eher um einen Rückzug aus dieser Welt als um eine Auseinandersetzung mit
ihr.
Die Postpunk-Ära war die Zeit stilprägender Independent-Labels. Factory in
Manchester oder Rough Trade in London standen für die Konsumenten damals
für eine ganz bestimmte Ästhetik und legten auch durchaus eine Art Willen
zur Macht an den Tag. Gibt es in Zeiten von iTunes überhaupt noch Bedarf
für derart emblematische Label-Identitäten?
Es gibt so viele Independentlabels wie früher, selbst bei iTunes gibt es
einen Service - Emusic -, der ausschließlich mit Musik von
Independentlabels handelt. Das Einzige, was sich wirklich überlebt hat, ist
die politische Aussage der Unabhängigkeit, die früher so wichtig war bei
den kleinen Labels. Independent bedeutet heute nichts anders mehr als das
Bedienen eines Nischenmarkts.
War Postpunk eigentlich wirklich die Ära, in der Frauen aus ihren Rollen
als Rockröhre oder Gesangsfee befreit wurden, worauf Sie auch in Ihrem Buch
immer wieder hinweisen? Oder wird da im Nachhinein nicht einiges verklärt?
Es gab in dieser Zeit jede Menge weibliche Musikerinnen. Etwa in der "No
Wave"-Szene New Yorks mit Lydia Lunch, mit China Burg und Nancy Arlen von
der Band Mars, Pat Place und Adele Bertei bei den Contortions oder Ikue
Mori bei DNA. Auch in Europa war das eine Zeit für großartige weibliche
Ausdrucksweisen, ich denke da an Bands wie Kleenex, Malaria und viele
andere. Feminismus war ein starker Motor damals. Nach der Postpunk-Ära
geriet die Rolle der Frauen erneut ins Schwanken, es kamen Phasen, in denen
Frauen zurückgedrängt wurden in die Position der Frontsängerin einer rein
männlichen Band, etwa im New Pop. Erst später gab es dann wieder Figuren
wie Kim Gordon von Sonic Youth, Bands wie die Throwing Muses und sogar
feministische Höhenflüge wie die ganze Riot-Grrl-Bewegung mit ihren
Wütende-Frauen-Bands wie Hole und Babes in Toyland. Man kann jedenfalls
sagen: Nach Postpunk war es nicht mehr so wie vorher in der Rockmusik, als
es wirklich so gut wie keine weiblichen Gitarristinnen, Schlagzeugerinnen
und Bassistinnen gab.
Die deutsche Ausgabe Ihres Buchs haben Sie um ein kurzes Kapitel über
Postpunk aus Deutschland erweitert. Warum fehlte das in der englischen
Originalausgabe - in die es gerade mal DAF und die Einstürzenden Neubauten
geschafft hatten? Schließlich war deutscher Postpunk, Bands wie die
Tödliche Doris oder Palais Schaumburg, doch auch international ziemlich
bedeutend.
Man könnte tatsächlich problemlos ein ganzes Buch über deutschen Postpunk
schreiben. In dem neuen Kapitel über die deutsche Szene sage ich ja auch,
dass Deutschland nach Großbritannien die führende Nation für Postpunk und
Kunstpunk war, noch vor Amerika. Mir fehlte beim Verfassen meines Buchs
schlichtweg die Zeit und das Geld, um dies gebührend zu würdigen. Ein
Problem für mich war auch, dass es kaum Dokumentationen über die deutsche
Szene auf Englisch gibt - und ich kann kein Deutsch. Deutschland blieb für
mich aufgrund der Sprachproblematik ein schwarzes Loch.
Das wichtigste Kennzeichen von Postpunk war: "Anything goes." Dub, Soul,
Funk, Disco - alles konnte als Einfluss geltend gemacht werden. Die Clash
riefen zur "Punky Reggae Party", was eindeutig gegen die Bestrebungen der
rechtsradikalen National Front gerichtet war. Junge Bands von heute, ich
denke da zum Beispiel an Menomena oder Architecture From Helsinki, berufen
sich ebenfalls auf ein Anything-Goes und rattern in ihrer Musik so viele
unterschiedliche Einflüsse runter, dass einem ganz schwindelig wird. Nur,
warum diese Bands das tun, wird mir nie ganz klar.
Da stimme ich Ihnen absolut zu. Es gibt heute einen ziellosen
Eklektizismus, der daher kommt, dass es so einfach geworden ist, zu sampeln
und mit Hilfe der Technologie ziemlich genaue Kopien eines bestimmten
Sounds zu erzeugen. Der Eklektizismus, das Zusammenwürfeln und die Fusion
unterschiedlicher Stile, hat im Postpunk noch etwas ausgedrückt. Es brach
mit dem Konservativismus des klassischen Rock und hatte etwas Politisches.
Wenn etwa die Talking Heads Folkloremusik aus aller Welt erkundeten, war
das eine antikoloniale Aussage. Oder wenn die Pop Group sang: "Western
values mean nothing to her."
Was ist für Sie persönlich die definitive Postpunk-Band und warum?
Das ist ziemlich schwierig zu sagen. Ich würde gerne einen Kompromiss
wählen aus Public Image Ltd, The Slits, den Talking Heads und Scritti
Politti. Wenn ich ein einziges Album nennen müsste, würde ich zu "Cut" von
den Slits greifen - einfach eine perfekte Platte, mit einer wunderbaren
Mischung aus Überschwang und Traurigkeit. Scritti Politti stehen für
suggestive, leicht unfertige Musik, voller Schönheit inmitten von jeder
Menge Kompliziertheit. Public Image Ltd dagegen waren einfach das Zentrum
des Postpunk-Universums: Ihre Platte "Metal Box" war das definitive Album
der Zeit, und die Geschichte von Johnny Rotten, der auszog, um John Lydon
zu werden und sich dann wieder in Rotten zurückzuverwandeln, bildet das
narrative Rückgrat meines Buchs. Und die Talking Heads: Keine andere Band
machte so gigantische Sprünge wie sie. Es ist unglaublich, mit welcher
Geschwindigkeit sie sich mit jedem ihrer ersten vier Alben wieder
veränderten. Außerdem kenne ich keine andere weiße Band, die so funky ist
wie die Talking Heads mit David Byrne, der, das muss auch noch gesagt
werden, ein wirklich origineller Sänger und Texter ist.
INTERVIEW: ANDREAS HARTMANN
18 Oct 2007
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Neue Deutsche Welle
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