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# taz.de -- Intersexualität & Selbstbestimmung: Im Transit
> Lucie Freyas Chromosomen weisen sie als Mann aus, äußerlich ist sie Frau.
> OPs können Intersexuelle nicht umwandeln - Ärzte sind bei der Behandlung
> meist überfordert.
Bild: Intersexuelle bleiben immer "etwas dazwischen". Das ist für viele auch d…
HAMBURG taz Im Vergleich zu anderen hat Lucie Freya* Glück gehabt. Ihr
wurde als Säugling nicht die Klitoris auf eine akzeptable Größe
zurechtgeschnitten, ihr wurde als Kleinkind nicht regelmäßig eine
künstliche Vagina gedehnt, die anschließend von interessierten Medizinern
inspiziert wurde. Lucie Freya wurde "nur kastriert", wie sie die Entfernung
ihrer Keimdrüsen - im Bauchraum gelegener, nicht vollständig entwickelter
Hoden - nennt. Da war sie 23 Jahre alt, und der Eingriff war ein Versuch
der Ärzte, aus ihr eine "richtige" Frau zu machen. "Was auch immer das
ist", sagt die heute 51-Jährige in belustigtem Tonfall.
Lucie Freya lebt in einem Hamburger Vorort, sie ist seit dreißig Jahren
verheiratet und sagt: "Meine Nachbarn wissen das nicht über mich, es geht
sie auch nichts an." Mit "das" meint Lucie Freya ihre Intersexualität: Ihre
XY-Chromosomen weisen sie einerseits als Mann aus, andererseits hat sie
wegen hormoneller Verwicklungen den Körper einer Frau ausgebildet. Nur die
weiblichen Fortpflanzungsorgane fehlen ihr, ihre Mini-Hoden - "meine kleine
Hormonfabrik" - entfernten die Ärzte ihr vor 28 Jahren aufgrund der vagen
Vermutung, diese könnten zu Krebs "entarten".
Stattdessen gab man ihr weibliche Hormone. Die Folge: 25 Jahre
Depressionen, bis Lucie Freya vor drei Jahren damit begann, das zu nehmen,
was sie ohne Operation selbst hätte produzieren können: Testosteron. Auf
eigene Kasse, denn Testosteron ist nur für die Behandlung von "Männern"
zugelassen - nicht für "Frauen" oder gar Intersexuelle wie Freya.
Geschichten wie die von Lucie Freya wurden in den letzten zehn Jahren viele
öffentlich gemacht. Der Spiegel etwa berichtete von einem 12-Jährigen Kind,
dessen Eltern es als Kleinkind "zum Mädchen" operieren ließen und diese
Entscheidung später tief bereuten. Und Intersex-Aktivisten protestierten
auf Ärztekongressen gegen "Genitalverstümmelung". Jetzt wurde erstmals eine
wissenschaftliche Studie publiziert, die bestätigt, was die geschilderten
Einzelschicksale nahegelegt haben: Die Medizin ist gescheitert mit ihrem
Versuch, per Skalpell ein gesellschaftliches Problem zu lösen.
"Sie können aus einem intersexuellen Menschen keinen Mann oder eine Frau
machen. Die bleiben dazwischen", sagt die Leiterin der Studie Hertha
Richter-Appelt, Psychoanalytikerin und Professorin am Lehrstuhl für
Sexualforschung am Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf. 37 Erwachsene
mit sogenannten Störungen der Geschlechtsentwicklung haben für die Erhebung
in Fragebögen und persönlichen Gesprächen Auskunft über ihr psychisches
Wohlbefinden beziehungsweise Leiden gegeben. Das Ergebnis: Intersexuelle
sind überdurchschnittlich unglücklich und depressiv, ihre Neigungen zu
selbstverletzendem Verhalten und Selbstmord ist doppelt so hoch wie bei der
Normalbevölkerung.
Die Hamburger ForscherInnen vergleichen dies mit "traumatisierten Frauen
nach körperlichem oder sexualisiertem Missbrauch". So berichten 17
Teilnehmende über lebensbegleitende Selbstmordgedanken, wobei
Richter-Appelt einen Zusammenhang sieht zu OPs wie der Entfernung der
Keimdrüsen. "Viele haben uns gesagt, ihnen sei etwas wie ihr
'Lebenselixier' genommen worden", sagt die Wissenschaftlerin. Sie
vergleicht dies mit Männern in mittleren Jahren, die Testosteron
verschrieben bekämen, um ihre Leistungsfähigkeit zu erhöhen.
Überraschend sind die Forschungsergebnisse also nicht. Aber sie geben
Antwort auf eine Frage, die bis heute so nicht gestellt wurde: Ob die
Mediziner ihr Behandlungsziel erreicht haben, Intersexuellen per Operation
und Hormongaben zu einem besseren Leben zu verhelfen. In vielen Fällen
lässt sich die Frage mit einem eindeutigen "Nein" beantworten.
Richter-Appelt nennt ein Beispiel: "Menschen, die als Kinder eine
Scheidenplastik bekommen haben, haben uns gesagt, dass sie nach dieser
Erfahrung niemals Geschlechtsverkehr haben möchten." Die Medizinerin
fordert nun, eine solche Neovagina nur dann anzulegen, wenn jemand dies
selbst wünsche, frühestens nach Beendigung der Pubertät. "Die Plastik macht
man ja nicht, damit es dem kleinen Kind besser geht, sondern weil man
denkt, es möchte als Erwachsene Geschlechtsverkehr haben." Ein Gedanke, den
die Intersex-Aktivistin und Studienteilnehmerin Lucie Freya in Zweifel
zieht: "Bei welchem Säugling macht man sich denn Gedanken über seine
Sexualität?"
Allerdings, meint Hertha Richter-Appelt, gebe es unter Intersexuellen -
auch unter den Studienteilnehmenden - solche, die ihre medizinische
Behandlung nicht als traumatisierend erlebt haben und die sogar froh sind
über die Operationsergebnisse. Ob diese aber tatsächlich, wie andere
Studien nahelegen, einen höheren Anteil ausmachen als die Hamburger
Forschungsgruppe gefunden hat, bezweifelt sie. Die Psychoanalytikerin
vermutet, dass viele, die negative Erfahrungen gemacht haben, sich bisher
nicht an solchen Studien beteiligt haben, weil sie nie wieder etwas mit dem
medizinischen Apparat zu tun haben wollten.
Der wiederum hat sich laut Richter-Appelt in den vergangenen zehn Jahren
stark gewandelt. Zum einen sei die Diagnostik viel besser geworden, man
könne heute besser voraussagen, wie sich ein Kind entwickelt. Zum anderen
sei die Kritik der Betroffenen inzwischen bei den Ärzten angekommen. Die
würden nicht mehr so schnell zum Skalpell greifen, Keimdrüsen seltener
entfernen und auch nicht mehr alle Intersexuellen zu Mädchen operieren
wollen - nach dem Motto "Es ist leichter, ein Loch zu graben, als einen
Mast zu bauen". Auch würden die Betroffenen heute altersgerecht über ihren
Zustand aufgeklärt und nicht mehr wie früher im Unklaren gelassen.
Intersex-Aktivisten wie Lucie Freya sind da nicht so optimistisch. Zwar
stimme es, dass die Mediziner anfangen würden zuzuhören - ein Professor
habe sich im vergangenen Jahr sogar dafür entschuldigt, was er und seine
KollegInnen angerichtet haben. Doch kürzlich, auf einem Treffen des
Netzwerks Intersexualität, in dem sich Betroffene und Behandler
austauschen, sei der Konflikt erneut aufgebrochen. Unter Protest habe eine
Gruppe Mediziner den Raum verlassen, erzählt Lucie. Anlass sei die
Forderung gewesen, Intersexuelle vor Eingriffen zu schützen, die ihre
körperliche Unversehrtheit gefährden und ihre Menschenwürde verletzen. Dass
sich davon jemand, der seit Jahren Intersexuelle operiert, angegriffen
gefühlt habe, habe sie überrascht.
Von ihrem Ziel, dass kosmetische Operationen nicht mehr an Kindern
vorgenommen werden, sind die Aktivisten noch weit entfernt. Das weiß Lucie
Freya aus ihrer Erfahrung als Online-Beraterin des Selbsthilfenetzwerks
XY-Frauen. "Die Eltern melden sich bei uns, nachdem sie den ersten Schritt
schon getan haben und dann nicht weiter wissen", erzählt Freya. Sprich:
wenn aus dem Kind bereits ein "Mädchen" gemacht wurde und es sich dann aber
wie ein "Junge" verhält. Um solche unwiderruflichen Fehlentscheidungen zu
verhindern, fordert Lucie Freya ein interdisziplinäres Behandlungszentrum,
in dem Familien ein systematisiertes Versorgungsangebot bekommen, zu dem
auch psychologische Betreuung gehört. Sie meint: "Behandelt werden müssen
in erster Linie die Eltern, nicht die Kinder."
Die auch, würde Olaf Hiort wahrscheinlich dazu sagen. Der Lübecker
Professor für Kinderheilkunde ist Sprecher des vom
Bundesforschungsministerium geförderten Netzwerks "Störungen der
Geschlechtsentwicklung". Am Lübecker Universitätsklinikum lief parallel zu
der Hamburger Studie mit Erwachsenen eine mit Kindern und Jugendlichen.
Hiort, der international renommierte Hormonforscher, teilt nicht alle
Forderungen der im Netzwerk organisierten XY-Frauen.
"Dass Erwachsene über die Behandlung von Kindern entscheiden, ist ein
Dilemma der Pädiatrie, aus dem es kein Entkommen gibt", meint Hiort. Er
bezweifelt, dass die Aktivisten, die ihre traumatischen Erfahrungen vor bis
zu dreißig Jahren gemacht haben, für jene sprechen können, die heute mit
nicht eindeutigem Genitale geboren und behandelt werden. Und dass diese
alle auf eine eindeutige Geschlechtsidentität verzichten wollen. Allerdings
räumt er ein, dass die Versorgung nach wie vor nicht optimal ist. Dafür
seien noch zu viele Kollegen am Werk, denen es an Spezialwissen und
-fähigkeiten mangelt. Und ja, die Behandlung hänge mangels aussagefähiger
klinischer Studien immer noch von Erfahrungswerten ab -
"gesundheitsökonomisch interessiert das ja leider niemanden." Er wünscht
sich mehr politischen Druck von Selbsthilfeverbänden.
Wenn es nach Lucie Freya geht, soll es daran nicht mangeln. Sie will, "dass
endlich anerkannt wird, dass es uns gibt." * Name geändert
6 Nov 2007
## AUTOREN
Eiken Bruhn
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