# taz.de -- Juliette Gréco: "Die Leidenschaft ist riesig" | |
> Jedes Lied und jede Revolution kommt auf der Straße zur Welt. Daran | |
> glaubt Juliette Gréco. Auch mit 80 Jahren findet sie es noch immer | |
> großartig, auf der Bühne zu stehen. | |
Bild: Sie habe das Glück, noch nicht allzu garstig auszusehen, meint Juliette … | |
taz: Sie sehen fantastisch aus. Offensichtlich sind Sie in ausgezeichneter | |
Form. | |
Juliette Gréco: Nein. Ich werde bald 81 Jahre alt. Ich bin sehr müde. Ich | |
schlafe sehr wenig. Ich bin sehr unruhig. Und ich habe viel Arbeit. Aber ça | |
va. Ich verstehe selbst nicht, warum. Denn ich habe eine empfindliche | |
Gesundheit. Aber es geht. Ich lebe. Ich bin sehr, sehr lebendig. Ich kann | |
etwa den ganzen Tag wach bleiben - ohne zu schlafen -, weil jemand mich | |
braucht. | |
Was tun Sie, um fit zu bleiben? | |
Nichts. Ich bin sehr undiszipliniert. Ich schlafe nicht genug. Und ich esse | |
wenig. Aber das ist vielleicht eine gute Sache. Das war immer so. Seit ich | |
klein war. | |
Bereiten Sie sich heute anders auf ein Konzert vor? | |
Nein. Das ist immer noch der absolute Schrecken. Immer noch die tiefe | |
Unruhe. Und die beiden großen Fragen: Wie wird es sein? Und: Werden sie | |
mich lieben? | |
Sind das Fragen an das Publikum oder an sich selbst? | |
Die Frage ist: Wird mein Partner mich lieben? | |
Ein Konzert ist ein Treffen mit einem Liebhaber? | |
Ganz genau. Das ist es. | |
Ist es vorgekommen, dass ein solches Rendezvous überhaupt nicht | |
funktioniert hat? | |
Natürlich. Am Anfang ist das vorgekommen. Und das war sehr, sehr grausam. | |
Zum Glück ist es nicht oft passiert. Und auch schon sehr lange nicht mehr. | |
Aber ich habe immer, immer Angst davor. | |
Haben Sie nach Erklärungen gesucht, wenn es nicht geklappt hat? | |
Ich konnte nicht suchen, weil mir dazu jede Grundlage fehlte. Ich habe | |
einfach nicht verstanden. Ich war schrecklich aufrichtig. Und ich dachte, | |
die Leute würden verstehen, dass ich einer bestimmten Sprache, einer | |
bestimmten Musik, einem bestimmten Geist, einem bestimmten Kampf diene | |
Viele Dichter und Schriftsteller haben Texte für Sie geschrieben. Wie | |
wählen Sie aus, was Sie tatsächlich singen? | |
Es geht, oder es geht nicht. Ich habe Lust. Oder ich habe keine Lust. Es | |
gibt Ideen, die ich vertreten möchte. Und es gibt Worte, Ideen und Dämonen, | |
die mich bewegen. Ich kann nicht den Mund öffnen, um nichts zu sagen. Das | |
wäre sehr, sehr ungehörig. | |
Welche Dämonen bewegen Sie zur Zeit? | |
Was mich aufwühlt, das ist nach wie vor die Liebe. In all ihren Formen. | |
Immer die Ungerechtigkeit. Immer ein gewisser Kampf für unsere Freiheit. | |
Wir sind Frauen. Ich sehe Sie. Und ich sehe mich in Ihren Augen, wie in | |
einem kleinen Spiegel. Sie sind eine Frau, das ist eine sehr wichtige | |
Sache. Und da ist immer eine große Gefahr. | |
Welche Gefahr? | |
Wir sind nicht so viel weiter gekommen. | |
Was meinen Sie? | |
Wir Frauen haben eine gewisse Freiheit errungen. Aber sie ist nicht | |
selbstverständlich. Wir müssen uns immer noch schlagen, um denselben Lohn | |
zu bekommen. Eine Frau muss mehr arbeiten und härter kämpfen als ein Mann. | |
Kämpfen - das ist unsere Natur: nicht die des Mannes. Wer macht die Jagd? | |
Die Löwin, nicht der Löwe. | |
Die jungen Chansonniers sind weniger sozial und politisch engagiert als | |
Ihre Generation. Woran liegt das? | |
Sie sind weniger idealistisch. Weniger am anderen interessiert. Am Glück | |
des anderen. Vielleicht ist das ein Stück Bequemlichkeit. Vielleicht | |
verdienen sie auch besser. | |
Es gibt - zur Zeit gerade in Frankreich - auch einen politischen | |
Seitenwechsel von Künstlern und Intellektuellen. Heute treten viele mit | |
Sarkozy auf. Ihre Generation war - wenn politisch - dann links. | |
Auch ich bin überrascht von vielen Dingen: die Unterstützung von Leuten für | |
Sarkozy. Die Sozialisten, die wichtige Posten von ihm annehmen. Vielleicht | |
fühlen sie sich nützlich. Das Problem Sarkozy habe ich noch nicht gelöst. | |
Ich brauche noch Zeit zum Nachdenken. Ich bin keine Politikerin. | |
Ich wollte Sie auch nicht auf das Terrain von Politikern bringen. | |
Ach, das können Sie ruhig machen. Bringen Sie mich, wohin Sie wollen. | |
Fragen Sie. Ich versuche, eine Antwort zu finden. Ich finde es seltsam, | |
eine rechte Regierung zu bilden, mit Politikern aus der Linken. Und bis zum | |
Beweis des Gegenteils weiß ich nicht, wie das funktionieren soll. | |
Sie sind auch für Politiker aufgetreten. | |
Für Mitterrand 1981. | |
Was hat Sie veranlasst, das für Mitterrand zu tun? | |
Seine außergewöhnliche Verführungskraft, seine Intelligenz und seine | |
Kultur. Er war immerhin trotz allem ein bisschen links. | |
Ein bisschen? | |
Nicht total. Aber immerhin etwas. | |
Haben Sie auch seine 14 Jahre an der Macht in guter Erinnerung behalten? | |
Er ist ein extrem wichtiger Politiker, der bleiben wird. Er hatte die | |
Intelligenz eines Schriftstellers, er war ein Mann des Wortes. Ein | |
beunruhigendes Wesen. Ich kann der Intelligenz nur schwer widerstehen. | |
Sie haben schon in den frühen Jahren Ihrer Karriere jüngere Kollegen | |
unterstützt. | |
Vor allen Dingen habe ich versucht, zu helfen. Ich bin eine Interpretin. | |
Das ist mein Beruf. Ich bin eine Dienerin. Ich diene den Dichtern. Und ich | |
diene den Musikern. Ich habe immer junge Leute gesucht. | |
Zum Beispiel Gainsbourg oder Brel. | |
Ich war ein klein wenig bekannter als sie. Wir haben zusammen angefangen. | |
Die Musiker, die Sie unterstützen, sind immer jünger geworden. Zur Zeit | |
gehört Benjamin Biolay dazu. | |
Natürlich. Oder Miossek. Oder der Rapper Abdel Malik. | |
In der Nachkriegszeit war Paris der wichtigste Ort für Musik. Danach die | |
englischsprachigen Länder. Wo entsteht heute die Musik? In New York? In | |
Berlin vielleicht? | |
Ich weiß es nicht. Ich glaube, es gibt in jedem Land einen Zyklus. In | |
Frankreich, was ich etwas kenne, muss man Ideen haben, um zu schreiben. | |
Soziale und politische Ideen. Warum lächeln Sie jetzt? | |
Es freut mich, was Sie sagen. | |
Das ist eine Banalität. Wenn Sie keine sozialen und politischen Ideen | |
haben, was wollen Sie dann singen? Vielleicht: "amour, toujours, tambours"? | |
Sicher, das reimt sich. Aber es will nichts heißen. In Frankreich gibt es | |
eine revolutionäre Tradition. Und die haben wir ein wenig verloren. Jede | |
Revolution und jedes Lied kommt auf der Straße zur Welt. Was ist "Le Temps | |
des cerises"? Es ist ein Chanson, das in einer blutigen Revolution | |
geschrieben wurde. Und es ist ein Liebeslied. | |
Sie waren eine der Ersten aus Frankreich, die nach dem Krieg wieder in | |
Deutschland aufgetreten sind. Obwohl Ihre Mutter und Schwester in einem KZ | |
waren. Was hat es damals bei Ihnen ausgelöst, in Deutschland zu singen? | |
Hatten Sie Angst? | |
Nicht alle Deutschen sind Nazis. Nicht alle Franzosen sind | |
Widerstandskämpfer. Und die Kinder sind nicht für ihre Eltern | |
verantwortlich. Der Sohn eines Mörders und Monsters ist nicht dafür | |
verantwortlich, was sein Vater getan hat. Wenn ich einen Deutschen in | |
meinem Alter treffe, der mir sagt: "Ich liebe Frankreich sehr." Dann sage | |
ich mir: "Du warst in meinem Haus." Aber das ist alles. Für mich ist | |
Deutschland ein neues Land. Sie sind nicht verantwortlich für Hitler. | |
Wo sind Sie damals aufgetreten? | |
Als ich zum ersten Mal in Deutschland war, gab es zwei Deutschland. Ich war | |
im Friedrichstadtpalast, im Osten. Auf Wunsch von Herbert von Karajan. Er | |
hatte auch entschieden, dass ich in der Philharmonie im Westen auftreten | |
soll. Ich habe im Abstand von zwei Tagen Friedrichstadtpalast und | |
Philharmonie gemacht. Warum Karajan das so entschieden hat, habe ich nie | |
erfahren. Als die Mädchen mit den Platten zum Signieren kamen, haben sie | |
mir gesagt: "Der Meister ist gekommen. Er ist während des Spektakels | |
zwischen zwei Türen stehen geblieben. Hat sich nicht gesetzt. Dann ist er | |
gegangen." Seltsam. Sehr seltsam. | |
Wir treffen uns in Saint-Germain-des-Prés. Hier war das Zentrum Ihres | |
Lebens vor 60 Jahren. Was ist aus dem Quartier geworden? | |
Es tut sich immer noch etwas. Es gibt abends Jazzkonzerte. Es gibt mehr | |
Buchläden. Es gibt sehr viel Kleider. Sehr viel Mode. Sehr viel Schmuck - | |
Dinge, die wir nicht besonders kannten. | |
Haben andere Pariser Quartiere - oder vielleicht die Banlieue - die | |
Nachfolge von Saint-Germain-des-Prés aus der Nachkriegszeit übernommen? | |
Saint-Germain-des-Prés war eine Explosion von Freiheit und von | |
Fröhlichkeit. Nach dem Krieg gab es zwei Dinge: die Atombombe. Und die | |
Bombe der Freiheit. Plötzlich hatten wir das Recht, zu leben. Zu | |
diskutieren. Die Deutschen waren weg, die Besatzer. Man konnte sich auf die | |
Straße setzen und lachen. | |
Seit 60 Jahren stehen Sie auf der Bühne. Sie sind seit vielen Jahrzehnten | |
weltbekannt. Was zieht Sie heute auf die Bühne? | |
Die Nachfrage der anderen. Und das eigene Begehren. | |
Vermutlich ist das eigene Begehren wichtiger? | |
Wenn es keine Nachfrage gibt, wird das eigene Begehren bitter. Es ist | |
großartig, wenn man mich anruft. Ich bin 80 Jahre alt. Die Leute fragen | |
mich, wollen Sie singen? "Oui", sage ich. | |
Was ändert sich im Leben am meisten: der Körper, die Stimme, die Gefühle? | |
Das Äußere. | |
Das Empfinden nicht? | |
Nein. Überhaupt nicht. Die Kraft ist gewaltig. Die Liebe ist riesig. Die | |
Leidenschaft ist riesig. Die Lust ist riesig. Ich habe ganz einfach nicht | |
mehr denselben Kopf wie vor 30 Jahren. Das ist alles. Dagegen kann man | |
nichts tun. Ich habe allerdings das Glück, nicht allzu garstig auszusehen. | |
INTERVIEW DOROTHEA HAHN | |
13.11., Berlin, Admiralspalast. 16. 11., München, Prinzregententheater | |
12 Nov 2007 | |
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Frankreich | |
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