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# taz.de -- Rumänisches Kino: Eine verspätete Befreiung
> Neue Filme aus Rumänien gehen ihren eigenen Weg. Sie emanzipieren sich
> von der lokalen Filmbürokratie und Kommerzansprüchen. Und bilden so die
> spezifisch postkommunistische Realität ab.
Bild: Finster und amoralisch zeigt Cristian Mungiu das kommunistische Sysytem i…
Nicou, ein junger Rumäne, ist aus Amerika zurückgekommen. In New York hat
er für sieben Dollar einen Kopfschmuck aus Plastik gekauft, nun taucht er
als Indianer in Bukarest auf. Seine Freunde wollen wissen, was ihm
widerfahren ist im Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Nicou erzählt, dass
er in Hollywood war. Er hat das gegessen, was er in Abfalleimern gefunden
hat, aber er ist immer noch beeindruckt von der Größe der Pflaumen in
Kalifornien. Die Tampons von Ava Gardner will er auch im Müll gefunden
haben, aber was darf man Reisenden, die aus fernen Ländern zurückkehren,
schon glauben?
Diese Szene aus dem Film "Terminus Paradis" (1998) von Lucian Pintilie ist
bezeichnend für das Verhältnis, das das rumänische Autorenkino noch bis vor
wenigen Jahren gegenüber der Übermacht aus Hollywood hatte: Es legte die
Respektlosigkeit von Underdogs an den Tag, es machte sich lustig und ging
seine eigenen Wege. Inzwischen haben sich die Positionen zumindest insofern
verschoben, als Rumänien in der internationalen Festivalwelt seit einiger
Zeit große Aufmerksamkeit genießt. Von einer "Nouvelle Vague" aus Bukarest
ist vielfach die Rede. Die diesjährige Goldene Palme in Cannes für "Vier
Monate, drei Wochen, zwei Tage" von Cristian Mungiu war nur ein weiteres
Indiz dafür, dass aus Rumänien im Moment eine ganze Reihe von interessanten
Filmemachern kommen. Ab Donnerstag ist Mungius Film auch in deutschen Kinos
zu sehen.
Ob Cristi Puiu mit "Der Tod des Herrn Lazarescu", Corneliu Porumboiu mit
"12:08 Östlich von Bukarest", Cristian Nemescu mit "California Dreamin
(Endless") oder Catalin Mitulesci mit "Wie ich das Ende der Welt verbracht
habe" schon eine "neue Welle" bilden, ist noch nicht abzusehen. Vielleicht
handelt es sich nur um eine eher zufällige Konjunktur, wie sie vom Iran bis
Argentinien, von Österreich bis Taiwan gelegentlich ein Land erfasst. In
den genannten Filmen lässt sich jedenfalls ein Projekt ausmachen, das
erklärt, warum die internationale cinephile Öffentlichkeit mit großem
Interesse auf Rumänien blickt: Die zunehmenden Verflechtungen im globalen
Koproduktionskino erlauben es hier einer Generation, aus dem Schatten der
lokalen Filmbürokratie zu treten und die nationale Kinematografie gleich in
mehrfacher Hinsicht zu emanzipieren - vom schalen Kommerzialismus, der die
offiziösen rumänischen Filme bestimmt, genauso wie von der Hegemonie des
amerikanischen Kinos.
Das Ergebnis ist vielfach genuines Weltkino, das sehr spezifisch von den
postkommunistischen Bedingungen handelt und dabei die Idiome des globalen
Autorenkinos weiterentwickelt. Das interessanteste (weil besonders
kontroverse) Beispiel ist wahrscheinlich "California Dreamin (Endless)" von
Cristian Nemescu. Der Regisseur starb kurz nach Fertigstellung des Films
bei einem Verkehrsunfall, noch keine dreißig Jahre alt. In der Provinzstadt
Capalnita kommt 1999 ein Zug an, der in geheimer Mission unterwegs ist. Ein
Radarsystem soll in den Kosovo gebracht werden, um die amerikanische
Luftwaffe im Krieg gegen Serbien zu unterstützen. Je ein Trupp
amerikanischer und rumänischer Soldaten begleitet den Zug, nur die
entsprechenden Zollpapiere fehlen, sodass sich der lokale Bahnhofsvorsteher
genötigt sieht, dem Zug die Weiterfahrt zu verweigern. Er wird auf ein
Nebengleis geschoben.
Von den folgenden Tagen der Wartezeit erzählt "California Dreamin
(Endless)". Der Bürgermeister von Capalnita erkennt sofort die Chance und
verlegt kurzerhand den hundertsten Geburtstag der Stadt, um den
amerikanischen Gästen eine ordentliche Party - moderiert von einem
Elvis-Imitator - bieten zu können. "Investitionen" lautet das Stichwort.
Die Amerikaner sollen für diesen abgelegenen Ort interessiert werden, der
sich plötzlich wieder in Kontakt mit der Weltgeschichte wähnt.
Und tatsächlich ist in diesem Film eine klassische Konstellation des
Neorealismus erkennbar: In der Begegnung mit den G.I.s kann Nemescu
überprüfen, was die Rumänen aus ihrer Freiheit gemacht haben. 1989 wird
durch 1945 gelesen, nicht zuletzt durch einen Prolog, der dem
widerspenstigen Bahnhofsvorsteher eine Vorgeschichte im Zweiten Weltkrieg
zuschreibt: Seine Eltern haben mit den Nazis kollaboriert, er schickt sich
nun an, die lokalen Fabriken zu übernehmen - eindeutig entspricht seine
Stellung im Ort nicht der seiner sichtbaren Autorität (als Vorsteher eines
Provinzbahnhofs), sondern geht weit darüber hinaus. Worauf sie genau
beruht, erschließt sich einem nicht-rumänischen Publikum nur teilweise, hat
aber wohl mit der Kontinuität der Eliten zu tun, die in der Revolution kaum
Schaden nahmen.
Rumänien hat sich 1989 keineswegs vollständig befreit, und das ist das
eigentliche Thema der "neuen Welle": ihre eigene "Verspätung" wie die der
gesellschaftlichen Modernisierung. In "12:08 Östlich von Bukarest" von
Corneliu Porumboiu werden die Mythologien der Revolution
auseinandergenommen. Der Moderator einer lokalen Fernsehstation
(gleichzeitig deren Eigentümer) verbringt den ganzen Morgen damit, die
Gäste für eine nachmittägliche Talk-Sendung zum 16. Jahrestag der
Revolution zusammenzubekommen.
Herr Piscoci, ein weißhaariger, älterer Herr, ist im Prinzip willens, im
Fernsehen aufzutreten, davor muss er aber noch ein neues Kostüm für seine
Tätigkeit als Weihnachtsmann besorgen. Herr Manescu, ein Lehrer an der
lokalen Schule, bekommt an diesem Tag sein Gehalt ausbezahlt und würde es
am liebsten sofort für Alkohol ausgeben, muss sich zuvor aber noch der
zahlreichen Gläubiger erwehren, die er in der ganzen Stadt hat. Herr
Piscoco und Herr Manescu fällt die Aufgabe zu, als "Augenzeugen" von den
Ereignissen am 22. Dezember 1989 zu erzählen, wobei die Uhrzeit 12:08
mittags deswegen von entscheidender Bedeutung ist, weil das Fernsehen um
diese Zeit die Flucht des Diktators Nicolae Ceausescu zeigte. Danach war es
eigentlich nicht mehr "revolutionär" und riskant, auf die Straße zu gehen.
Der unheimlichste Moment des Films kommt, als sich unter den Anrufern in
der Talk-Sendung ein ehemaliges Mitglied der Securitate (des Geheimdiensts
im kommunistischen Rumänien) zu erkennen gibt und unverhohlene Drohungen
ausspricht.
Der Film "12:08 Östlich von Bukarest" endet mit einem Bild des leeren
Stadtplatzes - es hatte während der Sendung als Hintergrund gedient, nun
wird es als "revolutionäre Szene" ohne Protagonisten erkennbar, als eine
Tabula Rasa, die erst mit Erzählungen zu füllen ist. Wie Harun Farocki und
Andre Ujica in ihrem Dokumentarfilm "Videogramme einer Revolution" (1992)
schon früh analysiert haben, ist die Befreiung ein Faktum, das vielfach
erst realisiert werden muss - nicht zuletzt geht es dabei um die
Deutungshoheit über Bilder, die im Verlauf der Revolution kanonisch wurden.
Nur allmählich haben die rumänischen Filmemacher diese Herausforderung
angenommen, inzwischen ist dies aber das eigentliche Thema, wobei die
Herangehensweisen ganz unterschiedlich ausfallen. Cristian Mungiu erfasst
in "Vier Monate, drei Wochen, zwei Tage" in Form einer Parabel noch einmal,
wie das Leben im alten Regime tatsächlich war - nämlich finster,
amoralisch, kleinbürgerlich, korrupt.
Catalin Mitulescu erzählt in "Wie ich das Ende der Welt verbracht habe" die
letzten Tage des Regimes aus der Perspektive eines siebzehnjährigen
Mädchens und dessen kleinem Bruder. Cristi Puiu zeichnet in "Der Tod des
Herrn Lazarescu" ein Bild des postkommunistischen Rumäniens: eine
Gesellschaft ohne Mythologie, die einfach funktioniert, so gut es eben
geht, wenn ein alter, mittelloser Alkoholiker mit mehrfachem Krankheitsbild
an die Institutionen übergeben wird.
Der Neorealismus bildet in doppelter Hinsicht einen Bezugspunkt für die
meisten dieser Filme. Zum einen geht es ständig um Fragen der
Transformation, der historische Wendepunkt wird von verschiedenen Seiten in
Augenschein genommen, und seine Auswirkungen werden überprüft (wobei das
Pathos der individuellen Entscheidung, das in den Filmen Roberto
Rossellinis so wichtig war, durch ein stärkeres Augenmerk auf Strukturen
der Ohnmacht gebrochen wird). Zum anderen folgen vor allem Puiu und Mungiu
einer Dramaturgie der Bewältigung von Hindernissen. Ihre Filme sind
Parcours, ständig stellen sich den Figuren neue Aufgaben. Nicht zufällig
nennt Puiu gelegentlich den US-amerikanischen Dokumentaristen Frederick
Wiseman als wichtigen Einfluss, nicht zufällig auch haben sowohl Puiu wie
Mungiu ihre Filme von vornherein in mehrteiligen Zyklen situiert.
Die "neue Welle" des rumänischen Kinos ist auf eine Langzeitbeobachtung
angelegt, und momentan sieht es danach aus, als würde das internationale
Interesse auch die entsprechenden Finanzierungsmöglichkeiten erbringen, um
der konservativen staatlichen Filmindustrie ein Schnippchen zu schlagen.
Während der Neunzigerjahre schien Lucian Pintilie der alleinige Vertreter
eines rumänischen Autorenkinos zu sein, das hat sich inzwischen
nachdrücklich geändert. Die Erzählungen aus Hollywood sind nun mehr denn je
als das erkennbar, was sie vor dem Hintergrund der alltäglichen Erfahrungen
im Land eigentlich sind: eine Farce.
19 Nov 2007
## AUTOREN
Bert Rebhandl
## TAGS
Familie
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