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# taz.de -- Sammelband "Arbeitsreportagen": Traurige neue Arbeitswelt
> Im Berliner Palais am Festungsgraben stellten Autoren ein Buch mit Texten
> über den modernen Arbeitsalltag vor. Es geht um Billigbestatter,
> Ziegenhirten oder Spitzengastronomen.
Bild: Menschenrecht auf Feierabend.
Es fühlte sich ziemlich merkwürdig an, neulich im großen Saal des Palais am
Festungsgraben zu sitzen, direkt hinter der Neuen Wache in der Berliner
Mitte. Denn ausgerechnet hierher hatten die Kulturstiftung des Bundes und
der Suhrkamp Verlag geladen, um in einer 19.-Jahrhundert-Kulisse aus
Marmorpracht, Nationalstolz und bürgerlichem Kitsch ein Buch mit dem Titel
"Schicht! Arbeitsreportagen für die Endzeit" vorzustellen. Herausgeber
Johannes Ullmaier hatte als Moderator die undankbare Aufgabe, zwischen Raum
und Thema, jungem Publikum und altem Gemäuer zu vermitteln. Sechs Stunden
dauerte der kräftezehrende Lesemarathon - und am Ende bekam Ullmaier nicht
einmal das wohlverdiente Bier nach Schichtende, weil die ebenfalls
bienenfleißigen Thekenkräfte endlich schließen wollten.
Ein Menschenrecht auf Feierabend: Das war der Einbruch des proletarischen
Geistes in einen ansonsten wohltemperierten Abend, bei dem Literaten ihre
"Arbeitsreportagen" vortrugen. Die eigene Plackerei kam dabei nicht zu
kurz. So präsentierten Barbara Kalender und Jörg Schröder
Interviewmitschnitte im schwer verständlichen Schnellsächsisch, die sie
mühsam abtippen mussten.
Das Buch selbst leidet des Öfteren unter der etwas gekünstelt wirkenden
Mission, die ihm zugrunde liegt. Ullmaier stellt sich im Vorwort einige
Auftraggeber aus dem Jahr 2440 vor, die im Namen von Allah/Jahwe/Gott
Reportagen über die heutige Arbeitswelt verlangen, und, zur besseren
Unterhaltung, verlangen, dass "Literaturdichter" ans Werk gehen sollen.
Im Buch nun finden sich Texte von Dietmar Dath oder Bernd Cailloux, der
eine ausgedacht und wahr, der andere auf dem Gelände und in der
Zukunftsforschungsabteilung von VW herbeirecherchiert und nicht weniger
wahr. Die Genres vermischen sich also; nicht immer entsteht dabei
"Literaturdichtung". Die unvermeidliche Juli Zeh hat ihren Auftrag zu
wörtlich genommen, weswegen sie in ihrem Rührstück über ein lesbisches
Pärchen immer wieder den "lieben Gott" anredet und pubertär zurechtweist.
Das beschriebene Paar hat sich nach Jahren erfolgreichen Selbstverkaufens
ins Brandenburgische zurückgezogen, um dort in bescheidenen Verhältnissen
zu leben und sich genauso zu verkaufen. Da sie allerdings ärmer sind,
müssen sie nun vieles über Tauschhandel erwerben. Sie nennen das Glück.
Doch Zehs Rührstück ist klüger als seine Autorin, denn man spürt, dass
dieser Kleinhändleralltag nicht glücklich macht, sondern dass beide sich
eingerichtet haben im Elend. Thomas Raab beschreibt den Alltag von
Billigbestattern, Oliver Maria Schmitt schreibt über Altenpflege, Peter
Glaser sucht digitale Bohemiens auf, Feridun Zaimoglu berichtet aus einer
Sex-Show-Produktionshalle, Harriet Köhler fühlt sich in den traurigen
Lehrling in der Spitzengastronomie ein und schaut dabei in die traurigen
Küchen der Jamie Olivers und Tim Mälzers. Gabriele Goettle besuchte einen
Ziegenhirten, Wilhelm Genazino berichtet abfällig über mangelnde
Dienstleistungsbereitschaft bei jenen, die dem Beruf des Bettlers
nachgehen, Felix Ensslin gibt Einblicke in das Innenleben eines
Bundestagsmitarbeiters, Kathrin Röggla und Georg Klein machen, was sie
immer machen; Röggla gut, Klein weniger. André Kubiczek begleitet seinen
Vater, Geschäftsführer der Landesagentur für Struktur und Arbeit
Brandenburg GmbH, in den Ruhestand, dieweil Thomas Kapielski schließlich
über seinen eigenen Wechsel vom Professorenamt in die Arbeitslosigkeit
schreibt.
Manch einer der "Literaturdichter" weiß jedoch nur, was Literatur ist, und
verwechselt folgerichtig seine schönen Sätze mit "dem Leben". Gleichzeitig
aber ist die Masse dieser "Arbeitsreportagen" davor gefeit, verklärend zu
wirken. Wenn etwa Thomas Raab Kapitalismuskritik en detail betreibt, so
gibt er damit seinen Lesern ein Werkzeug an die Hand, mit dem sie auch Zehs
Tauschgesellschaftsverklärung analysieren können - just so, wie die
Thekenkräfte den Arbeitsalltag ins Palais brachten. Das Buch hält bei aller
Kritik dennoch ganz gut aus, was es an eigenen Fehlern sichtbar macht.
21 Nov 2007
## AUTOREN
Jörg Sundermeyer
## TAGS
Wilhelm Genazino
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