# taz.de -- Märchen erzählen: Tröstungen | |
> Maria Schild ist Märchenerzählerin. Über ein Leben abseits aller | |
> hochtechnisierten Kommunikation, wo das Erzählen aus dem Gedächtnis zum | |
> Akt vollkommener Unabhängigkeit wird. | |
Bild: Das Repertoire von Maria Schild geht weit über Frau Holle und Co hinaus. | |
Ich bin nur ein Vogel, dem es vor dem Winterfrost graut und der in den | |
Zweigen keine Zuflucht findet, die Herbstgrille, die den Mond anzirpt und | |
sich an die Tür schmiegt, um ein wenig Wärme zu erhaschen. Wo sind die, die | |
mich kennen? | |
Pú Sung-ling (17. Jh.) | |
Maria Schild, Märchenerzählerin seit 1985, 1949-1957 Besuch der Volksschule | |
in Hessen, 1957 Hauswirtschaftslehre, Bochum. 1960 | |
Kinderpflegerinnen-Schule, Bochum. 1961 Kindergärtnerinnen-Seminar, Bochum, | |
1961 Wechsel nach Berlin ans Pestalozzi-Fröbel-Haus, 1963 Abschluss als | |
Erzieherin, Ausbildung zur Schauspielerin, 1965 Abschlussprüfung vor der | |
Deutschen Bühnengenossenschaft Berlin, Prüfer Erwin Piscator, 1966 Geburt | |
des Sohnes Kolja. Engagements an div. Bühnen (u. a. Schaubühne a. | |
Halleschen Ufer, politisches Kabarett "Wühlmäuse"). 1969, Erzieherin in | |
Berlin Kreuzberg. 1971 Studium a. d. Fachhochschule f. Sozialarbeit,Berlin, | |
1975 Abschluss als Sozialpädagogin. Ab 1975 (bis 2005) Arbeit in der | |
interkulturellen Familienberatung "Arbeitskreis Neue Erziehung" Berlin. | |
Daneben, von 1980-1987, Studium d. Ethnologie an der Freien Universität | |
Berlin (Schwerpunkt Schamanentum sibirischer Völker u. Mythen der Welt). | |
Seit 1984 Auftritte als Märchenerzählerin u. Seminare zur "Kunst des freien | |
Erzählens", zahlreiche Reisen mit Teilnehmern d. Seminare in die | |
Ursprungsländer der Märchen. Diese Reisen und eine Auswahl der unterwegs | |
erzählten Märchen sind unter dem Titel "Blaue Karawane" dokumentiert, Bd. I | |
"Von Moskau an den Amur", Bd. II "Entlang der Seidenstraße", Bd. III "Nach | |
Mesopotamien", Berlin, 2003/2004, Verlag Hans Schiler. (Ein Hörbuch | |
erscheint Ende 2007.) Maria Schild wurde 1942 in Kassel geboren, sie ist | |
geschieden u. hat einen Sohn. | |
In Zeiten hochtechnisierter Kommunikationssysteme, deren jederzeit | |
möglicher Zusammenbruch den Verlust aller Verbindungen androht, in denen | |
jedes über die Medien vermittelte Reden erfasst, kontrolliert und gesteuert | |
ist, wird Erzählen aus dem Gedächtnis zu einem Akt vollkommener | |
Unabhängigkeit. Mit einem Minimum an Aufwand kann der Erzähler ein Maximum | |
an Ideen, Bildern und Empfindungen im Zuhörer erzeugen. Seine Instrumente | |
hat er immer und überall bei sich; im Funkloch, bei Stromausfall, in jedem | |
Abseits. | |
Die Märchenerzählerin Maria Schild lebt in einer schönen kleinen | |
Altbauwohnung im Berliner Bezirk Schöneberg. Zum Leidwesen aller Ungeübten | |
im obersten Stockwerk. Sie empfängt uns sehr herzlich. Das Wasser im | |
Samowar brodelt bereits, bald halten wir einen Tee in Händen und betrachten | |
die Bücherregale. Da stehen Romane, Lyrik, Wissenschaftliches, Kunst- und | |
Reisebildbände, vor allem aber sehr viele Märchen und Mythen aus aller | |
Welt, neben Werken von Autoren wie Lichtenberg, Karl Philipp Moritz, Kafka. | |
Sie deutet auf einige Bände: "Und hier steht mein Pú Sung-ling, habt ihr | |
gesehen? Der berühmte chinesische Geschichtensammler aus dem 17. | |
Jahrhundert. Martin Buber hat Teilübersetzungen seiner Geschichten gemacht. | |
Und Kafka auch, das ist gar nicht so bekannt. Aufregende Geschichten sind | |
das. Hier, mein Raoul Schrott 'Die Erfindung der Poesie', aus Enzensbergers | |
"Anderer Bibliothek". Ein wunderbares Buch ist das, sowohl inhaltlich als | |
auch in ästhetischer Hinsicht. Das habe ich mir geleistet. Und den Brecht | |
da, den habe ich mir damals gekauft, als er rauskam, obwohl ich kein Geld | |
hatte. Ich liebe Bücher sehr. Mein Geld gebe ich deshalb lieber für Bücher | |
aus und spare anderswo. Ich habe keinen Fernseher, kein Radio, keine | |
Zeitung, keinen Computer, kein Handy, nur meinen Festnetzanschluss. Meine | |
Musik höre ich auf der Anlage hier. Damit bin ich schon glücklich. | |
Und ihr wollt nun also wissen, was es mit dem Märchenerzählen auf sich hat? | |
Mein geschätzter Christoph Lichtenberg hat vor 250 Jahren gesagt: 'Nur | |
nicht mit dem Anfang anfangen!' Dazu, bevor ich also anfange, noch eine | |
kleine Geschichte: Ich war im Goethe-Institut eingeladen, in Göttingen, wo | |
ja Lichtenberg bis an sein Lebensende wohnte. Ich habe dort ein | |
Märchenseminar gemacht und mir natürlich auch Lichtenbergs Wohnhaus | |
angeschaut, und sein Denkmal, das zur 250-Jahr-Feier aufgestellt wurde. Es | |
zeigt ihn in Lebensgröße, so 1,52 etwa. Er steht auf einer Bodenplatte, | |
nicht auf einem Sockel, und für den Guss wurde ein Lenin in Aserbaidschan | |
eingeschmolzen." Sie schenkt Tee nach, reicht uns frische Minze dazu und | |
Kuchen, dann beginnt sie zu erzählen: | |
Die Frage, wann es bei mir angefangen hat, kann ich nur so rum beantworten: | |
Am Anfang war meine Großmutter. Das war eine wunderbare Frau. Sie hat mit | |
ihrem Erzählen - ich bin ja im Krieg geboren, und danach war es auch sehr | |
notdürftig - damit hat sie alles Ungute, alle dunklen Zeiten, alle | |
Entbehrungen vertrieben. Wir waren ausgebombt in Kassel und lebten | |
zwangseingewiesen bei Bauern. Im Winter war es unvorstellbar kalt, an den | |
Wänden glitzerte grüner Schimmel, die Fenster waren zugefroren und sahen | |
aus wie Spitzengardinen, im Bett hatten wir eine Strohmatratze. Die Füße | |
haben wir uns an einem heiß gemachten Stein gewärmt, und wenn ich im Bett | |
lag, dann hat meine Großmutter erzählt, vom Schloss, von der Schneekönigin. | |
Das alles bei Kerzenlicht. Und in der heißen Asche hat sie Kartoffeln | |
gegart. wenn sie hatte, gabs dazu Butter oder Dickmilch. Sie hat es alles | |
so gemacht, dass ich mich an eine Not nicht erinnern kann. Sie konnte | |
Balladen bis zur letzten Strophe und zahllose Märchen, die ich dann | |
teilweise wiedergefunden habe später bei den Grimms. Sie hatte das alles im | |
Kopf. Bücher gab es nicht bei uns. Vieles hat sie auch selbst erfunden. | |
Dabei hat sie nur vier Jahre die Schule besucht. | |
Sie hatte auch ein großes Wissen über die Natur. Sie kannte alles, was in | |
Wald und Feld essbar war. Wir gingen morgens los und kamen abends zurück. | |
Pilze, Beeren, Kräuter, Holz, alles haben wir gesammelt. Sie kannte auch | |
die Tiere, die Vögel und Insekten. Sie machte die Stimmen der Vögel nach | |
und hat behauptet, dass sie mit ihnen sprechen kann, die Sprache der Tiere | |
versteht. Oft gingen wir weite Wege und sie hat von den Zwergen unter der | |
Erde erzählt, von versteckten Schätzen, von Baumgeistern. Zu Hause in den | |
Pantoffeln wohnte der Hausgeist drin, der bekam immer eine süße Gabe | |
hingelegt, damit er zufrieden ist. Meine Oma war 1900 geboren und natürlich | |
gebeutelt durch zwei Weltkriege. Sie wusste, wie man sich in der Not | |
behelfen muss. Wenn ich in der Schule war, habe ich meine Schulspeisung mit | |
nach Hause genommen und sie mit der Großmutter geteilt. Manchmal habe ich | |
Mummelchen zu ihr gesagt, weil sie ja wie meine Mutter war. Sie hatte mich | |
ja zu sich genommen, weil ich unehelich war. Meine Mutter galt dann als | |
vermisst nach dem Bombardement. Meine Großmutter hat mich als ihr eigenes | |
Kind ausgegeben, auch in der Nachkriegszeit noch. Sie hat mich auch immer | |
getröstet. Es war so, dass die Dorfkinder uns Evakuierte aus der Stadt | |
nicht mochten, dort im hessischen Schwalmtal. Ich ging in eine, man nannte | |
das Zwergenschule. Vier Klassen wurden gemeinsam unterrichtet, das war | |
natürlich wunderbar, der Lehrer, ein großartiger Mensch, mochte mich. Bei | |
seiner Frau zu Hause durfte ich immer die Nadeln einfädeln. Sie war | |
Schneiderin. Im Haus des Lehrers und auch des Pfarrers, da habe ich mich | |
oft und gern aufgehalten, denn da gab es Bücher! Ich durfte sie lesen! Aber | |
die Geschichten meiner Großmutter stellten alles in den Schatten. Sie war | |
eine Frau mit großer Herzensbildung und sie hatte Achtung vor jedem | |
Lebewesen und jeder Pflanze. Un-Kräuter, sagte sie, gibt es nicht, unnütze | |
Tiere gibt es nicht. Jede Pflanze, jedes Tier hat seinen Sinn. Sie hat mir | |
sehr viele Dinge beigebracht und sie hat mir Lebensfreude, Sicherheit und | |
Selbstsicherheit gegeben. Das war meine 'Aussteuer', mein 'Guthaben' fürs | |
spätere Leben. Ich habe ja keine großartige Schulbildung, nur ganz normale | |
Volksschule. Meine Großmutter hat immer zu mir gesagt: 'Lerne was und | |
sammle keine Reichtümer. Die können über Nacht weg sein. Sammle Wissen!' | |
Das habe ich beherzigt und habe eine Hauswirtschaftslehre gemacht, mit 14, | |
in einem katholischen Krankenhaus im Ruhrgebiet. Diese Lehre dauerte zwei | |
Jahre lang. Zehn bis zwölf Stunden arbeiteten wir in der Küche, 1.400 Leute | |
waren zu versorgen von dieser Küche, die von drei Nonnen geleitet wurde. Es | |
war sehr anstrengend, aber ich war froh, dass ich das machen und da leben | |
konnte. Ich hatte ein Dreibettzimmer, mit zwei anderen Lehrlingen zusammen. | |
Wir bekamen 20 Mark Lehrgeld im Monat, die Schürzen und Häubchen wurden | |
gestellt. Ich wollte diese Lehre machen, weil ich hoffte, Kinderpflegerin | |
werden zu können. Da musste man damals zuvor noch ein Haushaltsjahr machen. | |
Und man musste dazu die Mittlere Reife haben. Also habe ich dann die | |
Kinderpflegerinnenausbildung angefangen, habe die Kinderpflegerinnenschule | |
besucht und bin abends zur Schule gegangen, um die Mittlere Reife | |
nachzumachen. Dadurch habe ich dann wieder zwölf Stunden und mehr am Tag | |
gearbeitet. Die Rektorin und die Prorektorin, die haben sich beide sehr um | |
mich gekümmert, sie haben für mich Anträge gestellt zur | |
Ausbildungsbeihilfe. Die beiden Frauen haben zusammen gelebt, und da habe | |
ich zum ersten Mal gesehen, dass es auch noch andere Lebensformen gibt. Das | |
waren tolle Frauen! Dann habe ich zu der Kinderpflegerinnenausbildung noch | |
ein Kindergärtnerinnenseminar absolviert und eine Erzieherausbildung | |
angefangen, auch auf dieser Frauenfachschule in Bochum, da war ich 17. | |
Also ich habe es als staatenloses Mädchen nicht einfach gehabt. Und ohne | |
diese beiden Frauen, Rektorin und Prorektorin, die immer für mich an die | |
Ämter die notwendigen Befürwortungen geschrieben haben, wäre das alles nie | |
gegangen mit meiner Ausbildung. Darf ich euch noch einschenken? Also, zu | |
meiner Staatenlosigkeit, es ist etwas kompliziert, aber nicht unwichtig: | |
Mein Vater war der Sohn meiner Großmutter und Deutscher. Meine Mutter wurde | |
1923 geboren, in Galizien, in der Nähe von Lemberg, als Polin. Das war ja | |
bis 1918 habsburgisch, deshalb war ihr Vater Österreicher und bei der | |
Österreichischen Reiterarmee. Er ist dann irgendwann nach Deutschland zum | |
Arbeiten gegangen, mit seinen zwei Töchtern. Meine Mutter lernte meinen | |
Vater kennen, als sie 17 war. Dann wurde ich geboren, unehelich. Ein | |
unehelich in Deutschland von einer Polin geborenes Kind galt als | |
staatenlos. Das durfte eigentlich gar nicht existieren. Deshalb hat meine | |
Oma mich aufgenommen und als ihr Kind ausgegeben, das war möglich in all | |
dem Wirrwarr. Und ein Jahr später, nach der großen Bombardierung von | |
Kassel, da galt meine Mutter als vermisst und totgeglaubt. Ihre Schwester | |
war ja auch umgekommen. Dass meine Mutter überlebt hatte, das erfuhr ich | |
erst mit 26 Jahren durchs Internationale Rote Kreuz, bei dem meine Mutter | |
einen Suchantrag gestellt hatte nach dem Krieg - ihr könnt euch sicher | |
erinnern, das wurde auch immer übers Radio durchgegeben, ich habe das auch | |
oft angehört, all die Namen und kleinen Geschichten ' wird gesucht, zuletzt | |
gesehen' Vom Roten Kreuz erfuhr ich, dass sie lebt. 1942 hatte sie | |
geglaubt, dass wir alle tot sind. Es war ja die ganze Stadt fast zerstört, | |
deshalb sind sie weggegangen, ihr Vater und sie. Zu Fuß über die Wälder und | |
Berge, bis nach Galizien. Über ein Jahr waren sie unterwegs gewesen und | |
immer unter Lebensgefahr. Meine Mutter konnte aber Deutsch, Polnisch und | |
Russisch, so konnten sie sich den jeweiligen Soldaten gegenüber immer als | |
Landsleute und Flüchtlinge ausgeben. Dann waren sie endlich zu Hause. Aber | |
1946 hat Stalin die gesamte polnische Bevölkerung aus Galizien | |
rausgeworfen. Ihre Heimat wurde ukrainisch und sie wurden in den ehemaligen | |
deutschen Ostgebieten angesiedelt. Meine Mutter in der Nähe von Stettin, wo | |
sie dann geheiratet und noch zwei Kinder bekommen hat. Von dem Mann, einem | |
Kriegsversehrten, der Alkoholiker war und gewalttätig, hat sie sich dann | |
getrennt. Das alles habe ich erst erfahren, als ich sie damals besuchte. | |
Sie lebte allein mit den Kindern auf dem Land, als Schrankenwärterin in | |
einem Schrankenwärterhaus, mit Gärtchen, Hund und Katze. | |
Das zu meiner Staatenlosigkeit. Großartige Frauen haben mich gerettet, | |
geprägt, gefördert. Ganz besonders meine Großmutter. Wenn man sich das | |
überlegt, sie hat zwei Weltkriege überstehen müssen mit allem, was | |
dazugehörte. Und was war sie für eine mutige und lebenslustige Frau! | |
Walzertanzen habe ich von ihr gelernt, sie war eigentlich immer fröhlich, | |
bis der Großvater zurückkam aus dem Krieg. Das ist eine dramatische | |
Geschichte. Der war als Minensucher eingesetzt an der Westfront und kam mit | |
nur einem Bein und einem Auge wieder, war vollkommen traumatisiert! Mit dem | |
konnte man eigentlich nicht mehr leben, es war schrecklich. Aber meine | |
Großmutter blieb bei ihrem Mann, sie sagte immer: 'Wer aus dem Krieg | |
zurückgekommen ist, ist kaputt. Das ist der Krieg! Ich habe einmal mein | |
Wort gegeben und ich halte mein Wort.' Ich war froh, als ich dann wegging | |
1956 zum Haushaltsjahr. Und mein Vater war ja auch so ein | |
kriegsbeschädigter Mensch. Mit 17, 18 ist er eingezogen worden und nach | |
wenigen Wochen in französische Gefangenschaft gekommen. Die Franzosen haben | |
- das wäre vielleicht auch mal eine Recherche wert - junge Kriegsgefangene | |
betrunken gemacht und sie unterschreiben lassen, dass sie sich für fünf | |
Jahre für die Fremdenlegion verpflichten. Er kam nach Indochina, nach | |
Vietnam. 1950 ist er mit starker Malaria zurückgekommen, vollkommen | |
verändert. Er hat sich in ein geordnetes Leben nie mehr einfügen können, | |
hat in Dortmund im Rotlichtmilieu gearbeitet. Sie nannten ihn 'Fernandel', | |
weil er so aussah wie dieser französische Schauspieler. Er hatte keinen | |
Führerschein, fuhr aber Auto. Er hat gesagt: 'Ich hab einen Panzer | |
gefahren, und die wollen für so ein Auto einen Führerschein, sind die | |
verrückt?!' Er hatte nur Schwierigkeiten und ist sehr früh gestorben. Mit | |
50, an seiner Malaria." | |
Die füllt unsere Teegläser und fährt fort: "So ohne Eltern aufzuwachsen war | |
für mich nicht einfach - trotz meiner Großmutter. Meine Heimat waren ihre | |
Geschichten und später die Bücher. Als ich kein eigenes Zimmer hatte oder | |
nur ganz schlechte Zimmer, bin ich immer in die Bibliotheken gegangen. Da | |
waren sie freundlich, keiner hat mich gestört beim Lesen. Ich bin auch viel | |
mit dem Rad herumgefahren. Einmal fuhr ich vom Ruhrgebiet nach Paris, das | |
wollte ich unbedingt sehen, aber ich hatte ja kein Geld. Von Jugendherberge | |
zu Jugendherberge fuhr ich. In Paris wurde mir das Rad dann geklaut, da | |
musste ich per Anhalter zurück. 1961 bin ich nach Berlin getrampt, in den | |
Osterferien. Nach langen Überprüfungen durfte ich einreisen mit meinem | |
Nansen-Pass und bekam ein Transitvisum. Ich war drei Wochen in Berlin und | |
habe in dieser Zeit mehr offene, anders lebende und anders denkende Leute | |
kennengelernt als in all den Jahren im Ruhrgebiet. Und ich habe gehört, | |
dass es ein Pestalozzi-Fröbel-Haus gibt, mit Ausbildung zum Erzieher. Ich | |
bin da hin, habe mir einen Studienplatz besorgt und bin übergesiedelt nach | |
Berlin. Fast die gesamte Ausbildungszeit über habe ich mit Amerikanern | |
gewohnt gegen Babysitterdienste. Ich hatte ein schmales Zimmer, Bett, | |
Schrank, Tisch, Stuhl, Dusche auf dem Flur. Es war im Winter total | |
überheizt. Wenn ich Babysitting hatte, durfte ich mich satt essen. Ich | |
bekam wenig Ausbildungsbeihilfe und habe viel gejobbt, Zeitungen verkauft, | |
Reklame eingelegt. Weihnachten habe ich Gläser gespült im Hilton. Dann habe | |
ich mein Examen gemacht am Pestalozzi-Fröbel-Haus. | |
Und jetzt folgt ein Sprung in meiner Schilderung, es ist aber auch einer in | |
meinem Leben. Ich habe schon immer sehr das Theater geliebt, war auch in | |
Bochum im Theater. Das war ein fortschrittliches Theater. Das alles | |
faszinierte mich sehr. Deshalb habe ich mich entschlossen, eine Ausbildung | |
zur Schauspielerin zu machen. Die habe ich sozusagen nebenher gemacht, | |
Privatunterricht genommen, bei wunderbaren Lehrerinnen. Und daneben eben | |
immer gearbeitet. Und 1965 habe ich dann vor der Deutschen | |
Bühnengenossenschaft - mein Prüfer war Erwin Piscator - die Prüfung | |
abgelegt. Das war ein wunderbarer Moment. 1966 habe ich meinen Sohn | |
bekommen und geheiratet, damit der Sohn nicht auch staatenlos wird. Meiner | |
Staatenlosigkeit war damit auch ein Ende gesetzt. Wir wollten uns gemeinsam | |
um alles kümmern, es hat aber nicht hingehauen. Ich habe dann eine Weile am | |
Theater gearbeitet, an der Schaubühne, bei den Wühlmäusen im politischen | |
Kabarett, aber der Verdienst war sehr mager, ich bekam immer nur | |
Stückverträge. 1967 war ich für drei Monate in New York mit meinem Sohn. | |
Ich habe mir das LaMama-Theater angesehen, das ist das berühmte | |
Experimentaltheater, Ellen Stewart hat es gegründet. Damals war sie etwa | |
50, eine fantastische Frau. Sie war ungeheuer freundlich, hat mich | |
eingeladen, bei ihr zu wohnen mit dem Kind. Der Kleine war im | |
Black-Panther-Kindergarten, und ich hätte ins Theater einsteigen können, | |
aber ich habe mich irgendwie nicht getraut mit dem Kind. Man konnte da ja | |
kein Geld verdienen. Alle Schauspieler haben gearbeitet, um Geld zu | |
verdienen, das war geradezu das Credo, sie wollten ganz unabhängig sein. Da | |
habe ich mir gesagt, Schluss damit! Ich habe ein Kind, ich gehe und | |
studiere Sozialpädagogik in Berlin und mache was Sinnvolles. 1971 habe ich | |
an der FHSS angefangen, neben dem Studium habe ich viel mit Kindern | |
gearbeitet. Stegreiftheater gemacht. Habe Knastarbeit gemacht - schon 62 | |
habe ich eine Theatergruppe im Jugendgefängnis gemacht - ich habe mich | |
immer auch politisch sehr engagiert im Sozialbereich, war für die | |
Veränderung der autoritären Heimstrukturen, gegen das Einsperren, ich war | |
engagiert beim Erzieherstreik 69. Und an der Fachhochschule für | |
Sozialarbeit war ich Studentenvertreterin, in freier, offener Wahl. Gelebt | |
habe ich mit meinem Sohn in der Wohngemeinschaft. 1975 habe ich meinen | |
Abschluss gemacht, und weil ich mein Kind gut versorgen wollte, bin ich | |
dann in die Familienberatung vom Arbeitskreis 'Neue Erziehung' | |
eingestiegen. Das ist ein freier Verband, 1946 von den Sozialdemokraten | |
gegründet, zur Förderung einer demokratischen Erziehung. Nach fünf Jahren | |
Familienberatung war ich dann aber so weit, dass ich aufstehen und weggehen | |
musste, wenn sich irgendwo am Nachbartisch Leute gestritten haben. Dann | |
habe ich meine Stelle geteilt, mit einem Kollegen, der vorher eine | |
anarchistische Zeitung mitbegründet hatte, der deshalb damals keine Arbeit | |
bekommen hätte. Das war die Zeit, wo die ganzen Überprüfungen stattgefunden | |
haben gegen Radikale usw. | |
Das war nun sehr gut für mich. Ich konnte etwas Neues tun, um meinen | |
Horizont zu erweitern. Ich hatte ja durch meine Ausbildung Hochschulzugang | |
und habe dann an der Freien Universität studiert. An eine Universität | |
wollte ich schon immer, als junges Mädchen bereits. Und nun hatte ich es | |
geschafft und war da, wo er nie hingekommen ist, mein hoch geschätzter | |
Maxim Gorki. 1980 habe ich angefangen. Ich bin zu den Philosophen gegangen, | |
zu den Theaterwissenschaftlern und dachte, oh, sind die langweilig! Die | |
wollten alle Lehrer werden, Schauspieler oder sonst was. Ich wollte nichts | |
werden, ich wollte mich bilden. Und dann bin ich da hin, wo man das konnte, | |
zu den Ethnologen. Und in den Vorlesungen des Religionswissenschaftlers | |
Heinrich - also das ist Religionsphilosophie - da war ich auch, das war | |
wunderbar! Das war meine Vorstellung von Universität. Bei den Ethnologen | |
war ich sieben Jahre lang. Die waren in so einer kleinen Villa mit Garten | |
und Kirschbaum. Ich habe mich beschäftigt mit den Mythen der Welt und mit | |
dem Schamanentum sibirischer Völker, bei Ivan Korrt, das war ein Russe. Es | |
war ein kleines Seminar, so 15 Leute, dominierend waren die Frauen. Ich | |
habe sehr viel gelernt und auch verstanden. Und das war eigentlich meine | |
Bildung. Meine Ausbildung war das andere: geprüfte Wirtschafterin, | |
Kinderpflegerin, Erzieherin, Sozialpädagogin, alles mit Examen, mit | |
Abschluss, mit Stempel. Sich zu bilden war wesentlich wohltuender, es ging | |
reibungslos und war wirklich erfüllend. Wochenendseminare unterm | |
Kirschbaum. Und ich habe dazu ganz viel Tee gekocht. | |
1984 bin ich dann zum ersten Mal nach Sibirien gefahren, mit Intourist und | |
sieben Freunden. Wir sagten, wir sind interessiert an Volksliteratur, | |
Märchen und Mythen der sibirischen Völker. Von Schamanen haben wir | |
natürlich nichts gesagt, die wurden ja verfolgt von den Sowjets. Also | |
wurden wir sehr unterstützt, bekamen einen guten Preis und sogar einen | |
Dolmetscher. Drei Wochen waren wir unterwegs. In der Transsibirischen | |
Eisenbahn habe ich abends immer die Märchen der Gegenden erzählt, durch die | |
wir fuhren. Die Samowarfrau brachte Tee und setzte sich zu uns, obwohl das | |
verboten war. Und ich habe erzählt an den Orten, die wir besucht haben. | |
Später habe ich noch viele solcher Reisen gemacht, immer mit einer kleinen | |
Gruppe märchenbegeisterter und kulturhistorisch interessierter Menschen: | |
von Moskau an den Amur; entlang der Seidenstraße; nach Mesopotamien, ins | |
heutige Syrien, den Irak - grade noch rechtzeitig vor dem Irakkrieg. Ich | |
nannte diese Reisen 'Blaue Karawane', so heißen deshalb auch die Bücher. | |
Unsere Kamele trugen sozusagen unseren Vorrat an Märchen, die ich unterwegs | |
erzählt habe, immer an den Orten, mit denen sie verbunden sind. 2005 waren | |
wir dann noch im Jemen. | |
Damals, 1984 nach der ersten Reise jedenfalls, da habe ich ganz klar | |
erkannt, nicht nur Kinder - wie Bettelheim sagte - brauchen Märchen, auch | |
Erwachsene brauchen Märchen! Bei den Ethnologen hatte ich gelernt, dass die | |
Funktion von Schamanen oder Schamaninnen - meist waren es ja Frauen oder | |
Zweigeschlechtliche - nicht nur darin bestand, den Kontakt zu den Ahnen | |
herzustellen, zu heilen und die Gemeinschaft zu schützen, sie waren auch | |
die lebendigen Bibliotheken ihres Volkes, die Chronisten, die Aufbewahrer. | |
Und, was ein sehr wichtiger Aspekt ist, sie haben mit ihrem Erzählen den | |
Winter, Schneestürme, Eiseskälte und bittere Not für eine Weile vergessen | |
gemacht. Die Jakuten, ein kleines sibirisches Volk, haben zum Beispiel | |
Erzählstoff für mindestens sieben Tage und Nächte. Das kam mir alles sehr | |
bekannt und vertraut vor aus meiner Kindheit, als die Großmutter durchs | |
Erzählen mich die Kälte und unsere Armut vergessen gemacht hat. Wie wohl | |
mir das tat und wie sehr es mich stabilisiert hat in meinem Leben, das war | |
mir bewusst. Ich kann das auch anderen vermitteln. Und so kam es, dass ich | |
Märchenerzählerin wurde. Ich dachte, ich bin Schauspielerin, | |
Sozialpädagogin und Ethnologin, ich habe all diese Kenntnisse und | |
Erfahrungen. Ich will es auf dieser Basis entwickeln, das Erzählen von | |
Märchen und Mythen für Erwachsene. Meine Erfahrung in der Familienberatung | |
war, dass viele Familien - und besonders Mittelstandsfamilien - ein großes | |
sprachliches Defizit haben. Und hier ist nicht Spracharmut, also ein | |
kleiner Wortschatz, das Problem, hier besteht das Problem in einer Armut | |
des Erzählens und des Zuhörens. Das ist einfach unter den Tisch gefallen im | |
Laufe der Zeit. Aber es gibt dieses Bedürfnis danach, und das wird eben | |
nicht gestillt durch die Unterhaltungsmedien. Ich habe dann in der | |
'Lernbrücke', das war eine Sprachschule, angefangen Märchen zu erzählen und | |
habe anderen beigebracht, Märchen zu erzählen. 1985 habe ich mit diesem | |
Märchenseminar begonnen, das über zwölf Jahre lang lief. Noch heute treffen | |
wir uns, seit fast 23 Jahren, die alte Seminar- und Reisegruppe. Es sind 13 | |
Frauen, die älteste ist inzwischen 82 Jahre. Ich habe Seminare an | |
Volkshochschulen gemacht, Seminare für Lehrer gemacht, für Elternvereine, | |
ich trage an Theatern vor und ich trage bei Veranstaltungen in den Museen | |
vor, einmal sogar vor dem wunderbaren Ischtar-Tor im Pergamon-Museum. Und | |
jetzt gerade, im November, habe ich im Rahmen der Berliner Märchentage | |
vorgetragen und u. a. Sagen und Schamanengeschichten der Samen erzählt. | |
Aber man bekommt natürlich nur sehr wenig Geld, oft gar keins. Ich habe mir | |
gesagt, ich will das in bestimmten Fällen auch schenken, diesen Luxus | |
erlaube ich mir. Beim LaMama-Theater hat mir das sehr gefallen, diese | |
Einstellung, wir erwirtschaften unsere Existenzgrundlage anderswo und sind | |
in der Kunst dafür ganz frei. | |
1985, als ich anfing, da gab es keine Märchenerzähler in diesem Sinn. Eine | |
der letzten, die es gab, war die große Märchenerzählerin Deutschlands, Lisa | |
Tetzner (1884-1963). Sie ist 1933 ins Exil gegangen, zusammen mit ihrem | |
Mann Kurt Kläber (1897-1959), der unter dem Pseudonym Kurt Held die | |
berühmte 'Rote Zora' geschrieben hat. Und, wenn ich die kleine Anmerkung | |
machen darf, in ihrem Haus, das nach dem Tod eine Stiftung wurde und das in | |
Corona im Tessin ist, durfte ich drei schöne und unbeschwerte | |
Arbeitsaufenthalte verbringen. Aber zurück! Ich hatte 1985 großen Zulauf, | |
habe meine ganz eigene Vortragsweise entwickelt und im Laufe der Jahre | |
viele Märchenerzählerinnen ausgebildet, also auch Eltern und Pädagogen, die | |
dann den Kindern erzählen. Ich hingegen erzähle nur für Erwachsene, mache | |
also keine Märchenabende im herkömmlichen Sinn. Ursprünglich waren die | |
Märchen ja für Erwachsene gedacht. Die edlen Demokraten Grimm haben ja zum | |
ersten Mal Märchen für Kinder passend gemacht und allzu Grausames und auch | |
die Erotik rausgenommen. Also ich erzähle für Erwachsene, aber ich erzähle | |
nicht nur Märchen, ich erzähle auch über den Kulturkreis ihrer Herkunft. | |
Bei allen Märchen, die ich erzähle, habe ich auch deren Herkunftsland | |
bereist. Immer mit kleinen Gruppen, denen ich eine kundige Führerin und | |
Erzählerin bin. Dafür habe ich die Reise und die Kosten frei. Die alten | |
Handelsstraßen sind mein roter Faden: Sibirien ist die Pelzstraße, China | |
die Seidenstraße. Erzähle ich sibirische Märchen, dann berichte ich über | |
Sibirien und meine Reisen. Erzähle ich die Märchen der Seidenstraße, dann | |
berichte ich von den Völkern der Seidenstraße und meinen Reisen entlang der | |
Seidenstraße, von Zentralchina bis zur Levante, von Isfahan, von Schiraz, | |
wo wir die Gräber der persischen Dichter Hafiz (1320-1398, Anm. G.G.), den | |
Goethe so sehr schätzte, und Saadi (1189-1282, G.G.) besuchten und wo ich | |
las und erzählte. Und ich berichte über unsere Reise auf der alten | |
Handelsroute vom Libanon nach Mesopotamien. Zu Bagdad erzähle ich eine | |
Geschichte aus der Zeit des Kalifen Harun ar Raschid. Und ich berichte von | |
den südlich von Bagdad gelegenen babylonischen Städten Uruk und Ur. Zu | |
Uruk, wo die sumerische Kultur entstand, wo Gilgamesch König war, da | |
erzähle ich natürlich vom Gilgamesch-Epos. Und zu Ur, da berichte ich von | |
Enheduanna, der ersten namentlich überlieferten Dichterin der Welt, sie | |
lebte im 24. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung. Ihr zu Ehren trage ich | |
ihre Hymnen an die Göttin Ianna vor. | |
Also ich schaffe so eine Verbindung zwischen dem Erzählen von Märchen und | |
Mythen, ihrem Ursprung und ihrem Ursprungsland heute. Im Zentrum steht mein | |
Erzählen, stehen meine Ausdrucksmittel, die Einbeziehung möglichst vieler | |
Sinne. Es gibt immer Tee. Der Samowar ist mein bester Mitarbeiter! Ich bin | |
festlich gekleidet, es gibt einen Leuchter, vielleicht einen Teppich, | |
meinen Stuhl aus Damaskus. Ich forme mit meiner Stimme, mit meinem ganzen | |
Körper die Erzählung, ich gehe herum oder ich sitze. Manchmal sitze ich | |
aber auch einfach nur mit den Leuten zusammen an einem Tisch und erzähle. | |
Man braucht ja eigentlich nichts weiter. Das ist ja das Gute! Und ich | |
praktiziere natürlich freies Erzählen, im Unterschied zur Europäischen | |
Märchengesellschaft, die auswendig Gelerntes vortragen lässt. Aber da sitzt | |
sie leider einem Irrtum auf. Wortgetreue Wiedergabe gab es bei Epen und | |
auch Mythen, besonders auch bei schriftlosen Völkern. Aber die Märchen | |
wurden traditionell immer variiert und verändert. Im Kleide der Märchen | |
wurden ja auch politische Botschaften versteckt und weitergetragen. Als | |
guter Erzähler galt zum Beispiel in China, wer variantenreich erzählte. Pú | |
Sung-ling, von dem ich vorhin kurz erzählt habe, der im 17. Jahrhundert in | |
China der Beamtenlaufbahn entsagt hat und auf Märkten und in Teehäusern | |
Geschichten sammelte und aufschrieb ("Merkwürdige Aufzeichnungen aus der | |
Amtsstube Zukunft", Anm. G.G.), der hat die Erzähler auch immer in sein | |
Haus eingeladen. Und vom Erzähler wurde nicht nur erwartet, dass er eine | |
individuelle Fassung der Geschichte lebendig vortrug, sondern auch, dass er | |
sie spontan improvisierend abwandeln konnte. | |
Und so halte ich es auch. Im Lauf der Jahre ist natürlich ein umfangreicher | |
Fundus an Märchen, Mythen und Geschichten zusammengekommen. Sehr vieles | |
kann ich auswendig. Orientalische Rezitatoren konnten 700 lange Gedichte | |
aus dem Gedächtnis vortragen. So viel kann ich natürlich nicht auswendig. | |
Aber dazu habe ich ja, wie die Tschuktschen es ausdrücken, diese kleinen, | |
schwarzen Striche, in denen die Märchen versteckt werden können, in meinen | |
Büchern und Texten dort im Regal." | |
25 Nov 2007 | |
## AUTOREN | |
Gabriele Goettle | |
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