| # taz.de -- Mit Lüftungsklappen in DIN A4: „Kaum größer als ein Sarg“ | |
| > Zwei Wochen unterwegs in Nordindien mit dem Rollenden Hotel, kurz Rotel | |
| > genannt. Die Schlafkabine bemisst sich auf bescheidene 65 mal 70 mal 190 | |
| > Zentimeter. | |
| Bild: Rollendes Hotel in Indien | |
| Möglicherweise habe ich gerade meine Großmutter erschlagen. Aber egal. | |
| Augenblicklich rückt Nachschub an - Moskitos. Ich ergebe mich meinem | |
| Schicksal. Gegenwehr aussichtslos. Zumal mein Bewegungsspielraum stark | |
| eingeschränkt ist. Er bemisst sich auf 65 mal 70 mal 190 Zentimeter. So | |
| groß sind hier die Schlafzimmer. | |
| Wir sind unterwegs in Nordindien. Von Reiseleiter Hermann haben wir bereits | |
| am ersten Tag gelernt, dass verstorbene Angehörige nach hinduistischem | |
| Glauben durchaus als Moskito wiedergeboren werden können. Was das Erlegen | |
| der Plagegeister zusätzlich erschwert: Bei jedem Schlag gegen die Wand | |
| könnte man seinen Nachbarn zu Tode erschrecken. Denn der liegt nur zwei | |
| Zentimeter Luftlinie weiter: neben, unter und/oder über einem. 18 Personen | |
| auf Tour mit einem Rollenden Hotel, kurz Rotel genannt. Ein Rollendes Hotel | |
| ist ein Anhänger mit 42 Schlafkabinen, jeweils 14 neben- und drei | |
| übereinander. Dieser Schlafanhänger wird von einem Bus mit ebenso vielen | |
| Sitzplätzen gezogen, zu fast allen erdenklichen Reisezielen weltweit. Bei | |
| unserer „kleinen“ Rotel-Variante für bis zu 20 Teilnehmer sind die Kabinen | |
| direkt im hinteren Teil des zwölf Meter langen Busses montiert. | |
| Als in Neu-Delhi die Klappen unseres Rotels das erste Mal geöffnet werden - | |
| eine nach oben, eine nach unten - trennt sich binnen Sekunden die Spreu vom | |
| Weizen, sprich die erfahrenen Rotelianer von den Neulingen. Mit | |
| routinierten Handgriffen montieren die „Erfahrenen“ die Stahlstützen unter | |
| der nach unten geklappten Rampe, die quasi das „Vorzimmer“ bildet. Ingeborg | |
| erstickt fast an ihrem Lachanfall, einer Mischung aus Fassungslosigkeit und | |
| Verzweiflung, als die Vorhänge zu den Kabinen aufgezogen werden. „Das ist | |
| ja kaum größer als ein Sarg.“ Die einzelnen Kabinen sind nicht breiter als | |
| sie in den Hüften. Die anderen Neulinge murmeln beim Anblick der | |
| Schlafgemächer Wörter wie „Karnickelstall“ oder „Brutkasten“. Die | |
| erfahrenen Rotelianer lächeln: „Das ist viel bequemer, als es auf den | |
| ersten Blick aussieht.“ | |
| Reiseleiter Hermann verteilt die Plätze. Die beliebtesten Kabinen sind | |
| offensichtlich die auf der mittleren, hüfthohen Ebene, in die man ohne | |
| große Anstrengung vorwärts hineinkrabbeln kann. Mit Anfang vierzig bei | |
| weitem der Jüngste der Gruppe, muss ich nach ganz oben. Der Einstieg klappt | |
| nur mit einer Methode - siehe Original-Rotel-Gebrauchsanweisung: „So | |
| schlüpft man richtig: Nach alter deutscher Art arbeitet man sich robbend | |
| zum Kopfkissen vor. Dann liegt man gut und bequem.“ Am Kopfende befindet | |
| sich ein DIN-A4-großes Fensterchen, das man in der Hoffnung auf Durchzug | |
| nachts aufklappen kann. | |
| Die erste Nacht ist eine Herausforderung - nicht nur für unerfahrene | |
| Teilnehmer. Nach tagsüber mehr als 40 Grad sind die Kabinen in der Nacht | |
| ordentlich aufgeheizt. Durchzug, Ventilator, Klimaanlage - Fehlanzeige. | |
| Nackt und verschwitzt starre ich an die Decke und hoffe, diese Nacht möge | |
| vorbei sein. Dazwischen erlege ich ein paar Moskitos. Doch Gegenwehr ist | |
| nutzlos. | |
| Eine Reise mit Rotel ist eine Mischung aus Klassenfahrt und Campingurlaub. | |
| Der Altersdurchschnitt der Reisegäste liegt deutlich über Mitte 50. | |
| Bereitschaft zu Geselligkeit ist unabdingbar. Wenn keine Besichtigungen auf | |
| dem Programm stehen, ist der Bus der Lebensmittelpunkt der Gruppe. Für gute | |
| Laune und positive Gruppendynamik sorgt Klaus, der nicht nur Fahrer, | |
| sondern auch Koch ist. Die Klappe am Heck heruntergeklappt - fertig ist | |
| sein morgendlicher und abendlicher Arbeitsplatz. Alle packen mit an: | |
| Gemeinsam werden Tische und Stühle aufgebaut, Gemüse geschnippelt und die | |
| großen Töpfe abgespült. Für sein Tellerchen ist jeder selbst | |
| verantwortlich. Zusammen mit Messer, Löffel, Gabel hat jeder am ersten Tag | |
| sein persönliches Essensgeschirr im roten Nylonbeutel bekommen. | |
| Wenn möglich, fährt Rotel zum Übernachten einen Campingplatz an. Da solche | |
| Einrichtungen in Nordindien unbekannt sind, wird der Bus in diesem Land | |
| nächtens auf den Grundstücken von Hotels geparkt. Das kann der | |
| beeindruckende Innenhof eines ehemaligen Maharadschapalastes sein, aber | |
| auch ein Schotterparkplatz neben einer stark befahrenen Hauptstraße. | |
| Rotel-Reisende nehmen solche Überraschungen gelassen: Sie sind weit | |
| gereist: Iran, Australien, Vietnam, Norwegen, USA ... | |
| Neuling Klaus kapituliert nach der ersten Nacht. Ab der zweiten nimmt er | |
| sich abends ein Hotelzimmer. Christoph zieht einen Tag später nach. Für | |
| Routinier Hans ist ein solches Verhalten nicht nachvollziehbar: „Wo ist das | |
| Problem?“ Er ist seit fast vier Jahrzehnten überzeugter Rotelianer, war | |
| 1969 bei der ersten Sahara-Durchquerung dabei. „Mit Rotel sieht man mehr | |
| als mit anderen Veranstaltern, und das für weniger Geld“, sagt Hans. | |
| Tatsächlich hat es das tägliche Besichtigungsprogramm in sich: Fünf | |
| Führungen in Tempeln und anderen Denkmälern pro Tag sind keine Seltenheit. | |
| Während der Fahrten zwischen den einzelnen Sehenswürdigkeiten referiert | |
| Reiseleiter Hermann ausführlich über Sitten und Gebräuche. | |
| Vielerorts ist das Auftauchen des großen roten Busses ein ähnlich | |
| spektakuläres Ereignis wie kurz nach seiner Erfindung vor fast 50 Jahren. | |
| Bei Zwischenstopps in kleinen Dörfern scharen sich binnen Sekunden Dutzende | |
| Menschen um das monströse Gefährt. | |
| 1.616 Reisekilometer stehen am Ende der knapp zweiwöchigen Reise durch | |
| Nordindien auf dem Tachometer. „Das ist vergleichsweise wenig“, sagt | |
| Routinier Bernd. „Im Iran haben wir in der gleichen Zeit mehr als 4.000 | |
| Kilometer gemacht.“ Es war wieder einmal eine „schöne Reise“, resümiert | |
| Otwin am Ende der zwei Wochen: „Mal schauen, wie lange es dauert, bis ich | |
| mich wieder an mein Bett gewöhnt habe.“ | |
| 25 Aug 2007 | |
| ## AUTOREN | |
| Volker Wartmann | |
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| Reiseland Indien | |
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