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# taz.de -- Nur mit Reisegenehmigung: Indiens Korridor nach Tibet
> Sikkim ist immer noch militärisch bewachte Grenzregion. Das Land mit dem
> dritthöchsten Berg der Welt bietet uralte Kultur und atemberaubende
> Landschaften.
Bild: Sikkim, Nordostindien
Bevor der Panzer zu sehen ist, hört man schon sein Getöse. Als das Ungetüm
dann um die Ecke biegt, tut es das schnell. So schnell, dass zwei
Straßenarbeiterinnen sich nur durch einen gewagten Sprung in Richtung
Bergwand in Sicherheit bringen können. Auf ihrem Rücken trägt jede einen
Säugling, der - mit Tüchern fest umwickelt - beim Springen mitwippt. Empört
gucken beide dem Monstrum hinterher: wieder neue Löcher in der Straße, die
sie mit Händen und Spaten flicken müssen.
Es ist die einzige Straße hier oben im Norden von Sikkim. Der kleinste
Bundesstaat Indiens ist etwa doppelt so groß wie Luxemburg, aber mit einer
halben Million Einwohnern dünn besiedelt. Würde man die Soldaten
mitrechnen, wäre die Zahl größer, denn alle paar Kilometer liegen
Militärcamps ober- und unterhalb der matschigen Straße. Wellblechbaracken,
die sich mit ihren braungrünen Anstrichen in die Landschaft einfügen. So
auch in Thangu, das 4.000 Meter hoch liegt und nur wenige Kilometer von der
Grenze nach Tibet entfernt. „Nicht fotografieren!“ und „Unsere Soldaten
geben ihr Leben für uns. Lasst uns ihr Blut rächen!“ steht auf den
Schildern, welche die indische Regierung hier in den felsigen Boden gerammt
hat. Selbst in den Sommermonaten ist es tagsüber in dieser kargen und
kalten Gegend kurz unterhalb der Himalaja-Gletscher knapp über null Grad.
Wenn der Schnee im November kommt, sinkt die Temperatur meist tief in die
Minusgrade.
Sikkim, das bis vor wenigen Jahren für Ausländer tabu war, öffnet sich dem
Tourismus. Es hat viel zu bieten: Trotz der Öffnung benötigen Touristen
immer noch das „Sikkim-Permit“, eine Reisegenehmigung, die nunmehr
problemlos zu bekommen ist. Wer allerdings ins Hinterland nahe der
tibetischen Grenze will - etwa zu den grimmigen Soldaten von Thangu -,
braucht eine weitere Genehmigung, die nur der Gruppenreisende bekommt. Kein
Eintritt für Individualreisende.
Die Unberührtheit hat vor allem mit der Grenzlage zu tun, die Sikkim zu
einem Frontstaat im regionalen Kalten Krieg macht: China erkennt Sikkim
nicht so recht als Teil Indiens an, und Indien erkennt Tibet nicht als Teil
Chinas an. Dabei nähern sich die beiden früher so unversöhnlichen
Großmachtkonkurrenten langsam an: Der von Thangu nicht weit entfernte
Grenzübergang am Nathula-Pass ist erstmals seit 1962 wieder geöffnet. Die
Straße an der ehemals hoch frequentierten Seidenhandelsroute ins tibetische
Lhasa war nach dem indisch-chinesischen Grenzkrieg geschlossen worden.
Anfang Juli dieses Jahres brummten nun die ersten Lkws seit über vierzig
Jahren wieder über die Piste, die mit 4.600 Metern Höhe zu den höchsten
Passstraßen der Welt gehört.
Ausgangspunkt für Jeep- oder Trekkingtouren in entlegene Gebiete ist die
Hauptstadt Gangtok auf knapp 1.900 Metern Seehöhe. Gut 50.000 Menschen
leben in dieser Stadt, die ihren Charme eingebüßt hat. Betonklötze und
andere Bausünden kleben an den Hängen, stellen die Klöster und den alten
Königspalast buchstäblich in ihre Schatten. Am oberen Ende der Stadt, die
so unindisch wirkt, weil sie außerordentlich überschaubar und sauber ist,
thront ein Funkturm, der seine Fühler bis nach Tibet ausstreckt. Auf der
Flaniermeile im Ort reihen sich Modegeschäfte an Fast-Food-Läden, die
Donuts und europäischen Filterkaffee verkaufen. Den traditionellen Sari
tragen nur noch wenige Frauen, Jeans und T-Shirts sind hier genauso normal
wie Rauchen auf offener Straße.Tomba, das traditionelle Bier aus
fermentierter Hirse, wird nur noch auf Anfrage serviert: Der moderne
Sikkimer trinkt King Fisher, ein indisches Bier, das in England gebraut
wird.
Die zahlreichen Agenturen in der Stadt besorgen die Papiere für entlegene
Gebiete und bieten Jeep-Touren und Trekkingwochen an - beides für 20 bis 30
Euro am Tag, inklusive Verpflegung, Auto, Führer und Unterkunft. Was
professionell klingt, ist oft äußerst einfach und originell: Fahrer, die
nur wenig Englisch sprechen, und Führer, die sich nur per Handzeichen
verständigen können, gehören dazu.
Vishnu arbeitet als Führerin in der Trekkingagentur ihres Mannes. Die
26-Jährige spricht nur die Landessprache der Sikkimer und dazu ein paar
Worte Englisch. Gerade ist sie mit einer kleinen Reisegruppe von Europäern
in Thangu unterwegs. Nur wenn ihr Mann nicht in der Nähe ist, ergreift die
junge Frau das Wort: „German good, British good, American good ... Kalkutta
not good“, sagt sie und schimpft in ihrer Sprache weiter auf die
westbengalischen Touristen aus der Oberschicht Kalkuttas. Nachts um drei
wollten die heißes Wasser haben. Dann stehe sie auf, empört sich Vishnu,
und setze den Kessel aufs Feuer. Auf ein „Dankeschön“ aber warte sie meist
vergeblich, das indische Kastensystem sei eben unerbittlich. Die Nacht
verbringt die Gruppe mit ihrer Führerin unweit des Militärcamps. Die Straße
vor der Herberge im skandinavischen Holzbaustil ist voller Blutegel, den
Kühen, die im Schlamm stehen, haben sie sich tief ins Fleisch gebohrt.
Von Thangu sind es nur wenige hundert Meter bis zu einem fruchtbaren
Hochtal auf 4.200 Metern Höhe. Hier oben wohnt der tibetische Flüchtling
Zigmee mit seiner Frau in einer Holzhütte. Ein Feuer, einige Scheite Holz,
ein Wasserkessel - mehr passt außer den beiden in die windschiefe Hütte
nicht hinein. Zigmee hat rote Wangen und verfilztes Haar, seine Kleidung
ist von der Arbeit draußen auf den Weiden schmutzig, seine Haut vom Wetter
gegerbt. Er gießt heißen Tee in eine Tasse, Tee mit etwas ranziger
Yakbutter. Stark gesalzen und eine Herausforderung für den europäischen
Gaumen.
Nur wenige Monate im Jahr kann er hier oben wohnen. Wenn im November der
Schnee kommt, wird es bitterkalt, und er zieht ins tiefere Tal, wo seine
Eltern leben. Das Verhältnis zwischen Militär und den wenigen Yak-Hirten
hier oben sei „medium“, sagt er und lächelt etwas gequält. „Aber wenn d…
Militär nicht wäre, hätten wir die Chinesen hier.“ Er erinnert sich nur zu
gut an den Horror, den die Horden Mao Tse-tungs im Nachbarstaat Tibet
seinerzeit verbreitet haben. China annektierte Tibet 1951, acht Jahre
später kam es zu einem Volksaufstand, den Maos Truppen dazu nutzten,
mordend und plündernd durchs Land zu ziehen - auch viele Mönche kamen um
und Klöster wurden zerstört. Zigmee verehrt den Dalai Lama, im Gegensatz zu
den Menschen in Tibet darf er das in Sikkim auch laut tun.
Noch mehr als 200 alte tibetische Klöster gibt es in Sikkim. Der kleine
Mönch Dzongten lebt seit einem Jahr in dem von Phodong, hoch über der
matschigen Straße von Gangtok nach Thangu. Das Kloster besteht aus einem
schlichten quadratischen Haupttempel in der Mitte des Platzes, darum herum
stehen die Wohn- und Wirtschaftsgebäude der Mönche. In der Schule, deren
eine Seite zum Tempelplatz hin offen ist, rezitieren Dzongten und seine
kleinen, kahl geschorenen Mitmönche sieben, acht Stunden am Tag
buddhistische Verse. Dabei beugen sie ihre in rote Gewänder gehüllten
Oberkörper vor und zurück, vor und zurück und vor und zurück. Wann immer
der Lehrer den Blick von ihnen abwendet, machen sie Quatsch wie alle
Schüler auf der Welt: Papierschnipsel werfen und den Nebenmann zwicken.
Dzongten erklärt, dass er in diesen zwei Klosterjahren kein weltliches Fach
lernt, keine Fremdsprache, keine Geschichte und keine Mathematik. Das müsse
so sein, ergänzt sein Lehrer, um Sikkims Traditionen gegen die Einflüsse
von außen zu schützen, die auch von den Touristen ins Land getragen werden.
Touristen dürfen sich bis zum Kloster Phodong in Eigenregie bewegen, also
ohne zusätzliche Genehmigung. Am Rande des Tempelplatzes steht seit kurzem
sogar ein Gästehaus, in dem sie unterkommen können (im Tourist Office in
Gangtok fragen). Wer Abgeschiedenheit sucht, ist hier richtig: Nur wenige
Kilometer hinter Dzongtens Schule und der klösterlichen Stille beginnt die
militärisch-frostige Ruhe eines eingefrorenen Grenzkonflikts, der langsam
auftaut.
30 Sep 2006
## AUTOREN
Martin Benninghoff
## TAGS
Reiseland Indien
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