# taz.de -- Ideengeschichte: Unser geliebter Sozialismus | |
> Die Geschichte einer heißen, aber vergeblichen Liebe. Die radikale Linke | |
> propagiert die sozialistische Revolution - und kommt über die Revolte | |
> nicht hinaus. | |
Bild: Rauch und Feuer vor dem Springer-Hochhaus (1968) - Revolution? Eher Revol… | |
Wie kam eine studentische Protestbewegung, die, ursprünglich adrett | |
gekleidet und gescheitelt, das Recht auf freie Meinungsäußerung auf dem | |
Campus und eine demokratische Reform der Universitäten einforderte, zum | |
Sozialismus als einer radikalen gesellschaftlichen Alternative? | |
Am Anfang steht eine Ausstoßung, der Ausschluss des Sozialistischen | |
Deutschen Studentenbundes (SDS) aus der SPD. Diese erzwungene | |
Selbstständigkeit zog wider Erwarten eine reale Selbstständigkeit nach | |
sich. Die Studenten, vor allem in den späteren "Sturmzentren" Frankfurt am | |
Main und Berlin, fühlten demokratisch, vertrauten, auch als Linke, der | |
parlamentarischen Demokratie. 1966 führte dann die große Koalition zum | |
Verlust des Bezugs zur parlamentarischen Ebene, zum Unvermögen des | |
Parlaments, gesellschaftliche Auseinandersetzungen abzubilden. Dieses | |
Unvermögen öffnete den Weg zur außerparlamentarischen Opposition. Die | |
Notstandsgesetze wurden von den Linken als tendenzielle Beseitigung der | |
parlamentarischen Demokratie gesehen, als schiefe Ebene hin zum autoritären | |
Staat. Und der offizielle politische Diskurs litt unter dem Schwinden | |
seiner Glaubwürdigkeit, nicht zuletzt, weil die westdeutsche Regierung die | |
amerikanische Massenschlächterei in Vietnam unterstützte. | |
Nach der Bildung der großen Koalition drängte sich im Milieu der Linken | |
geradezu der Gedanke auf, man könne fernab der staatlichen Institutionen | |
gesellschaftliche Probleme mit den Mitteln der Selbstorganisation lösen. | |
Gesagt - getan. Von der "Kritischen Universität" in Berlin über die | |
Projektgruppen, die seit dem 2. Juni 1967 Studium und politische | |
Aufklärungsarbeit unter der Bevölkerung zu verbinden suchten, bis hin zu | |
den damals entstehenden selbst verwalteten Kinderläden breitete sich eine | |
Gruppenkultur aus, die sich schroff von der als autoritär empfundenen | |
herrschenden Praxis abhob - dies im Zeichen kollektiver, demokratischer | |
Selbstbestimmung. | |
Zwischen dieser aktiv eingreifenden, "produktiven" Haltung und den | |
Vorstellungen einer zukünftigen Gesellschaft bestand eine Brücke. Sie wurde | |
von der Idee der gesellschaftlichen Selbstorganisation gebildet. | |
Sozialismus konnte für die Linken nicht der SED-Staatssozialismus sein, | |
dessen abschreckendes Beispiel ihnen täglich vor Augen stand. Aber | |
Sozialismus war für sie auch kein unbekanntes Zukunftsterrain, von dem nur | |
die unbefleckte Theorie kündet. Sozialismus, so dachten die Linken, wird | |
nur gelingen, wenn sich unter kapitalistischen, also heutigen Bedingungen | |
ein revolutionäres Bewusstsein herausbildet - durch Selbsttätigkeit. | |
Diese Selbsttätigkeit ging von einer Vernetzung unterschiedlicher | |
gesellschaftlicher Initiativen aus, die sich auch und gerade im staatlichen | |
Bereich einnisten sollten. Das Projekt des "langen Marschs durch die | |
Institutionen" war ursprünglich überhaupt nicht als Anpassung an das | |
kapitalistische Institutionensystem gedacht. Vielmehr sollten sich in den | |
Institutionen subversive Gruppen bilden, die Sand ins Getriebe streuen, | |
unterminieren, Verbündete gewinnen und Karrieren im Interesse der | |
Unterdrückten umbiegen sollten. In den freien Berufen war an sozialistische | |
Kollektive gedacht, Keime einer "revolutionären Berufspraxis". | |
Wo aber die Linken entscheidenden Einfluss gewinnen konnten, an den | |
Universitäten, in manchen Bereichen der öffentlichen Versorgung und der | |
Schulen, sollten sich wenigstens eine Zeit lang "befreite Gebiete" halten. | |
"Langer Marsch", "befreite Zonen" - Metaphern, die der chinesischen | |
Revolution entlehnt waren. Sie bezeugten nicht nur rhetorische Militanz, | |
sondern den Willen, sich revolutionäre Erfahrung - unter den Bedingungen | |
einer entwickelten kapitalistischen Gesellschaft - zu eigen zu machen. | |
Die Maulwurfsarbeit, die die Linken initiierten, schloss keinen | |
gesellschaftlichen Sektor aus, nicht einmal sicher geglaubte Domänen der | |
Bourgeoisie. Aber im Zentrum der Bemühungen zur Selbstorganisation sollten | |
die "unmittelbaren Produzenten" stehen. Warum eigentlich? Wieso diese | |
Hinwendung zu einer Vorstellung der Arbeiterklasse, die vor der Revolte als | |
obsolet empfunden worden war? Nicht wenige der Studenten, die dem | |
Arbeitermilieu entstammten, verfolgten diese Wendung teils mit gutmütigem | |
Spott, teils mit Unglauben. Aber gar so abseitig waren diese Mühen nicht. | |
Unter jungen Arbeitern und Lehrlingen ("Azubis", wie sie später genannt | |
wurden) fiel der antiautoritäre, auf Selbstorganisation gerichtete Impuls | |
der Studentenbewegung auf fruchtbaren Boden. Und über die Unzufriedenheit | |
vieler ArbeiterInnen mit ihrer gewerkschaftlichen Führung war auch jenseits | |
der Betriebsgelände einiges Aufregende in Erfahrung zu bringen. | |
Diesem Ziel, Erfahrungen zu sammeln und sie organisatorisch umzumünzen, | |
dienten die "Basisguppen", die sich seit Sommer 1968 bei Berliner | |
Großbetrieben ansiedelten, die Studenten und junge Arbeiter | |
zusammenführten. | |
Die Vorstellung der Selbstorganisation kreiste hier um die | |
Arbeiterkontrolle, eine vertraute Forderung aus dem linkssozialistischen | |
Milieu, wo sie traditionell die Herrschaft der ArbeiterInnen über | |
Arbeitsabläufe bedeutet hatte. Jetzt aber gewann sie eine umfassende, sich | |
an der Idee der Arbeiterräte orientierende Bedeutung. | |
Solche Räte entsprangen nicht nur der historischen Reminiszenz. Sie hatten | |
die ungarische Revolution 1956 ebenso begleitet wie später den Prager | |
Frühling von 1968. Die Faszination, die von Fabrikbesetzungen und der | |
Fortführung der Produktion durch die Arbeiter ausging, zeugte von diesem | |
Kollektiv-Imaginären. | |
Die Arbeiterselbstverwaltung ging im Denken der Linken zusammen mit den | |
technischen Möglichkeiten der Planung auf betrieblicher wie | |
gesellschaftlicher Ebene. Die Fusion von technisch vermittelter | |
Beherrschbarkeit von Organisation/Produktion und Produzentendemokratie | |
stand dabei im Zentrum der Überlegungen. | |
Auf der staatlichen Ebene erschien den radikalen Linken das Rätesystem als | |
gangbare Alternative zum sinnentleerten Parlamentarismus. Die Räte waren | |
als gesetzgebende und vollziehende Gewalt gedacht, das Mandat war | |
basisbezogen, sie selbst waren jederzeit rückrufbar. Allgemein wurde die | |
Pariser Kommune von den Linken als Keimzelle des Rätesystems gesehen, wie | |
auch die Proklamation der kurzlebigen Schanghaier Kommune während der | |
Kulturrevolution als Wetterleuchten einer künftigen Organisation des | |
"Nochstaates" begriffen wurde. Die radikale Linke verwarf die | |
Arbeitsteilung, soweit sie zur Herausbildung einer bürokratischen | |
Staatskaste geführt hatte. Lenins am Vorabend der russischen Revolution | |
geäußerte Vorstellung, jede Köchin müsse in der Lage sein, die | |
Staatsgeschäfte zu leiten, galt den radikalen Linken nicht als Apercu, | |
sondern als objektiv mögliches Projekt. Dieser Kult der Unmittelbarkeit, | |
die Absolutsetzung der direkten Demokratie, entsprach der Massendemokratie | |
auf dem studentischen Campus, die tatsächlich drei Jahre lang | |
funktionierte. | |
Die Vorstellung vom Sozialismus/Kommunismus wurde nicht in Etappen gedacht. | |
Sie wurde von der Annahme eines gesetzmäßigen Übergangs befreit. | |
Fortschritt lag nicht objektiv in der gesellschaftlichen Entwicklung | |
begründet, sondern die historische Kontingenz, das mögliche Scheitern, | |
wurde stets mitbedacht. | |
Der Kapitalismus galt als überreif, wovon die Beliebtheit der Formel "S&F" | |
("Stagnation und Fäulnis") zeugte. Welcher ökonomischen Theorie die | |
radikalen Linken auch anhingen, ihnen allen war gemeinsam, dass sie die | |
ökonomische Krise von 1966/67 nicht als ein normales Tief im | |
Konjunkturzyklus deuteten, sondern als das "Ende des Wirtschaftswunders", | |
als Zäsur mit allen auch politisch fatalen Folgen. Innerhalb der Linken | |
wurde die Vorstellung vom Umschlagen kapitalistischer Produktivkräfte in | |
Destruktivkräfte populär. Dem gegenüber galt es, im Sozialismus vom | |
Tauschwert als Bezugsgröße abzugehen und den Gebrauchswert, die Herstellung | |
gesellschaftlich nützlicher Produkte, als alleiniges Kriterium der | |
Produktion zu etablieren. Die radikalisierten Linken aller Couleurs einte | |
damals das Gefühl, als politische Akteure inmitten einer ungeheuer | |
beschleunigten gesellschaftlichen Entwicklung zu handeln und Teil einer | |
weltweiten revolutionären Bewegung zu sein. | |
Die Erstürmung der Zitadelle von Hue durch die vietnamesischen | |
Befreiungsstreitkräfte im Februar 1968 wurde als ein Ereignis erlebt, dem | |
man unmittelbare Bedeutung für die eigene politische Praxis, ja die eigene | |
politische Existenz zuschrieb. Die marxistische Orthodoxie war von festen | |
raumzeitlichen Koordinaten ausgegangen, festgelegten Etappen im zeitlichen | |
Ablauf des revolutionären Prozesses, festgelegten Bündniskonstellationen im | |
"sozialen Raum". Die sozialistische Revolution als notwendiges Ergebnis der | |
kapitalistischen Krisenentwicklung. | |
Für die Aktivisten des Jahres 1968 galt dieses lineare Dahinfließen der | |
Zeit nicht mehr. Sie glaubten, als Handelnde in einem "erfüllten | |
Augenblick" zu leben, in dem das Jetzt nicht nur ein flüchtiges | |
Durchgangsstadium ist, sondern Vergangenheit und Zukunft zusammenfließen. | |
Ein seelischer Zustand, in dem - in der Französischen Revolution - die | |
Revolutionäre auf Turmuhren schossen, um den Lauf der Zeit anzuhalten. | |
Hierfür hatten die (zahlreichen) Philosophiestudenten unter den radikalen | |
Linken einen Begriff der antiken Philosophie: Kairos. | |
Wie die Zukunft für die Linken Studenten kein festgelegtes Ergebnis hatte, | |
so war auch die Geschichte kein Buch, das - aufgeschlagen und richtig | |
gelesen - revolutionäre Lehren bereithielt. Denn Geschichte wurde von den | |
Siegern geschrieben, auch die linke Geschichte. Deshalb galt es, den Spuren | |
der Verfemten und Ausgeschlossenen, der Exilierten nachzugehen, sie wie | |
Archäologen dem Trümmerschutt zu entreißen. Zu ihnen, Karl Korsch etwa oder | |
Georg Lukács, entwickelten die revolutionären Linken eine geradezu intime | |
Beziehung. Man sprach, verhandelte, haderte mit ihnen, als hätten sie an | |
den Kämpfen der Gegenwart als Zeitgenossen teil. | |
Die Selbstgewissheit sowie ihr folgend die Selbstermächtigung von ein paar | |
tausend linken Intellektuellen zum Motor der sozialistischen Revolution in | |
der Bundesrepublik war stets in Gefahr, die Grenzen zum Größenwahn zu | |
überschreiten. Wie die eigene produktive Arbeit, selbstbestimmte linke | |
Kerne in der Gesellschaft zu pflanzen, in ihrer Wirksamkeit überschätzt | |
wurde, so traute man dem Kapitalismus und seinem Staat in der | |
Bundesrepublik keine neue Dynamik zu. Das rächte sich mit dem Machtantritt | |
der sozialliberalen Koalition und dem demokratischen wie ökonomischen | |
Reformpotenzial, das ihr zumindest anfangs zugetraut wurde. | |
Die Vorstellung von der "Aktualität des Kommunismus", so der Titel einer | |
bekannten Arbeit Rossana Rossandas, verdrängte die unbequeme, aber nicht | |
wegzuleugnende Tatsache, dass überkommene Institutionen nicht einfach | |
Instrumente der herrschenden Klasse, sondern, wie die Idee des | |
Rechtsstaats, das Produkt eines langwierigen Zivilisationsprozesses sind. | |
Die radikale Linke war antiinstitutionell, wie auch ihr sozialistisches | |
"Projekt" von der Selbstorganisation "der Massen" und deren Bedürfnissen | |
getragen war. Dem hatte die Organisationsarbeit sich anzupassen. Dieser | |
Antiinstitutionalismus machte in den Jahren 1966 bis 1969 das Anziehende | |
der linken Idee von Sozialismus aus, verbürgte aber auch ihr Scheitern. | |
Die radikalen Linken konnten das Problem einer Verstetigung des | |
revolutionären Prozesses nicht lösen. Niemand wollte sich 1969 schlafen | |
legen, und es bestand breite Übereinstimmung darin, die soziale Basis der | |
Revolte zu verbreitern. Aber wie, kraft welcher organisatorischen | |
Anstrengung? Wie konnte es gelingen, den entpolitisierenden Wirkungen der | |
kapitalistischen Subkultur entgegenzutreten? Ein Teil der Linken schwenkte | |
ab zu den traditionellen Organisationsformen der Arbeiterbewegung, ein | |
zweiter setzte weiter auf linke gesellschaftliche Selbstorganisation, jetzt | |
im Bündnis mit Teilen der Gewerkschaft, und ein dritter wandte sich der | |
Neugründung von kommunistischen Bünden und Parteien zu. Politisch ist es | |
keiner dieser Gruppen gelungen, ihre ursprüngliche Idee des Sozialismus | |
über die Zeiten der Revolte hinaus am Leben zu erhalten. | |
29 Dec 2007 | |
## AUTOREN | |
Christian Semler | |
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