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# taz.de -- Theoriebildung: Adornos Geheimnis
> Kritisches Bewusstsein nach dem Geschmack Adornos war 68 modisch. Auch
> das musste scheitern!
Bild: Hatte eine eher oberflächliche Gefolgschaft: Theodor W. Adorno
Was man erwarb in dieser Schule, das stand fest, war kritisches
Bewusstsein. Die hübsche blonde B. - immer wieder erzähle ich es - wurde,
es waren die Sechzigerjahre, von dem schon leicht abgebrühten Assistenten
befragt, auf der Straßenbahnfahrt in die Frankfurter Innenstadt, ins Kino,
warum sie Soziologie als Fach gewählt habe?
Um die Gesellschaft zu durchschauen!, antwortete die B. strahlend. Den
Begriff der Gesellschaft selbst entwickelte die Schule als einen durch und
durch kritischen. Gesellschaft, das war nicht, womit heute jeder
Leserbriefschreiber und Talkshowgast sich auskennt, "unsere Gesellschaft",
die hier die kleinen Kinder und dort die Bildung und stets die
Gerechtigkeit im Auge behalten sollte, nein, Gesellschaft, darunter stellte
man sich eine Art Monster vor, das dich von innen ebenso wie von außen
auffrisst. Prof. Freud respektive seine Schülerin Melanie Klein hätten im
Hintergrund wohl die präödipale Mutter erkannt, mit dem der Säugling in
ebenso nährender wie vergiftender Symbiose lebt und von der sich
abzutrennen ganz unmöglich ist.
"Heute nähert sich", so ein Grundsatzartikel von 1956, "insbesondere auch
durch die Fortschritte der Verkehrstechnik und die technologisch absehbare
Dezentralisierung der Industrie, die Vergesellschaftung der Menschheit
einem Maximum: Was noch draußenExotisches noch wahrhaft unangefochten
existierte." Doch wirkte der innere Fraß noch bedrohlicher: "In jedem
Einzelnen wird immer weniger Unerfasstes, von der sozialen Kontrolle
Unabhängiges geduldet, und es ist fraglich, wie weit es sich überhaupt noch
zu bilden vermag." Dagegen musste man doch Widerstand leisten, gegen diese
innerliche Kolonisierung und Unterwerfung. Der allgegenwärtigen
Manipulation durch die Kulturindustrie in konkreten Analysen die Macht der
bestimmten Negation entgegensetzend, hielt man wenigstens das Wissen von
Einzelnen am Leben, dass dies nicht die wirkliche Wirklichkeit ist.
scheint, verdankt seine Exterritorialität mehr der Duldung oder der
planenden Absicht, als dass ein
Warum diese Diagnose einer Vergesellschaftung, die das Individuum und die
Gesellschaft unwiderstehlich vernichtet, für das Lebensgefühl der Sechziger
eine so überwältigende Plausibilität gewinnen konnte, bleibt rätselhaft.
Das Lebensgefühl jedenfalls inspirierte 68 und findet sich noch in den
absurden Weiterungen der K-Gruppen und der RAF.
Aber bleiben wir beim Novizen. Das kritische Bewusstsein mittels bestimmter
Negation zu erwerben, gelang rasch. Die Kulturindustrie der Bundesrepublik
rekrutierte ihre Mitarbeiter erst selten aus der Frankfurter Schule, wir
waren von alten Nazis und wiedergeborenen Christen umstellt. Wer Robert
Gernhardts Texte für die avantgardistische Zeitschrift Pardon liest,
gewinnt eine lebendige Anschauung. Die Kritische Theorie inspirierte
unmittelbar die journalistische Praxis, und der jugendliche
Gesellschaftskritiker vergnügte sich sommers im Freibad, indem er der
Liebsten aus Pardon vorlas. Komm, lass uns die Gesellschaft durchschauen.
Doch blieb dem Novizen die Ahnung, dass er Theodor W. Adorno nur
oberflächlich folgte. Die Seminare über Kant und Hegel lehrten, dass es um
mehr ging als Fernsehen als Ideologie oder Sexualtabus heute oder die Tabus
über dem Lehrberuf. Die Gesellschaft als Schuld- und
Verblendungszusammenhang wucherte in Dimensionen hinein, die dem Lachen im
Freibad verschlossen blieben. Dabei ging es vor allem um Kunst.
Der Novize hielt Kontakt zu ihren neuesten Erscheinungen. Dass die
abstrakte Malerei und die reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen von
Nazikonvertiten als nihilistisch und gottlos beklagt wurde, kam ihm gerade
recht. Abstrakte Maler und reimlose Lyriker gehörten Anfang der Sechziger
zweifelsfrei zu den Good Guys. Der Novize besuchte die Poetikvorlesungen,
die in diesem Semester Helmut Heißenbüttel an der Universität hielt; er
besaß Erstausgaben von Paul Celans Gedichtbüchern; schon als Schüler
besichtigte er in Kassel die documenta. Moderne Kunst, so verstand er
Adorno, erzeugt das kritische Bewusstsein, mittels dessen der Einzelne dem
Fraß der Vergesellschaftung widersteht, unmittelbar. Allerdings passten
Adornos Lehren so gar nicht mit dem Kino zusammen, das der Novize und
seinesgleichen mehrfach in der Woche mit einer Dringlichkeit aufsuchten,
als stünde Erlösung an.
Wenn Adorno über Kunst als Transzendenz schrieb oder sprach, dann ging es
vor allem um Musik. Natürlich nicht um die damals so genannte Beatmusik,
die dem Novizen unmittelbar als die seine erschien, während Adorno mit
seiner gleichförmig präzisen Stimme in der Vorlesung gestern über das
Geblöke Heideggers und das der Beatles, die das Immergleiche seien, doziert
hatte. Was er über den Jazz schrieb, übergingen Novizen, die was davon
verstanden, stillschweigend und verdrückten sich nächtens in den
Jazzkeller, den man in der Kleinen Bockenheimer Straße fand.
Kunst, darunter verstand Adorno vor allem die Musik Schönbergs, Alban
Bergs, Anton von Weberns, Musik, die er selber zu schreiben versuchte. Eine
in sich unmögliche Musik an der Grenze zum Schweigen; denn in der Tradition
des Komponierens und seiner Regeln wirkte ja gleichfalls - ich kürze ab -
die falsche, die negative Vergesellschaftung sich aus. In der Literatur kam
Samuel Beckett einem Schreiben, das Schweigen ist, am nächsten. Und die
Novizen, die sich in der Gewerkschaftsarbeit oder - was damals ultrahip war
- in der politischen Jugendbildung engagierten, verdächtigten Adornos
kleinen Kreis der Esoterik und des Hermetismus. Während unsereins zu
verstehen und in kritisches Bewusstsein zu transformieren versuchte, was
Adorno in seinen Vorlesungen und Seminaren über Kant und Hegel und den
Begriff der Gesellschaft ausführte, teilte er mit seinem kleinen Kreis beim
Musikhören die Wahrheit unmittelbar.
Erst Jahre später habe ich, Pierre Bourdieus unwiderstehliche
Beschreibungen des Klassenkampfes in der Kultur studierend, hier Aufklärung
erhalten. Die Musik von Webern und Zemlinsky und Adorno mag überirdisch
schön sein, in dem Augenblick, da sie den Innenraum des Individuums
verlässt und in die gesellschaftliche Kommunikation eintritt, nimmt sie
teil an den Distinktionskämpfen, in denen die Kulturgüter zum Einsatz
kommen. Wenn Adornos kleiner Kreis, zu dem unsereins nie gehören würde, in
hermetischen Gesprächen den wahrhaft avancierten Kunstwerken ihren
Wahrheitsgehalt ablauschte, dann agierten sie keineswegs als Statthalter
des gesellschaftlichen Gesamtsubjekts, als geistiges Politbüro.
Soziologisch gesehen prätendierten sie bloß eine Distinktion jenseits der
Distinktionen, was persönlich Freude machen kann, aber zur Befreiung der
Menschheit nichts beiträgt.
Schaut man sich etwa die "Einleitung in die Musiksoziologie" (1962) an, so
kommt man bald darauf, dass im Grunde kein vergesellschaftetes Individuum
Musik, die dem Begriff entspricht, adäquat zu hören vermag. Angemessen
Musik zu hören, das bewirkt eine Individuation, die das Individuum dem
gesellschaftlichen Verblendungszusammenhang überhaupt entreißt. Aber der
ist universal. Man hat Adornos "Ästhetische Theorie" (1970) eine negative
Theologie der Kunst genannt. Die höchste Wahrheit ist unerreichbar. Aber
wer sich ihr nähert, wird der höchsten Macht inne.
Kein Wunder, dass die Revolte sich ohne Hemmung der Beatmusik verschrieb.
Und besinnungslos oft ins Kino ging.
21 Dec 2007
## AUTOREN
Michael Rutschky
## TAGS
68er
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