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# taz.de -- Kulturrevolution: Das war das Leben!
> Nicht Politkader, die Hippies waren die eigentlichen Revolutionäre wider
> die Spießer - zumindest für Jugendliche in der Provinz.
Bild: Lieber Hendrix als Hegel - klar!
Vierzehn war ich, ging aufs altsprachliche Gymnasium einer katholischen
Kleinstadt und wurde vom Vizedirektor Dr. Henke einmal so geschlagen, dass
ich aus beiden Nasenlöchern blutete. Vor der großen Pause hatte ich meinen
Turnbeutel nicht am Haken aufgehängt, sondern auf den Boden gelegt. Das war
sein Grund. Jahre zuvor, auf der Volksschule, hatten Lehrer noch mit dem
Rohrstock geprügelt; einem Schulkameraden wurde mit einer Ohrfeige das
Trommelfell zertrümmert, ein anderer von einem Schlüsselbund eines Lehrers
am Auge getroffen.
So ging es zu in deutschen Bildungsstätten der Sechziger, autoritär und
brutal, was kaum wundert, denn gut die Hälfte des Lehrerkollegiums bestand
aus ehemaligen Nazis. Sie hatten vielleicht Teile ihrer einstigen Gesinnung
abgelegt, nicht aber ihre Vorstellungen von Ordnung, die sie natürlich auch
an die Referendare und Junglehrer weiterzugeben versuchten. Und dieses Erbe
wäre wohl bis heute nicht gestoppt (Bayern schaffte die Prügelstrafe erst
1980 ab), hätte die antiautoritäre Bewegung dieser gewalttätigen Pädagogik
nicht ein für alle Mal ein Ende gesetzt.
Dass Schlägertypen wie der Vizedirektor einst höhere Tiere der lokalen SS
waren, erfuhr ich erst später, aber es passte ins Bild, dass er - nachdem
Schülervertreter für das Schulfest statt Geigenorchester und Schulchor eine
"Beatband" durchgesetzt hatten - das Konzert stoppte, indem er den Strom in
der Turnhalle abdrehte. Oder den Chef der Schülerzeitung von der Schule
werfen wollte, weil er Texte über Empfängnisverhütung gedruckt hatte.
Kein Sex, kein Rock n Roll und als einzige Droge der Suff - wen wundert es
da noch, dass von faschistoiden Spießern gepeinigte Jugendliche in der
deutschen Provinz die Verheißungen von 68 aufsaugten wie Manna in der
Wüste. Politik spielte nicht die Hauptrolle, wobei man aber auch schon als
Vierzehnjähriger irgendwie bezweifelte, dass "unsere Freiheit" durch das
Bombardieren von Reisbauern in Vietnam verteidigt werden musste. Mit
Antiamerikanismus hatte das nichts zu tun - im Gegenteil war ja alles aus
Amerika großartig -, sondern einfach mit Gerechtigkeitsempfinden.
"Unsere Freiheit" mussten wir zentimeterweise erkämpfen: als Junge um die
Länge der Haare und als Mädchen um die Kürze der Röcke; Freiheit war auch,
statt Schlager im Radio AFN (American Forces Network) zu hören, den
einzigen Sender mit Popmusik. Als die Idee, im Sommer 1969 mit drei
Freunden nach Amsterdam zu fahren, von allen Eltern abgelehnt wurde,
entsannen wir uns unserer Mitgliedschaft bei den Pfadfindern - ein
Zeltlager mit Radtour am Niederrhein wurde genehmigt.
So radelten wir unerlaubt in zwei Tagen nach Amsterdam. Im Vondelpark
tanzten Hippies, im Bahnhofsviertel posierten - unfassbar! - Prostituierte
in Schaufenstern, und am Abend im "Paradiso", als die Band gerade zu
spielen anfing, tippte mir ein Schwarzer mit Bart und Afromähne auf die
Schulter, grinste und reichte mir den ersten Joint meines Lebens. Im
"Paradiso" waren wir nun jede Nacht, und wenn es um 3 Uhr schloss, radelten
wir auf den Campingplatz, sammelten das Leergut vor sämtlichen Zelten ein
und finanzierten mit dem Pfandgeld den Eintritt für den nächsten Abend.
Von einer Wirkung des Haschischs verspürte ich erst mal wenig bis nichts,
dafür war das Ritual und das ganze Umfeld umso beeindruckender. Die Musik,
die psychedelischen Lightshows, die wunderschönen Frauen, die Hippiewelt -
von San Francisco kommend war der "Summer of Love" in Europa gelandet und
wir, eben noch Pfadfinder à la Fähnleinführer Fieselschweif, waren mit
einem Mal mittendrin. Das war das Leben!
Im Kino sahen wir "Easy Rider", und am Ende, als Peter Fonda und Dennis
Hopper von spießigen Farmern einfach abgeknallt werden, musste ich an
unseren Vizedirektor denken. Das waren die Gegner, die meiner, unserer
Freiheit entgegenstanden. Wir kauften uns Bananenlenker und fühlten uns auf
den Fahrrädern wie Easy Rider auf ihren Harley-Choppern. Und am Ende
reichte das nächtlich erbeutete Pfandgeld auch noch für zwei Gramm
Haschisch, das ich in einer präparierten Klopapierrolle nach Hause
schmuggelte.
Ich hütete es wie einen Schatz, nur mit den allerbesten Freunden in absolut
sicherer Umgebung wurde in winzigen Portionen davon geraucht. Immer noch
war das Ritual wichtiger als die eigentliche Wirkung, an die man sich erst
mal herantasten musste - aber mit dem verbotenen Rauch inhalierten wir den
Geist der neuen Zeit: weniger Ideologien und Parolen, sondern Haltungen,
Kultur und Lebensstil, vermittelt weniger über Verstand und Vernunft, als
über Sinne und Gefühle. Das war das eigentlich Neue, Grenzüberschreitende
und - für uns Teenager in der Provinz - eigentlich Revolutionäre.
Die Studenten, die Demos und Dutschke waren weit weg, unsere Politisierung
fing damit an, den Friseur zu verweigern und im Sommer in batikgefärbten
ärmellosen Unterhemden - T-Shirts gabs noch nicht - zur Schule zu gehen.
Und daneben unsere Sinne zu erweitern: mit Sex, Drogen und Rock n Roll.
Unsere Helden waren nicht die Politniks und Kommunisten, sondern die
Beatniks und Kommunarden.
Ein paar Jahre später, als Politikstudent in Berlin, erfuhr ich dann, dass
es sich bei dem, was ich mir unter Freiheit vorstellte, nur um
Dekadenzerscheinungen des bürgerlichen Mittelstands handelt, da die wahre
Revolution angeblich nur an der Seite des Proletariats erkämpft werden
kann. Doch in den verschiedenen "Kapital"-Kursen und marxistischen Gruppen,
die ich so durchlief, ging es fast genauso verkrampft wie zuvor auf dem
Gymnasium, Lachen war verboten - und richtig feiern konnten diese
Kommunistenköpfe irgendwie auch nicht. So landete ich, parteipolitisch
gesehen, bald im Nirgendwo einer undogmatischen hedonistischen
Internationalen.
Meine Zwischenbilanz nach fast 40 Jahren 68 fällt schon deshalb positiv
aus, weil mein Sohn in der Schule nicht mehr geschlagen wurde - und weil in
meiner Klasse nur zwei den Kriegsdienst verweigerten und alle anderen zur
Bundeswehr gingen, während sich das Verhältnis bei seinem Abitur 2001
ziemlich genau umgekehrt hat.
Damit ist der wohl der größte zivilisatorische Fortschritt benannt, den
Deutschland im 20. Jahrhundert gemacht hat. Er verdankt sich der
Kulturrevolution der Sechziger. Und zwar weniger den linken Parteikadern
samt SDS, sondern den Hippies und LSD. Die Ideen der Blumenkinder,
Stadtindianer und der Spaßguerillas haben bis heute Bestand.
Umweltbewusstsein, diese Urhippieidee, ist als Klimaschutzfarce sogar bei
der Bild-Zeitung angekommen. Es wird Zeit für die nächste Revolution.
MATHIAS BRÖCKERS, Jahrgang 1954, ist bekennender Haschrebell,
Computerdekonstruktivist, taz-Autor sowie Weltverbesserer. Er hat sich nie
von den Pfadfindern losgesagt
21 Dec 2007
## AUTOREN
Mathias Bröckers
## TAGS
68er
Peter Fonda
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