# taz.de -- Die Revolte von 1968: Lust auf Barrikaden | |
> Ganz ohne Gewalt ist eine Revolte nicht zu haben. Das zeigt das Jahr | |
> 1968, als die Jugend Reformen gegen den steinharten deutschen | |
> Konservatismus durchboxte. | |
Bild: Aufrührer, die den Kleinbürgern Angst machten: Paris, Mai 1968. | |
Ostern 1968: Die Presse, und nicht sie allein, spricht von | |
bürgerkriegsähnlichen Zuständen in der Bundesrepublik, als das Attentat auf | |
Rudi Dutschke eine sehr wohl militante Blockade des Axel Springer Verlages | |
auslöst. In Brand gesetzte Autos deuten einen Umbruch im Lande an, der | |
heute, 40 Jahre später, als überfälliger Prozess politischer, sozialer und | |
wirtschaftlicher Modernisierung erscheint und der trotz aller Irrtümer und | |
Irrwege alles in allem als geglückt gilt. | |
Nicht nur unter den Talaren mancher Ordinarien klebte der sprichwörtliche | |
"Muff von 1.000 Jahren", also eine braune oder sonst wie lastende | |
Vergangenheit, so gut wie alle Institutionen riefen nach Erneuerung. Eine | |
Neu- oder Umgründung der Republik stand auf der Tagesordnung, und die war | |
nur gegen den ausgesprochenen Widerstand des christdemokratischen | |
Establishments der Nachkriegszeit ("Wirtschaftswunder") durchzusetzen. | |
Nichts symbolisiert jene Jahre krasser als Bilder von Aufruhr, von Gewalt, | |
von Aggression und von Hass. Solche, die allerdings in erster und letzter | |
Linie den Protestierenden zugeschrieben werden. Sie galten als die | |
Aufrührer, sie waren die Brandstifter, sie waren es, die den Kleinbürgern | |
Angst machten. Die ihre Furcht vor Unfrieden im Land befeuerten und sie | |
nicht in Ruhe ließen. Und es ist ja auch richtig: 68 war auch eine Zeit der | |
Gewalt, der Konflikte, die sich nicht mehr als laue | |
Meinungsverschiedenheiten lesen ließen. | |
Sie hatten ja auch Lust auf Gewalt. Aggression macht ja überhaupt Spaß. | |
Allen Zivilisationsmühen einer bürgerlichen Gesellschaft zum Trotz: Zu | |
sittsame Ordnungen laden besonders intensiv zur Grenzüberschreitung ein. | |
Wir kennen dies aus dem gewöhnlichen Alltag: Jugendliche, die Mülleimer | |
umstoßen, andere, die Autos in Brand setzen, Mobiliar in öffentlichen | |
Verkehrsmittel beschädigen oder einander verprügeln. Ewigen Frieden gibt es | |
niemals, weil jede Gesellschaft die Wut jener anspornt, die sich | |
kleingehalten fühlen, unbeachtet oder schlicht unterdrückt. Und im | |
kollektiven Maßstab war dies in jenen Jahren ebenso, die der Ära von 68 | |
vorangingen. Das Gefühl über die Stimmung in der Bundesrepublik schildern | |
Zeitzeugen in Nuancen unterschiedlich, aber gemeinsam teilen sie mit: Das | |
Leben im Land war wie das in einem Vakuum, ein Biedermeier nicht nur in den | |
Institutionen, keine Luft zum Atmen, jede Fantasie sofort im Keim erstickt, | |
oder, wie es überall an jeder Grünanlage zu lesen stand: "Betreten des | |
Rasens verboten" und an Spielplätzen: "Lärmen zwischen 13 und 15 Uhr strikt | |
untersagt". | |
Die Gewalt mag - im Spiegel der Medien jener Jahre - von den Revoltierenden | |
ausgegangen, sie mag Fensterscheiben zu Bruch gebracht haben, die besser | |
heil geblieben wären. Aber sie war eine Reaktion, keine nur psychopathisch | |
misszuverstehende Angelegenheit von "Gammlern, Pinschern, Uhus", wie der | |
Nachfolger Konrad Adenauers auf dem Posten des Bundeskanzlers, Ludwig | |
Erhard, alle beschimpfte, die den deutschen Sinn nach "Schaffe, schaffe, | |
Häusle baue" nicht bedienen wollten. | |
Die Gewalt, die 68 zugeschrieben wird, war eine Antwort auf all jene | |
Gewalt, die im Alltag zu notieren war, unter der Menschen litten, die | |
rechtlich kaum zu beanstanden war, die, so glaubten Konservative, sein | |
müsse, um ein durch die Nationalsozialisten entfesseltes Gemeinwesen zu | |
bändigen. | |
Die Gewalt, die zu thematisieren war, eben nötigenfalls auch handfest, | |
hockte in den Familien, in Ämtern, in Gerichten, in Nachbarschaften, in | |
Jugend- wie Kinderheimen. | |
Reform hieß damals alles, was programmatisch für den Abschied vom | |
Nachkriegskonsens der Christdemokratie stand. Das Wort bedeutete, 1969 | |
durch den ersten sozialdemokratischen Kanzler der Bundesrepublik in der | |
Regierungserklärung vorgetragen, "mehr Demokratie wagen". Willy Brandt | |
umriss damit nur das allgemeine Lebensgefühl der gefühlten Mehrheit des | |
Landes. | |
Gewalt im Lande, die buchstabierte sich in Wahrheit so: Arbeiter und | |
Angestellte hatten in ihren Jobs nur geringe Rechte; an der Frage des | |
Paragrafen 218 hatte der Klerus, sehr entschieden gegen das | |
Selbstbestimmungsrecht von Frauen, das Verbot eines | |
Schwangerschaftsabbruchs sehr fest im Griff; Homosexualität wurde | |
polizeilich verfolgt, ihr galt die bis 1969 gültige Nazifassung; Kinder zu | |
prügeln war erlaubt, gemeinhin galt die Züchtigung des Nachwuchses als | |
günstigstes Mittel, sie nicht allzu stark aufblühen zu lassen; | |
Universitäten waren damals kaum mehr als Horte bürgerlicher | |
Selbstrekrutierung, Proleten sollten da nur wenig zu suchen haben; | |
überhaupt war das Land eingefrostet von einer Atmosphäre der lähmenden | |
Sittsamkeit, des "Das tut man nicht" und "Wo kommen wir da hin". | |
An Alltagssprüchen, Volksweisheiten ist es zu dechiffrieren: "Kinder mit m | |
Willn / kriegn was auf die Brilln". Oder "Wer sich nicht nach der Decke | |
streckt / dem bleiben die Füße unbedeckt". Auch der Satz "Alt und grau | |
kannst du werden / aber nicht frech". Das Schreckwort unter Eltern war | |
"Fantasie". Hatte einer der Sprösslinge solche, musste befürchtet werden, | |
dass die Pläne, die man mit ihnen machte, ausufern könnten: Fantasie war | |
nicht die Tugend, auf die es den Erwachsenen in jenen Jahren ankam. | |
Gegen all diese Umstände, die der halben Republik und ihres akademischen | |
Nachwuchses am stärksten auf die Nerven gingen, musste protestiert werden, | |
nötigenfalls auch mit Gewalt. Ein Begriff von Gewalt, der alle Aggressionen | |
mit einbezieht, die Konservative nach dem Verlust der Macht an die | |
Sozialliberalen beklagten. Man muss - zumal aus der Perspektive vierzig | |
Jahre danach - nicht pharisäerhaft sein und bestreiten, im Grunde keine | |
Gewalt oder Militanz verübt zu haben. Es war nichts als Aggression, die | |
vielen Universitätsprofessoren entgegenschlug, und es war Aggression, die | |
in Tausenden von Elternhäusern ausbrach, als mit 68 endlich die Dämme | |
gebrochen waren. Die ProtagonistInnen fühlten sich endlich nicht mehr | |
isoliert - und sie fühlten sich cool. | |
Ohne auf den Bodensatz der Revolte, wie Jan Philipp Reemtsma die RAF einmal | |
charakterisierte, einzugehen: Deren prominenteste Figur, Ulrike Meinhof, | |
traf mit ihrem Engagement gegen die Verwahrung, besser: Verwahrlosung von | |
Jugendlichen in Heimen den Nerv ihrer Zeit. So sollten Menschen nicht | |
behandelt werden, war der Sound dieser Jahre, sie verdienen jede Mühe, sie | |
nicht kriminell werden zu lassen, sich um sie zu kümmern, ihnen ein Leben | |
jenseits von Zuchtmühlen zu ermöglichen. | |
Heute kann das kaum noch nachgeschmeckt werden. Berichte über Frauen, die | |
nach einer Abtreibung zu Haftstrafen verurteilt wurden; von Kindern, die | |
einen bösen Makel trugen, weil sie nicht ehelich geboren wurden; von | |
Jugendlichen, die schon wegen kleiner Delikte im Knast weggesperrt wurden, | |
vermag heute kaum einer nachzuvollziehen. Doch sie trafen zu. Schlechtere | |
Zeiten sind immer schwer nachfühlbar, wenn einer in schon bessere | |
hineingeboren wurde. | |
Das jedoch steht fest: Jede dieser Reformen musste gegen den steinharten | |
Widerstand der konservativen und ordnungschristlichen Milieus | |
durchgefochten werden. Keine gesetzliche Besserung wurde von ihnen einfach | |
respektiert. Kinder zu schlagen gilt bei manchen im Übrigen immer noch als | |
Tat, die in der Idee der Erziehung stattfinden darf. | |
Gewalt war nötig, zivile durch und durch. Sie ist in jeder Rebellion, die | |
ihre Sache ernst nimmt. | |
28 Dec 2007 | |
## AUTOREN | |
J. Feddersen | |
W. Gast | |
## TAGS | |
68er | |
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