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# taz.de -- Jugendgewalt II: Hass verrät den Hassenden
> Die Münchener U-Bahn-Attacke regt ganz Deutschland auf. Die Brutalität
> der Täter schockiert tatsächlich. Die Reaktionen darauf aber auch.
Bild: Sicherheit und Sauberkeit - Deutschland wird in der Münchener U-Bahn ver…
Wer in München schon einmal mit der U-Bahn gefahren ist und aus Versehen
eine Schokoriegelverpackung hat fallen lassen, weiß, dass Peter Gauweiler
völlig recht hat: "Deutschland wird in der Münchener U-Bahn verteidigt."
Und ja, auch "am Bahnhof Zoo in Berlin", denn auch dort werden schon seit
längerem Digitalanzeigen gegen den Untergang des Abendlandes in Stellung
gebracht: "Rauchverbot! Für mehr Sicherheit und Sauberkeit".
Schon lange her, dass der Dreiklang Verbot-Sicherheit-Sauberkeit in
"unserem Land" für Irritationen oder gar Widerspruch gesorgt hätte.
Stattdessen ist es anscheinend völlig normal, dass der gewalttätige
Übergriff zweier Jugendlicher mit Migrationshintergrund auf einen
pensionierten Münchener Realschullehrer als Angriff auf ganz Deutschland
wahrgenommen wird - als ob die beiden Täter mit einem Airbus in die
Münchener Frauenkirche gerast wären. Mit einem Jesus-Bildnis im Anschlag
lehnt denn auch "Schläger-Opfer Bruno N." via Bild-Zeitung eine
Entschuldigung, sowohl von Serkan A. als auch von dessen Mutter
vorgetragen, rundweg ab: "Ich will von den Totschlägern keine
Entschuldigung. Auch nicht von ihren Eltern". Der Pensionär ergänzt: "Ich
kann ihre hasserfüllten Gesichter nicht vergessen. Es war ein Hass gegen
unser Land und einen Bürger dieses Landes." Die Mutter des Täters, eine
seit 45 Jahren Jahren in Deutschland lebende Arbeiterin, fühlte sich
genötigt, für die Tat ihres Sohnes Serkan A. gleich bei allen Deutschen um
Verzeihung zu bitten.
Nun erzählte eine Kollegin, deutsch, neulich, dass auch sie unlängst
gewalttätig geworden sei. In der Münchener U-Bahn hatte sie einen Bürger
unseres Landes mit ihren Cowboystiefeln in den Hintern getreten, nachdem
dieser ihr Gewalt angedroht hatte: wegen ihres illegalen Rauchens. Sie
würde im Traum nicht auf die Idee kommen, sich bei dem Herrn zu
entschuldigen - und die deutsche Nation hat sich bislang noch nicht bei ihr
gemeldet.
Allerdings hat sie dem Herrn natürlich auch nicht den Schädel eingetreten.
Und das Münchener Opfer Bruno N. (76) ist dementsprechend traumatisiert. Es
kann ihn auch niemand zwingen, die Entschuldigung seines Peinigers
anzunehmen - über die Annahme einer solchen Entschuldigung entscheidet
schließlich allein das Opfer.
Dennoch handelte es sich bei diesem Zusammenstoß nicht um einen gemeinsamen
Angriffskrieg ausgerechnet der Türkei und Griechenlands (der andere Täter
war schließlich ein 17-jähriger Grieche) gegen Deutschland, sondern um eine
Konfrontation, die in ihrer Grundkonstellation so originell nicht ist.
Älterer Herr, Pädagoge gar, ruft jugendliche "Rotzlöffel" zur Ordnung - die
Halbstarken haben keine Lust, sich zurechtweisen zu lassen, und wehren sich
nicht mit Worten, sondern mit Gewalt. In der Tat: ausufernde Gewalt. Über
die Tonlage des pädagogischen Ordnungsrufs ist nichts bekannt.
So erschreckend wie die Brutalität solcher jugendlichen Täter ist nur noch
die Art und Weise, wie mit dieser Brutaliät umgegangen wird: "Abschieben"
(Gauweiler), "aus dem Verkehr ziehen" (Bruno N.). Gewalttätige deutsche
Jugendliche haben da noch Glück, sie kommen lediglich ins Boot-Camp. Wohin
auch abschieben?
Serkan A. ist jedenfalls in Deutschland geboren und aufgewachsen, er ist
ein "faktischer Inländer", wie das im Behördensprech heißt. Zur Geltung
kommen weder die Sippenhaftung für seine Familie noch sonstige
Kollektivschuld-Kategorien.
Ein deutsches Gericht wird über die Bestrafung von Serkan A. und seinem
Mittäter zu entscheiden haben - wobei die Bestrafung der Täter für das
Opfer von erheblicher Bedeutung sein kann, um sein Trauma zu überwinden.
Opfer Bruno N. präsentiert in Bild ein Bildnis von Jesus Christus - der
nach christlicher Lehre stellvertretend für die Sünden der Menschheit
gestorben ist. Also demnach für alle Menschen, gleich welcher Religion und
Herkunft. Ein Stück Abendland - und doch sagt er: "Das ist keine ehrliche
Entschuldigung. Ich will kein Mitleid. Ich bin nicht dazu bereit, ihnen
deshalb die Hand zu reichen. Von ihnen lasse ich mir nicht meine Zeit
klauen, keine fünf Minuten."
Der evangelisch Pfarrer Jürgen Wandel aus Berlin weiß, dass das Opfer
"seine Wut und seinen Hass ausleben können muss. Für ihn ist es natürlich
wichtig, Genugtuung zu bekommen. Es ist auch in Ordnung, wenn es ihm
innerlich nicht möglich ist, zu verzeihen. Das ist sehr schwer, manche
können das, andere nicht. Manchmal braucht es auch einfach Zeit, und das
Opfer braucht auch jemanden zum Reden. Das kann die Familie sein, ein
Therapeut oder ein Seelsorger."
Jürgen Wandel würde in einem solchen Fall raten, dass der Übeltäter seine
Tat in Ruhe reflektieren und seine Entschuldigung erst danach an sein Opfer
herantragen soll - aus der Praxis weiß er, wie schwer es für Betroffene
sein kann, wenn ihnen nicht vergeben wird. Schuld und Vergebung - ein
zentrales gesellschaftliches Thema. Man kann es nicht abschieben. Auch wenn
man es wollte.
8 Jan 2008
## AUTOREN
Martin Reichert
## TAGS
Tatort
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