# taz.de -- Jugendgewalt I: Von Halbstarken zu Migrantenschlägern | |
> Proletarische Gewalt gab es immer - sie faszinierte das bürgerliche | |
> Publikum. Die aktuellen konservativen Tiraden zeigen, dass die | |
> Kleinbürger mächtig Angst haben. Ohne Grund? | |
Bild: Halbstark war auch immer Pop - einst mit Brando und Buchholz, jetzt mit S… | |
Vor allem die Sprache bleibt unverstanden. Deren Sprache. Das Vokabular, | |
mit dem sie sich mitzuteilen wissen. Das sie kennen, aus der eigenen | |
Familie. Unter dem sie gelitten haben, meist als Kinder. Das sie | |
weitergeben, weil sie kein anderes kennen und weil Wut und Angst dann eine | |
Paarung eingehen, die sie sich wenigstens Momente lang als echte | |
Beherrscher ihrer Welt fühlen lässt. Es ist die Sprache der Gewalt, der | |
körperlichen Gewalt, des Körpers, der sich aggressiv auflädt, und die sich | |
in der Sekunde des Agierens nicht schämt, aus jeder Pore zu strömen. | |
Was die Republik aufregt, was die Union und ihr hessischer Sachwalter | |
Roland Koch nutzen, um ihre Schäfchen doch noch zur Landtagswahl ins | |
Trockene zu bringen, ist ein Phänomen, das nicht neu ist, das aber eine | |
besondere Aufmerksamkeit genießt, weil die Protagonisten ausländisch | |
scheinen. Was spielt es schon für eine Rolle, dass jugendliche Gewalttäter, | |
von denen jetzt die Rede ist, so deutsch sind wie die allermeisten, die in | |
der Bundesrepublik leben, ob sie einen deutschen Pass haben oder nicht. | |
Doch die Gewalt ist nicht neu, sie wird nur, Jugendgeneration für | |
Jugendgeneration, ihnen stets aufs Neue unterstellt. | |
In den Fünfzigerjahren hießen diese Jugendlichen nicht Ali oder Gökhan, | |
Zlobodan oder Igor, sondern Manfred, Klaus, Jürgen oder Joachim. Es waren | |
astreine Deutsche, die die Szene zu bevölkern begannen - und das | |
bürgerliche Nachkriegsdeutschland nannte sie angewidert und angeekelt: | |
Halbstarke. Aus der Perspektive des lange zurückliegenden Regimes der | |
Nationalsozialismus mag es besonders obszön anmuten, dass diese | |
"Halbstarken" - wie auch ein populärer Kinofilm seinerzeit hieß, mit Horst | |
Buchholz und Karin Baal - so außer sich geratende Alarmisten provozieren. | |
Spielt da nicht auch Neid eine Rolle, Missgunst, weil die ja wirklich | |
furchterregenden Schläger die Klaviatur der Körperlichkeit offenkundig auch | |
zu nutzen wissen, um ihre Aggressionen zu entladen? | |
Und weiß das bürgerliche Selbstbewusstsein, das in der Union offenbar | |
einmal mehr schmerzlich vermisst werden muss, dass körperliche Gewalt nicht | |
schön ist, aber im Falle der Münchner U-Bahn-Schläger nur ein Fall unter | |
inzwischen wenigen ist? Und dass diese Gewalt früher, um nicht zu sagen: | |
bis in die Siebzigerjahre hinein gang und gäbe war, um Konflikte vor allem | |
in proletarischen Milieus zu thematisieren? Und war es nicht | |
außergewöhnlich infam, gerade diese Halbstarken der Fuffziger wie | |
Staatsfeinde zu verfolgen? Nicht einmal zehn Jahre nachdem das ganze Land | |
sich noch im Holocaust gefiel und über die Wehrmacht einen beispiellosen | |
mörderischen Feldzug gegen Osteuropa führte? | |
Die Halbstarken jener Jahre symbolisierten auch nur den blinden Fleck jener | |
Jahre: dass da eine Gewalt brodelt, der diese Jugendlichen wenigstens auf | |
ihre Weise entsprechen wollten. In der Schule, in Betrieben, während des | |
Unterrichts, in den Elternhäusern, in der Ausbildung: überall hieß es doch | |
nur, gehorchen zu müssen, den Anforderungen der Erwachsenen genügen, | |
dienern, sich gratis demütigen lassen zu müssen. Ob diese Gefühle von | |
Jugendlichen, an der Gesellschaft nicht teilhaben zu dürfen, nun berechtigt | |
waren oder nicht, ist unwichtig: Tatsächlich beweisen die U-Bahn-Täter - ob | |
man sie nun Rotzlöffel, Rowdys, Hooligans oder sonst wie nennt - nur, dass | |
sie nicht gewillt scheinen, sich alles gefallen zu lassen: Sie reden nicht, | |
sie handeln. Das ist ihre Sprache, das verstehen sie. Wenn man die | |
Jungmänner mit ihren Taten konfrontiert, zeigen sie weder Scham noch Reue. | |
In der bundesdeutschen Geschichte hat es immer wieder jugendliche Milieus | |
gegeben, die, mit heutigen Bildern gesprochen, keine Lust auf ökologisch | |
korrektes Sprechen, auf Friede, Freude, Eierkuchen, auf Takt und Ton, auf | |
das Einverständnis mit den Altvordern hatten. Die Jungs, deren Angst vor | |
dem Jugendknast nicht so groß ist, dass sie nicht riskieren würden, | |
öffentliche Nahverkehrsmittel zu nutzen, als seien sie für sie | |
verantwortlich wie Blockwarte mit Waffen, haben, so muss ihre Körpersprache | |
gelesen werden, keinen Bock auf wispernde Tonlagen, sie grölen und motzen, | |
rotzen und schnauzen an. Sie bellen lieber, als dass sie winseln; mit guten | |
Worten, das wissen sie, ist nix zu wollen. Mit erlesenem Verhalten ist kein | |
Ankommen gegen all die Gewinner, die sie vor sich glauben, die | |
Gymnasiasten, die Älteren, jene, die schon alles haben, die im Leben sind | |
und nicht alles wie ein unbezwingbares Gebirge vor sich sehen. | |
Sie leben, anders gesagt, aus purer Not und nacktem Willen zugleich einen | |
antibürgerlichen Affekt aus - und träumen doch von Schrankwand, ehelichem | |
Schlafzimmer und Kindern in sauberen Klamotten zumindest am Sonntag. "Spiel | |
nicht mit den Schmuddelkindern", intonierte bewusst hässlich Franz Josef | |
Degenhardt Ende der Sechzigerjahre, und es war eine Ballade gegen all die | |
schnieken Bescheidwisser, die Schnacker und gebildeten Vollidioten, denen | |
man alles neidet, weil man nichts von ihrer Gelassenheit, kein Stück ihrer | |
körperlosen, sich zivil dünkenden Überlegenheit hat. | |
Halbstarke, Rowdys: Dokumentarische Filmaufnahmen aus den Sechzigerjahren | |
zeigen sie mit den Augen ihrer Verächter, der guten Bürger, die sie am | |
liebsten an die Wand, ins Heim, in den Knast, weg-, ganz und gar weghaben | |
wollen. Und deren Aggression ist sprechend: Aus ihren hassverzerrten | |
Gesichtern lässt sich auch Bewunderung ablesen, Fasziniertsein vom Rohen | |
und Nackten. Gerade jene, deren Wiedergänger vier Jahrzehnte später in | |
diesen Tagen die Meldungen mit den drakonischsten Fantasien bevölkern, | |
Roland Koch, Volker Kauder, Peter Gauweiler und wie sie alle heißen, müssen | |
eine mächtige Lust in sich haben, diese Täter nicht zu mäßigen, ihnen einen | |
Weg ins Bürgerliche offen zu lassen, sondern sie zu erniedrigen. Es sind | |
selbst Wütende, aber sie können ihre Wut nur gegen jene artikulieren, die | |
sie gesellschaftlich unter sich glauben. | |
Jeder, der andere malträtiert, muss mit Strafe rechnen. Das politische | |
Entertainment, das die Union aktuell bietet, enthüllt deren Performer als | |
ihnen ebenbürtige Aggressoren. Sie machen nichts besser. | |
Im Gegenteil. | |
8 Jan 2008 | |
## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
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