# taz.de -- Theoretiker Alain Badiou: Rigoros distanziert | |
> Den französischen Theoretiker Alain Badiou umgibt die Aura unnachgiebiger | |
> Radikalität und erneuerter Kapitalismuskritik. Zu Recht? | |
Bild: Badiou warnt davor, unkritisch dem Schrecken nachzugeben. | |
Die Popularität, derer sich das philosophische Werk Alain Badious seit | |
einigen Jahren auch in Deutschland erfreut, zeigt an, dass hier jemand | |
einen Nerv getroffen hat. Denn einerseits tritt mit diesen Schriften ein | |
Autor ins Zentrum der Aufmerksamkeit, der mit seinen inzwischen | |
verstorbenen Generationsgenossen Deleuze, Lyotard und Derrida zentrale | |
theoretische Bezugspunkte teilt und eine auch hier lebhaft rezipierte | |
Diskussion und einen Denkstil fortzusetzen verspricht, die allmählich zu | |
verschwinden drohen. Andererseits hat Badiou schon von früh an | |
selbstbewusst markiert, dass er sich an zentralen Punkten von einer | |
"Philosophie der Differenz" distanziert, und einen theoretischen Neuanfang | |
in Aussicht gestellt, dessen Anspruch auf nichts Geringeres als eine neue | |
Ontologie zielt. | |
Diese Kombination aus Anschlussfähigkeit und Originalitätsversprechen macht | |
neugierig; und seit der Übersetzung des ersten Bandes seines monumentalen | |
Hauptwerks "Das Sein und das Ereignis" (frz. 1988, dt. 2005), das auf | |
atemberaubende Weise zwischen Metaphysikgeschichte und moderner Mathematik | |
hin und her schaltet, steht nun einer Überprüfung des Badiou-Effekts nichts | |
mehr im Weg. | |
Großes Echo haben auch Badious kleine politische Schriften gefunden, in | |
denen er sich als scharfer Polemiker gegen den liberalen Zeitgeist und das | |
politische Denken seiner Zeitgenossen profiliert hat. Die Aura | |
unnachgiebiger Radikalität, den diese Texte verbreiten und die von Badious | |
maoistischer Vergangenheit und seinem Engagement in der unorthodoxen | |
französischen Linken noch verstärkt werden, spiegelt den grundsätzlichen | |
Gestus seines philosophischen Projekts, und er selbst beharrt auf der | |
Kontinuität zwischen beiden Registern. | |
Dennoch fällt es schwer, die Übertragung seiner Überlegungen zur Ontologie | |
auf die Politik ohne Nachfragen zu akzeptieren. | |
Mit denselben Grundkategorien wie in seiner "platonischen" Theorie der | |
Wahrheit charakterisiert Badiou in seinen Büchern zur "Ethik" (frz. 1993, | |
dt. 2003) und zur "Metapolitik" (frz. 1998, dt. 2003) das Verhältnis von | |
politischer Überzeugung und Subjektivität: Im Bereich der Politik gilt | |
keine allgemein als verbindlich anerkannte Moral und kein Zwang des | |
besseren öffentlichen Arguments, vielmehr entsteht das politische Subjekt | |
erst durch eine Entscheidung zur überindividuellen Wahrheit, die von einem | |
Ereignis ausgelöst wird. Erst in der "Treue zum Ereignis" wird das an sich | |
substanzlose Subjekt zum Ort einer "universalen Singularität". In der | |
Politik geht es damit, richtig verstanden, weder um die Interessen und | |
Meinungen von Individuen noch um ihre verschiedenen Identitäten, sondern um | |
"Wahrheit". Diese Volte gegen Relativismus und Partikularismus mag zwar | |
kritischen Biss gegenüber plumpen Versionen von Pluralismus und | |
Multikulturalismus haben, sie leidet allerdings daran, dass relativ | |
unbestimmt bleibt, was hier Ereignis und Universalität genau bedeuten. | |
Badious Lieblingsbeispiele wie das Bekehrungserlebnis des Paulus, dem er in | |
seinem gleichnamigen Buch die "Begründung des Universalismus" (frz. 1997, | |
dt. 2002) zuschreibt, oder die Ursprungsimpulse der chinesischen | |
Kulturrevolution sind plausible Fälle von radikalen Brüchen und der | |
Etablierung einer neuen Ordnung auf den Trümmern einer alten. Aber können | |
sie anzeigen, wieso politisches Engagement notwendigerweise eine | |
"Affirmation des Allgemeinen" ist? | |
Die rigorose Distanz, mit der Badiou den gegenwärtigen demokratischen | |
Institutionen, dem "kapitalistischen Parlamentarismus" gegenübersteht, | |
verliert an Überzeugungskraft, wenn man sich fragt, ob sich mit seiner | |
eigenen Vorstellung von Politik der Kompromiss- und Streitcharakter | |
demokratischer Politik überhaupt artikulieren lässt. Denn was "Wahrheit" | |
heißt, ist hier doch gerade umstritten. | |
Die Verpflichtung der Politik auf das Universelle würde voraussetzen, was | |
gerade noch nicht etabliert ist, nämlich die verbindliche Kenntnis des | |
Allgemeinen. Dann erscheinen allerdings der emphatische Ton von Badious | |
Texten und die unwiderstehliche rhetorische Souveränität seiner | |
öffentlichen Auftritte in einem weniger vorteilhaften Licht. Denn womöglich | |
ist die apodiktische Geste seiner politischen Interventionen die Kehrseite | |
eines axiomatischen Stils des Philosophierens, der sich eher am | |
mathematischen Beweis als am legitimen Konflikt von Perspektiven | |
orientiert. Dieser Verdacht würde auch auf sein Publikum fallen. Sollte | |
etwa das Bedürfnis, auf das die Schriften Badious antworten, der Wunsch | |
nach klaren Ansagen, nach einem Meister sein? | |
16 Jan 2008 | |
## AUTOREN | |
Martin Saar | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Islamistischer Terror | |
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