# taz.de -- Die Rede des Kapitalismuskritikers Badiou: Demokratie - Politik - P… | |
> Alain Badiou gehört zu jenen Denkern, die versuchen, ihre | |
> Kapitalismustheorie mit aktuellen politischen Fragestellungen zu | |
> verbinden. Auch bei den Mosse Lectures in Berlin. | |
Bild: Badiou warnt davor, unkritisch dem Schrecken nachzugeben. | |
Jeder versucht, der beste Demokrat zu sein. Heutzutage finden alle | |
politischen Widersprüche stets zwischen verschiedenen Demokratien statt. | |
Selbst der Krieg ist eine demokratische Handlung gegen eine falsche | |
Demokratie. George W. Bush rechtfertigte den Krieg gegen den Irak damit, | |
dass er demokratischer sei als Saddam Hussein. Es scheint unmöglich | |
geworden, kein Demokrat zu sein. Liegt dies vielleicht daran, dass wir uns | |
kurz vor dem Ende der bekannten Form von Demokratie befinden? Das wird sich | |
zeigen. Sicher ist aber, dass man den Begriff der Demokratie erklären muss. | |
Beginnen wir mit einem Widerspruch. Zum einen ist die Philosophie notwendig | |
eine demokratische Handlung. Ich werde gleich erklären warum. Zum anderen | |
teilt die Mehrheit der Philosophen, von Platon bis zu mir selbst, | |
einschließlich Hegel, Nietzsche, Wittgenstein, Heidegger oder Deleuze, | |
politische Überzeugungen, die im üblichen Sinne des Wortes absolut nicht | |
demokratisch sind. Diesen Punkt sollte ich ebenfalls erklären. | |
Es besteht ein Widerspruch zwischen der wahren Natur der Philosophie, die | |
gewiss einer demokratischen Auffassung der Diskussion und des Denkens | |
entspricht, und den Auffassungen der Philosophie im politischen Feld, die | |
häufig einen autoritären Rahmen für die kollektive Bestimmung der Menschen | |
akzeptieren. Wir sind also mit einer paradoxen Beziehung zwischen drei | |
Begriffen konfrontiert: Demokratie - Politik - Philosophie. Wir müssen von | |
der Demokratie zur Philosophie gelangen. Denn die Geburt der Philosophie | |
hängt bei den alten Griechen eindeutig von der Erfindung einer ersten Form | |
von demokratischer Macht ab. Aber wir müssen auch von der Philosophie zur | |
Politik gelangen. Denn die Politik war im geschichtlichen Werdegang der | |
Philosophie immer ein sehr wichtiges Anliegen der Philosophen. Während aber | |
die Politik einen reflexiven Gegenstand für die Philosophie darstellt, ist | |
es im Allgemeinen sehr schwierig, von einer solchen Art von Politik zur | |
Demokratie zu gelangen. | |
Wenn Sie so wollen: Demokratie ist vor der Philosophie eine Notwendigkeit | |
und nach der Philosophie eine Unmöglichkeit. Unsere Frage lautet also: Was | |
ändert sich in der Politik durch die philosophische Handlung, so dass die | |
Demokratie einerseits etwas Notwendiges und andererseits etwas Unmögliches | |
oder sehr Schwieriges ist? Und die Antwort lautet: Die Schwierigkeit liegt | |
in der Beziehung zwischen dem demokratischen Begriff der Freiheit und dem | |
philosophischen Begriff der Wahrheit. Wenn es so etwas wie eine politische | |
Wahrheit gibt, dann ist diese Wahrheit eine Pflicht für jeden rational | |
denkenden Geist. Das heißt aber, dass die Freiheit absolut begrenzt ist. | |
Und umgekehrt, wenn es keine solche Begrenzung gibt, dann gibt es keine | |
politische Wahrheit. Aber in diesem Fall lässt sich überhaupt kein Bezug | |
zwischen der Philosophie und der Politik herstellen. | |
Die drei Begriffe Politik, Demokratie und Philosophie sind also durch die | |
Frage der Wahrheit miteinander verknüpft. Somit stellt sich die Frage: Was | |
ist ein demokratisches Konzept der Wahrheit? Was ist, gegen den | |
Relativismus und den Skeptizismus, eine demokratische Universalität? Was | |
ist ein demokratisches Gesetz, das ohne das Gebot einer Transzendenz auf | |
uns alle applizierbar ist? Die Philosophie hat zwei grundlegende | |
Eigenschaften. Einerseits ist sie ein Diskurs, der von der Stellung des | |
Menschen, der ihn hervorbringt, unabhängig ist. Die Philosophie ist nicht | |
der Diskurs eines Königs, eines Priesters, eines Propheten oder eines | |
Gottes. Von Seiten der Transzendenz, der Macht oder der sakralen Funktionen | |
gibt es keine Garantie für die philosophische Rede. Philosophie setzt | |
voraus, dass die Suche nach der Wahrheit offen für alle ist. Das | |
philosophische Denken kümmert sich nicht um die subjektive Aussage, sondern | |
um den objektiven Wortlaut. Die Philosophie ist ein Diskurs, der sich | |
allein aus sich selbst heraus legitimiert. Dies allerdings ist eindeutig | |
eine demokratische Eigenschaft. | |
Andererseits ist die Philosophie unmittelbar der Beurteilung durch andere | |
ausgesetzt. Der philosophische Diskurs wird durch das Vorhersehen von | |
Einwänden und die Anerkennung der Diskussion hergestellt. Sein Axiom ist | |
die Gleichheit aller Gedanken. Diese Gleichheit stellt das Gericht für den | |
philosophischen Diskurs dar. Und es ist ein Gericht im demokratischen Sinne | |
des Wortes. Die soziale, kulturelle oder religiöse Position einer | |
sprechenden oder denkenden Person ist der Philosophie vollkommen | |
gleichgültig. Die Philosophie akzeptiert, von allen zu sein. Zugleich ist | |
die Philosophie der Zustimmung oder der Kritik ausgesetzt, und zwar ohne | |
Vorentscheidung über die Person, die zustimmt oder kritisiert. Die | |
Philosophie akzeptiert, für alle zu sein. So können wir schlussfolgern, | |
dass das eigentliche Wesen der Philosophie demokratisch ist. | |
Aber wir dürfen nicht vergessen, dass die Philosophie, die akzeptiert, | |
sowohl in ihrem Ursprung als auch in ihrer Zuschreibung (Adresse) absolut | |
universell zu sein, nicht akzeptieren kann, in ihrer Bestimmung oder ihrem | |
Ziel gleichermaßen demokratisch zu sein. Jeder kann ein Philosoph oder der | |
Gesprächspartner eines Philosophen sein. Aber es wäre falsch zu behaupten, | |
dass jede Meinung gleichwertig ist. Das Axiom der Gleichheit der Gedanken | |
ist weit davon entfernt, ein Axiom der Gleichheit der Meinungen zu sein. | |
Seit den Anfängen der Philosophie bei Platon ist zuerst zwischen falschen | |
und richtigen Meinungen und sodann zwischen Meinungen und der Wahrheit zu | |
unterscheiden. Aus diesem Grund kann die Philosophie das große | |
demokratische Prinzip der Freiheit der Meinungen offenkundig nicht | |
akzeptieren. Wenn die Meinung das genaue Gegenteil einer Wahrheit | |
darstellt, dann kann für sie diese Art der Freiheit nicht gelten. Auch in | |
den westlichen Demokratien werden nicht alle Meinungen akzeptiert. In | |
Frankreich zum Beispiel unterliegt die Leugnung der Ermordung der Juden | |
durch die Nazis nicht der Meinungsfreiheit. Es gibt ein Gesetz, das es | |
verbietet, eine solche Meinung öffentlich zu verkünden. Allgemeiner | |
gesprochen: Die Philosophie stellt die Einheit und die Universalität der | |
Wahrheit der Pluralität und der Relativität der Meinungen entgegen. | |
Es gibt noch einen weiteren Grund, der die demokratische Hinwendung der | |
Philosophie begrenzt. Die Philosophie ist der kritischen Beurteilung durch | |
andere ausgesetzt. Dieses Ausgesetztsein beruht aber auf einer allgemeinen | |
Anerkennung einer Regel für die Diskussion. Wir müssen die Gültigkeit von | |
Argumenten anerkennen. Und schließlich müssen wir die Existenz einer | |
universellen Logik als formale Bedingung für das Axiom der Gleichheit der | |
Gedanken anerkennen. Das Axiom der Gleichheit der Gedanken befindet sich | |
mit Sicherheit und notwendig im Feld der allgemeinen Logik. Dies ist - im | |
metaphorischen Sinne - die "mathematische" Dimension der Philosophie. Es | |
besteht eine Freiheit in der Zuschreibung oder Adressierung, aber es | |
besteht zugleich die Notwendigkeit einer strengen, für alle gültigen Regel | |
der Diskussion. | |
Wie die Mathematik ist die Philosophie von allen und für alle: Sie hat | |
keine besondere Sprache, aber es gilt eine strenge Regel für die | |
Schlussfolgerungen. Wenn also die Philosophie die Politik untersucht, so | |
kann sie dies nicht nach Maßgabe der reinen Freiheit tun und erst recht | |
nicht nach Maßgabe der Freiheit der Meinungen. Die Philosophie beschäftigt | |
sich vielmehr mit der Frage: Was kann eine politische Wahrheit sein? | |
Gleichheit und Universalität sind die Charakteristika einer gültigen | |
Politik im Feld der Philosophie. Der klassische Name dafür lautet | |
Gerechtigkeit. Für die Gerechtigkeit ist Gleichheit wichtiger als Freiheit. | |
Und Universalität ist wichtiger als Partikularität, Identität oder | |
Individualität. Aus diesem Grund ist die allgemeine Definition der | |
Demokratie als Freiheit der Individuen problematisch. | |
Richard Rorty hat erklärt: "Demokratie ist wichtiger als Philosophie." Mit | |
diesem politischen Prinzip bereitet Rorty faktisch den Boden für die | |
Auflösung der Philosophie im kulturellen Relativismus. Doch Platon sagt zu | |
Beginn der Philosophie genau das Gegenteil: Philosophie ist weit wichtiger | |
als Demokratie. Und wenn die Gerechtigkeit der philosophische Name für die | |
Politik als kollektive Wahrheit ist, dann ist Gerechtigkeit wichtiger als | |
Freiheit. Die große Kritik der demokratischen Politik bei Platon ist | |
allerdings ambivalent. Einerseits stellt sie die persönliche Meinung eines | |
Aristokraten dar. Aber andererseits zeigt sie ein wirkliches Problem auf, | |
nämlich den grundlegenden Widerspruch zwischen Freiheit und Gerechtigkeit. | |
Letztlich ist dies unsere heutige Situation: Der Preis für unsere Freiheit, | |
hier in der westlichen Welt, ist eine monströse Ungleichheit, innerhalb | |
unserer Länder, vor allem aber außerhalb. Philosophisch gesprochen gibt es | |
überhaupt keine Gerechtigkeit in der zeitgenössischen Welt. | |
Das beste Paradigma für die Gerechtigkeit ist wahrscheinlich, wie schon | |
Platon ausgeführt hat, die Mathematik. In der Mathematik finden wir eine | |
ursprüngliche Freiheit, welche die Freiheit des Auswahlaxioms ist. Danach | |
herrscht allerdings eine vollkommene Bestimmtheit, die einigen logischen | |
Regeln folgt. Wir müssen die Konsequenzen unserer ersten Wahl akzeptieren. | |
Und dieses Akzeptieren ist keine Freiheit, sondern ein Zwang, die | |
Notwendigkeit und die harte intellektuelle Arbeit, den korrekten Beweis zu | |
finden. In der Mathematik finden wir eine strenge universelle Gleichheit in | |
einem präzisen Sinn: Ein Beweis ist ein Beweis, und zwar ausnahmslos für | |
alle, die die ursprüngliche Wahl und die logischen Regeln akzeptieren. Wahl | |
- Konsequenzen - Gleichheit - Universalität. Diese vier Begriffe | |
beschreiben, in dieser Reihenfolge, das Paradigma des politischen Begriffs | |
der Gerechtigkeit. | |
Im Übrigen haben wir es hier auch mit dem Paradigma der klassischen | |
revolutionären Politik zu tun, deren Ziel die Gerechtigkeit ist. Man muss | |
zunächst eine grundlegende Auswahl akzeptieren. Hier ist es die Wahl | |
zwischen zwei Wegen, wie die chinesischen Revolutionäre gesagt haben: dem | |
revolutionären Weg oder dem konservativen Weg, Arbeiterklasse oder | |
Bourgeoisie, kollektiver Handlung oder privatem Leben. Und man muss die | |
Konsequenzen dieser Wahl annehmen: Opfer und erbitterter Kampf, keine | |
Freiheit der Meinungen oder Lebensstile, sondern Disziplin und harte | |
Arbeit, um die strategischen Mittel für den Sieg zu finden. Und das | |
Resultat ist kein demokratischer Staat im landläufigen Sinne des Wortes, | |
sondern eine Diktatur des Proletariats, die dazu dient, die Feinde | |
niederzuschlagen. Zudem präsentiert sich dieses Paradigma als absolut | |
universell, weil das Ziel nicht die Macht einer bestimmten Klasse oder | |
Gruppe ist, sondern die Aufhebung aller Klassen und Ungleichheiten und | |
schließlich das Ende des Staates selbst. | |
Allerdings bezeichnet "Demokratie" in dieser Auffassung zwei völlig | |
verschiedene Dinge: einerseits die Form eines Staates im Sinne von Lenin | |
und andererseits eine Volksbewegung im Sinne Maos. Im ersten Sinne hat die | |
Demokratie keinen Bezug zur revolutionären Politik oder zur Gerechtigkeit. | |
Im zweiten Sinne ist die Demokratie weder eine Norm noch ein Ziel. Sie ist | |
ein Mittel für die aktive Präsenz des Volkes im politischen Feld. | |
Demokratie ist nicht die politische Wahrheit, sondern ein Mittel, um die | |
politische Wahrheit zu finden und zu realisieren. | |
Allerdings müssen wir heute, da diese klassische Sequenz der revolutionären | |
Politik für immer verloren ist, neue Wege gehen, um die Demokratie als eine | |
Möglichkeit zur Befreiung des Volkes zu begreifen. Insofern hat meine | |
Vorlesung auch den Sinn, die Demokratie als philosophische Bedingung für | |
ein neues Lernen, einen neuen Status des Diskurses zu fassen. Denn die | |
wahre Politik zu erlernen, heißt neue Orte für die Gerechtigkeit zu | |
beschreiben. Diese Orte dürfen aber nicht vorherbestimmt sein. Sie können | |
dem Staat nicht gehören. Es sind Stätten, an denen man aus der bestehenden | |
subjektiven Welt heraustreten kann. | |
So gilt es, den rechten Weg zu erlernen, eine politische Wahrheit zu | |
erkennen und von ihr erfasst zu werden. | |
Wir können sagen, dass die Demokratie ein Ereignis mit politischen Folgen | |
ist. Oder mit den Worten des Dichters Wallace Stevens: Demokratie ist ein | |
"Vorzeichen", etwas, "das von der Zukunft gesagt wird". Wir können die | |
Demokratie nicht auf die demokratische Macht eines Staates reduzieren. | |
Demokratie ist, sofern sie sich ereignet, für den Philosophen das | |
Versprechen einer Neuheit im politischen Feld. | |
Aus dem Englischen von Gernot Kamecke | |
23 Jan 2008 | |
## AUTOREN | |
Alain Badiou | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Islamistischer Terror | |
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