# taz.de -- Mord an armenischen Chefredakteur: "Wir werden nach wie vor bedroht" | |
> Ein Jahr nach dem Mord an Hrant Dink ist die armenisch-türkische | |
> Wochenzeitung "Agos", die er leitete, bedroht: Die Auflage sinkt - und | |
> für türkische Nationalisten bleibt sie ein Hassobjekt. | |
Bild: Hrant Dink, Chefredakteur der türkisch-armenischen Wochenzeitung Agos, w… | |
ISTANBUL taz An der Fassade des Gründerzeithauses im bürgerlichen | |
Istanbuler Stadtteil Sisli sind alle Hinweise auf die armenisch-türkische | |
Wochenzeitung Agos entfernt. Wer zur Redaktion will, muss genau wissen, wo | |
sie sich befindet. Wo früher die Türen offen standen, ist jetzt eine | |
Sicherheitsschleuse, an deren Ende ein Wachmann jeden Besucher in Empfang | |
nimmt. | |
Heute vor einem Jahr veränderten drei Schüsse die Türkei - sie fielen genau | |
hier. Hrant Dink, der bekannteste armenische Publizist des Landes und | |
Gründer und erster Chefredakteur von Agos, wurde direkt vor dem Gebäude von | |
einem jugendlichen Nationalisten ermordet. Die Lage der armenischen | |
Minderheit in der Türkei hat sich seitdem eher verschlechtert - und bei | |
Agos ist noch längst keine Ruhe eingekehrt. "Wir werden nach wie vor | |
bedroht", sagt einer der Redakteure, Aris Nalci. "Die Zeitung bekommt | |
Schmähpost, einzelne Redakteure auch Drohanrufe." Für türkische | |
Rechtsradikale, Nationalisten und Neofaschisten bleibt das armenische | |
Wochenblatt ein Hassobjekt. | |
Immerhin, die Zeitung existiert und die Mitarbeiter machen unverändert | |
weiter. Doch die große Solidaritätswelle nach Dinks Tod hielt nur ein paar | |
Monate vor. "In den ersten Monaten danach", sagt Aris Nalci, "haben wir | |
mehr als 10.000 Exemplare verkaufen können." Mittlerweile hat sich die | |
Auflage wieder auf die alte Höhe eingependelt - 5.000 bis 6.000 Zeitungen | |
pro Woche. Ein Geschäft ist das nicht, die meisten Mitarbeiter müssen sich | |
ihren Lebensunterhalt auch anderweitig verdienen. | |
Vor Dinks Todestag herrscht geschäftiges Treiben in der Redaktion: Eine | |
große Gedenkveranstaltung wird vorbereitet; die türkische Öffentlichkeit | |
erinnert sich an den Schock, den der Mord an dem bekanntesten armenischen | |
Intellektuellen des Landes ausgelöst hatte. Die Hintergründe der Tat aber | |
sind längst nicht aufgeklärt. Der Prozess gegen den mutmaßlichen Mörder | |
Ogün Samast schleppt sich seit einem Dreivierteljahr dahin, ohne neue | |
Erkenntnisse hervorzubringen. Samast war auf frischer Tat ertappt worden, | |
als er Hrant Dink niederschoss. Die Nebenklägeranwälte, die die Familie | |
Dink vertreten, versuchen zwar, das Geflecht möglicher Hintermänner zu | |
entwirren - doch bislang vergebens. | |
Mutmaßliche Polizeispitzel, die schon lange vor Dinks Tod von Mordabsichten | |
gegen den angeblichen "armenischen Verräter" berichtet hatten, durften | |
bislang nicht aussagen. Vernehmungen beteiligter Polizisten wurden | |
abgeblockt. Dabei gibt es jede Menge Indizien dafür, dass der Mord auf das | |
Konto rechtsradikaler Seilschaften in Polizei, neofaschistischen Parteien | |
und Armee geht, die jugendliche Täter instrumentalisieren. Dinks | |
mutmaßlicher Mörder war zum Tatzeitpunkt 17 Jahre alt. | |
Diese Zusammenhänge sind nicht aufgeklärt. Stattdessen wurde Dinks Sohn | |
Arat vor Gericht gezerrt - für dasselbe Delikt, für das auch Hrant Dink im | |
Juli 2006 zu sechs Monaten Gefängnisstrafe verurteilt worden war, was ihn | |
erst zur prominenten Zielscheibe für die Nationalisten gemacht hatte: | |
Beleidigung des Türkentums. Arat Dink hatte in Agos den Nachdruck eines | |
inkriminierten Artikels seines Vaters presserechtlich verantwortet - und | |
wurde in erster Instanz ebenfalls verurteilt. Der Prozess gegen ihn wird im | |
Februar fortgesetzt. Er lebt nun mit seiner Familie überwiegend in Brüssel | |
und kommt nur noch gelegentlich nach Istanbul. | |
Chefredakteur von Agos ist heute der armenische Intellektuelle Etyen | |
Mahcupian. Er ist einer der wenigen, die sich durch den Mord an seinem | |
Freund Hrant nicht haben einschüchtern lassen. Die Debatte über die Rolle | |
von Staat und Armee bei der Vertreibung und Ermordung hunderttausender | |
Armenier während des Ersten Weltkrieges wäre durch den Mord an Hrant Dink | |
komplett beendet - gäbe es nicht Mahcupian, der immer wieder, auch in den | |
großen türkischen Tageszeitungen, den Finger in die Wunde legt. Trotz der | |
Gefahr, in die er sich damit begibt, nimmt er Stellung - nicht nur als | |
Journalist, sondern auch als Leiter des Ressorts für demokratische | |
Entwicklungen in einem der renommiertesten türkischen Thinktanks. | |
"Für uns hier bei Agos", sagt Aris Nalci, der Redakteur, "ist es keine | |
Frage, dass wir weitermachen." Die Existenz der Zeitung ist zwar in Gefahr. | |
Doch notfalls, sagt Nalci, würden er und seine Kollegen eben umsonst | |
arbeiten. | |
18 Jan 2008 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Gottschlich | |
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