# taz.de -- Fortsetzung von "Rhythm is it": Hier geht niemand verloren | |
> "Surrogate Cities" von Heiner Goebbels ist Musik für Städter. Berlins | |
> Philharmoniker spielen, Schulklassen und Laien tanzen, unterstützt von | |
> Choreografin Mathilde Monnier. | |
Bild: Dirigent Simon Rattle (li.) und Heiner Goebbels bei den Proben zur Urauff… | |
Rudi stampft mit den Füßen. Der Mann im karierten Hemd, der die Daumen in | |
die Gürtelschlaufen seiner Hose eingehängt hat, ist der Taktgeber der | |
Parkettfeger. Normalerweise übt dieser Berliner Seniorentanzkreis ein | |
Standard-, Lateinamerika- und Countrydanceprogramm, heute aber versuchen | |
sie ihre Figuren zu der Musik von Heiner Goebbels. Mit ihnen probt Mathilde | |
Monnier, Choreografin aus Montpellier. Dreimal schaut sie sich die zu einem | |
Block geordnete Formation von Schrittfolgen aus dem Bebop an und bittet | |
dann: "Könnt ihr das einmal militärisch scharf, einmal lässig und dann mit | |
etwas mehr Sex versuchen?" Die Senioren, dreißig ungefähr, geraten ins | |
Schwitzen. | |
Bei der Probe vor 14 Tagen hörte man die Stimme von Jocelyn B. Smith, einer | |
Jazzsängerin und Mezzosopranistin, noch vom Band, wie sie sich in einem | |
sehr differenzierten und äußerst dramatischen Blues durch einen Text von | |
Heiner Müller bewegte. Heute aber, wenn "Surrogate Cities" in der Arena im | |
Berliner Bezirk Treptow aufgeführt wird, sind sie alle live dabei: Neben | |
Jocelyn B. Smith der unglaubliche Stimmperformer David Moss; Sir Simon | |
Rattle und das Orchester der Berliner Philharmoniker. Und über 120 Tänzer | |
verschiedener Generation, gecastet in Schulen, Tanzkreisen und | |
Kung-Fu-Gemeinden. Zusammengebracht hat sie alle das Education Programm | |
Zukunft@BPhil der Berliner Philharmoniker, das 2002 einen durch den Film | |
"Rhythm is it" berühmt gewordenen Start hinlegte. | |
Mathilde Monnier, die in Montpellier seit 1996 ein choreografisches Zentrum | |
leitet, war in Berlin erst mit wenigen Gastspielen zu sehen. Die meisten | |
Teilnehmer des Education-Projekts sind zwar tanzbegeistert, haben vom | |
zeitgenössischen Tanz aber kaum einen Begriff. "Sie kommt vom Ballett, | |
nicht wahr", sagt eine ältere Parkettfegerin, arglos über alles | |
hinweggehend, was seit Jahrzehnten die Sphären von Klassik und Moderne | |
trennt. Ihr Nichtwissen spielt für die Choreografin keine Rolle, denn sie | |
hat sich ein Konzept zurechtgelegt, offen genug, um auf die Teilnehmer und | |
ihre Fähigkeiten zugeschnitten zu werden. | |
"Die Teilnahme unterschiedlicher Generationen ist mir sehr wichtig", sagt | |
Mathilde Monnier. "Denn es geht in 'Surrogate Cities' ja um das Bild einer | |
Stadt. Da spielt gerade in Berlin das Alter eine große Rolle. Hier haben | |
die Menschen, die über fünfzig sind, ganz andere Erfahrungen als die | |
Jüngeren, und das wollte ich auf der Bühne haben. Einige von den Senioren | |
kommen aus dem Osten, andere aus dem Westen; das ist immer noch | |
offensichtlich, wenn man sie reden hört. Für die Kinder spielt das keine | |
Rolle mehr. Sie haben eine ganz andere Vorstellung von dem, was ihnen fremd | |
ist, als die Älteren." | |
Monnier geht anders vor als Royston Maldoom, der charismatische Anstifter | |
von "Rhythm is it", der mit 250 Jugendlichen "Le Sacre du Printemps" von | |
Strawinsky einstudierte und dabei auf die klassischen Erziehungstugenden | |
des Balletts setzte: Disziplin, Leistung und Selbstüberwindung. Ihr Ansatz | |
ist offener, gibt kaum einzuübende Bewegungen vor, sondern nimmt als | |
Material gerade die Unterschiedlichkeit der Voraussetzungen an. "Das ist | |
für mich ein Abenteuer, bei dem ich viel lerne", sagt sie, die übrigens ihr | |
Deutsch für die Arbeit in Berlin aufgefrischt hat. | |
In Berlin-Neukölln probt Monnier, von drei Assistenten unterstützt, mit 9- | |
und 10-Jährigen der 3b und 4b der Eduard-Mörike-Grundschule. Hier gab es | |
bereits Unterricht durch einen Choreografen über das Projekt TanzZeit, in | |
dem Künstler mit Schulen kooperieren. Weil dafür die Finanzierung aber von | |
Schule und Eltern aufgebracht werden musste, ging das nur ein Jahr. Die | |
guten Erfahrungen damit aber waren ein Motiv, sich für die Teilnahme an | |
"Surrogate Cities" zu bewerben. | |
Was beim Probenbesuch, zwei Wochen vor der Aufführung, zuerst auffällt, ist | |
die ungetrübte Lust der Kinder, jedem Vorschlag von Monnier und Florian | |
Bilbao, der auch bei TanzZeit in viele Schulklassen gegangen ist, zu | |
folgen. Die beiden diskutieren manchmal auf Französisch miteinander, wie es | |
weitergeht; die meisten der Kinder hier kommen aus mehrsprachigen | |
Haushalten und finden dies Gleiten zwischen zwei Sprachen nicht | |
ungewöhnlich. | |
Es sieht so einfach, so naheliegend aus, wie Jungen und Mädchen in einer | |
Szene mit Kisten voller Saft-, Milch- und Eierkartons hereinkommen und | |
jeder für sich seine kleine Stadt aufbaut. Die Musik unterstützt sie dabei | |
mit Dringlichkeit und Entschlossenheit, um kurz darauf, wenn jeder sein | |
Modell betrachtet, durch deren Straßen und über ihre Plätze zu fließen. | |
Dann nehmen Murat und Tanja und all die anderen ihre Städte ein, steigen | |
vorsichtig wie Riesen über die Kartons oder winden sich wie eine Schlange | |
dazwischen. | |
War das so einfach, wie es aussieht, frage ich die Choreografin: "Nein", | |
sagt sie, "denn die Bewegungsimpulse gehen von unterschiedlichen | |
Körpergliedern aus, vom Kopf, von der Hand, vom Fuß. Das mussten sie erst | |
lernen. Außerdem ist die Musik nicht einfach, sie müssen darauf hören, um | |
zu wissen, wann eine neue Phase beginnt. Und darauf achten, ihre Häuser | |
nicht umzuwerfen. Sie müssen präzise sein. Aber ich wollte, dass die Kinder | |
nicht wie 'clevere Monkeys' aussehen, wie gelehrige Nachahmer, sondern wie | |
kluge Kinder, die genau wissen, was sie tun." | |
Das eben ist das Erstaunliche an ihrer Arbeit mit den Laien, dass nichts | |
auswendig gelernt erscheint. Selbst da, wo ganz offensichtlich nachgeahmt | |
wird. Denn mehrmals taucht in ihrer Choreografie eine Art Tanzkaraoke auf, | |
ein Abnehmen der Bewegungen vom Bildschirm. Da ist David Moss zu sehen, der | |
seinen Stimmvortrag mit scharfen Gesten begleitet, attackiert, ausweicht, | |
Akzente in die Luft boxt. Und alle machen das mit, begeistert, als wären es | |
die Posen eines Rockstars und ohne den Schatten eines Zweifels am Sinn | |
dieses höchst artifiziellen Tuns. | |
"Surrogate Cities", von Heiner Goebbels 1994 geschrieben, enthält düstere | |
Versionen von der Zukunft der Städte. Die Texte, die gesungen werden, | |
stammen von Paul Auster (Briefe aus einer Stadt nach dem Atomkrieg), Heiner | |
Müller (Bürgerkrieg). "Running in the streets make you look like you dont | |
belong", heißt es in einem Text von Hugo Hamilton am Ende der Oper. Die | |
Angst, verloren zu gehen, vor Zerstörung und Nichtzugehörigkeit ist immer | |
wieder ihr Thema. Die Choreografie dagegen setzt nicht nur auf Bilder von | |
Zugehörigkeit, sondern lässt sie wirklich entstehen. Und verwandelt so eine | |
pessimistische Erzählung in eine positive Utopie. | |
Denn letztendlich dreht sich alles in diesem Projekt um Teilhabe: Kultur | |
nicht als Ware zu betrachten, sie ohne Austausch zu konsumieren, sondern | |
sich aus ihrem Inneren heraus einen fast familiären Zugang anzueignen. | |
2 Feb 2008 | |
## AUTOREN | |
Katrin Bettina Müller | |
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