# taz.de -- Aufschwung geht an Menschen vorbei: Die Mittelschicht schrumpft | |
> Obwohl die Wirtschaft boomt, rutschen immer mehr Menschen in Deutschland | |
> sozial ab, so zwei Studie. Die Mittelschicht wurde in sechs Jahren acht | |
> Prozent kleiner. | |
Bild: Durchschnittsverdiener? Werden in Deutschland immer seltener. | |
Das gab es noch nie: Die deutsche Wirtschaft wächst - aber die realen | |
Nettolöhne fallen. Die Arbeitnehmer profitieren nicht mehr, wenn die | |
Konjunktur brummt. Die Wachstumsgewinne fließen vor allem an die | |
Unternehmer und Kapitalbesitzer. | |
In den letzten drei Jahren legte die Wirtschaft real um rund 7 Prozent zu, | |
aber die Arbeitnehmer müssen mit durchschnittlich 3,5 Prozent weniger | |
Reallohn auskommen. "Das ist einmalig in der deutschen | |
Wirtschaftsgeschichte", kommentierte Gustav Horn vom gewerkschaftsnahen | |
Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), das am Dienstag | |
eine Studie mit dem programmatischen Titel "Wer profitierte vom | |
Aufschwung?" vorstellte | |
Es sind nicht die Normalverdiener, wie auch das Deutsche Institut für | |
Wirtschaftsforschung (DIW) in einer aktuellen Untersuchung feststellt: Die | |
Mittelschichten schrumpfen, womit jene Haushalte gemeint sind, die über 70 | |
bis 150 Prozent des Durchschnittseinkommens verfügen. Über Jahrzehnte | |
machte diese Gruppe stabil 62 Prozent der Deutschen aus. Doch plötzlich, | |
nach der Jahrtausendwende, beginnt es zu bröckeln. 2006 gehörten schon nur | |
noch 54 Prozent zur Mittelschicht. Das sind 44 Millionen Menschen, die sich | |
als Mitte definieren können, 5 Millionen weniger als im Jahr 2000. | |
Wer nicht mehr dazugehört, steigt ab: 2006 zählte zu den unteren Schichten | |
bereits ein Viertel der Bevölkerung - damit ist der Anteil der Armen seit | |
2000 um 7 Prozentpunkte gestiegen. | |
Wie dramatisch sich die deutsche Wirtschaftswelt seit dem Jahr 2000 | |
gewandelt hat, tritt auch sehr deutlich in der IMK-Studie hervor. Denn sie | |
hat den methodischen Kniff gewählt, den jetzigen Aufschwung ab 2005 mit dem | |
letzten Boom zu vergleichen, der 1998 begann. An der Oberfläche verlief die | |
Entwicklung zunächst ähnlich: Beide Aufschwungphasen währten rund drei | |
Jahre, jedes Mal wuchs die Wirtschaft um etwa 7 Prozent. Der Export | |
entwickelte sich ebenfalls vergleichbar- von 1998 bis 2001 legte er real um | |
25 Prozent zu, diesmal waren es sogar 31 Prozent. Und schließlich hat die | |
sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ähnlich stark zugenommen: | |
Diesmal betrug das Plus 759.000 Stellen, im letzten Zyklus waren es | |
653.000. | |
Doch dann beginnen die signifikanten Unterschiede: Beim letzten Aufschwung | |
legten die realen Nettolöhne pro Arbeitnehmer noch um 4 Prozent zu. Jetzt | |
gingen sie, wie gesagt, um 3,5 Prozent zurück. Das drückt sich auch in der | |
Lohnquote aus, die angibt, wie groß der Anteil der abhängig Beschäftigten | |
am Volkseinkommen ist: 2001 waren es noch 71 Prozent, inzwischen ist die | |
Lohnquote auf 64 Prozent eingebrochen. Die Schere zwischen Gewinnen und | |
Gehältern öffnet sich immer weiter. | |
Optimisten könnten nun hoffen, dass auch die normalen Haushalte | |
profitieren, wenn etwa die Dividenden bei Aktien steigen. Schließlich hat | |
ja auch die Mittelschicht in Fonds oder Lebensversicherungen investiert. | |
Doch ist dies eine Minderheit: Wie kürzlich eine DIW-Studie ergab, verfügen | |
zwei Drittel der erwachsenen Bevölkerung über gar keine oder nur geringe | |
Besitztümer. Das reichste Zehntel hingegen nennt knapp 60 Prozent des | |
Volksvermögens sein Eigen. | |
Verloren haben auch alle, die staatliche Leistungen erhalten: also Rentner, | |
Arbeitslose, Kindergeld- oder Bafög-Empfänger. Ihre Zuwendungen sanken in | |
den vergangenen drei Jahren real um fast 6 Prozent - denn trotz des Booms | |
gab es noch nicht einmal einen Inflationsausgleich. Beim Aufschwung vor | |
zehn Jahren war der Staat noch großzügiger: Damals stiegen die | |
Transferzahlungen um knapp 4 Prozent. | |
Es kann daher nicht erstaunen, dass die meisten Bürger inzwischen von | |
Anschaffungen absehen: Der Privatkonsum stagniert bisher - und wuchs real | |
nur um 1 Prozent. Es darf vermutet werden, dass dieses Plus vor allem den | |
vermögenden Haushalten zu verdanken ist, während sich die ärmeren Schichten | |
noch stärker einschränkten. | |
Wenn die meisten Arbeitnehmer schon im Aufschwung zu den Verlierern zählen, | |
wie soll das erst im Abschwung werden? Das DIW konstatiert, dass die | |
Deutschen zunehmend ängstlich auf ihre wirtschaftliche Zukunft schauen. In | |
den 80er-Jahren machten sich in Westdeutschland noch mehr als 40 Prozent | |
der Menschen "keine Sorgen"; in den 90er-Jahren waren es in | |
Gesamtdeutschland immerhin noch rund 30 Prozent. Inzwischen sind jedoch nur | |
noch 23 Prozent optimistisch. | |
4 Mar 2008 | |
## AUTOREN | |
U. Herrmann | |
L. Gaede | |
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