# taz.de -- die wahrheit: Das Wesen des Zottels | |
> Dringend notwendige Würdigung eines langfelligen Uradeligen auf vier | |
> Beinen: der Wisent (Bison bonasus). | |
Bild: Uradeligen auf vier Beinen: der Wisent. | |
Als im Jahre 1758 der schwedische Naturforscher Linnaeus mit dem Begriff | |
"Bison bonasus" endlich einen passenden lateinischen Namen für den Wisent | |
fand, war dieser von ostpreußisch-deutschem Boden bereits seit drei Jahren | |
verschwunden, eine letzte Tonne Frischfleisch von Wildererhand meuchlings | |
hingestreckt worden. | |
Der Europäische Bison hatte es aber auch davor schon nie ganz leicht gehabt | |
bei seinem Kampfgewicht, wissenschaftliche Hetzschriften taten ihr Übriges: | |
"Dann dem wisent werdend von den alten zugeben, daß er häßlich seye, | |
scheutzlich, vil haare, mit einem dicken langen halshaar als die Pfärdt, | |
item gebartet, summa gantz wild und ungestalt". So hatte Conrad Gesner den | |
Wisent im 16. Jahrhundert beschrieben, und sogar der Spätromantiker Joseph | |
von Eichendorff, eigentlich ein aufgeschlossener Beobachter von Wald und | |
Flur, hatte nur kühle Kritik für das majestätische Zottelwesen übrig, als | |
er in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dichtete: "Der Wisent läuft im | |
Gras herum und trampelt alle Halme krumm. Doch auch wenns Wisent anders | |
hieße: er ist das Ende dieser Wiese." | |
In Polen fielen im Jahre 1921 die Wisente den Nachkriegswirren zum Opfer, | |
im Kaukasus sechs Jahre später die finalen Schüsse. Nur in Frankfurt wuchs | |
angesichts der Gefahr völliger Ausrottung das Rettende auch, in Gestalt der | |
"Gesellschaft zur Rettung der Wisente", die den letzten überlebenden | |
Kaukasusbullen mit anderen Gefangenen zusammenführte und in den | |
Fünfzigerjahren erste Wiederauswilderungen ins Auge fasste. | |
Ein großer Freund des Wisents war der Philosoph Ludwig Wittgenstein. Er | |
hatte den Wisent jahrelang im Wiener Zoo beobachtet und zum Ausgangspunkt | |
seiner Philosophie gemacht. Sätze wie "Wovon man nicht sprechen kann, | |
darüber muß man schweigen" sind der dampfende Ausdruck des wisentlichen | |
Unvermögens, das große Maul zu mehr als zum Halmabzupfen und Wiederkäuen zu | |
bewegen. Vor allem aber die spartanische Genügsamkeit beim Moosmampfen und | |
Flechtenäsen bildete das Substrat für den Zentralsatz Wittgensteinscher | |
Spätphilosophie: "Was ich esse, ist mir gleich, die Hauptsache, es ist | |
immer dasselbe." | |
Goethe hatte seinen Zwischenkieferknochen, den er immer bei sich trug und | |
an dem er lutschte, wenn er mal nicht weiter wusste. Wittgenstein dagegen | |
fand im Wisent das Wesen, das ihm den Ausweg aus seinem verworrenen | |
Jugendwerk wies. Deshalb ist sein früher Tod nachgerade doppelt schade, | |
denn ausgerechnet in seiner geistigen Heimat, dem Wittgensteiner Land, wird | |
zurzeit fieberhaft an der Wiederbesiedlung Deutschlands durch den "König | |
des Grashalms" (Walt Whitman) gearbeitet. Vor drei Jahren öffnete das erste | |
Wisentbüro weltweit im nordrhein-westfälischen Bad Berleburg seine Pforten. | |
Richard Prinz von Sayn-Wittgenstein-Berleburg persönlich lässt es sich | |
nicht nehmen und gibt durchfahrenden Touristen Tipps und Zettel in die | |
Hand, wie sie sich demnächst auf Kollisionen mit den verzottelten | |
Vierbeinern einstellen können - selbstverständlich mit Wisentkenner | |
Wittgensteins Hilfe, der unter Punkt 2.0123 in seinem "Tractatus | |
logico-philosophicus" vermerkte: "Wenn ich den Gegenstand kenne, so kenne | |
ich auch sämtliche Möglichkeiten seines Vorkommens in Sachverhalten." | |
Wer also den Wisent bislang nicht kennt, hat bald am Südrand des | |
Rothaargebirges ausreichend Gelegenheit, diesem Manko abzuhelfen. Die | |
dunkle Färbung seiner Mähne hebt ihn gut sichtbar von der leuchtenden | |
Umgebung ab. Oder um es in der Königsdisziplin Wittgensteins, der | |
Sprachlosigkeit, auszudrücken: "Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies | |
zeigt sich, es ist das Wesentliche, sprich: das Wisent." REINHARD UMBACH | |
12 Mar 2008 | |
## AUTOREN | |
Reinhard Umbach | |
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Kanada | |
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