# taz.de -- Interview Marcia Pally: "Ich wäre gerne Königin von Amerika" | |
> Die Soziologin Marcia Pally. warnt vor einem guten Freund: Den | |
> Vereinigten Staaten von Amerika. In Ihrem neuen Buch legt sie das | |
> religiöse Wurzelwerk ihres Heimatlandes offen. | |
Bild: Wer die Mentalität der USA verstehen möchte, muss sich mit den religiö… | |
taz: Ms Pally, Clinton heult, Obama predigt, McCain spielt den Helden - | |
haben die amerikanischen Präsidentschaftswahlen uns noch etwas anderes zu | |
bieten als Soap Opera? | |
Marcia Pally: Kostenloses Entertainment! Wir haben der Welt so viel Kummer | |
bereitet in der letzten Zeit - ich denke, Amerika schuldet der Welt ein | |
paar Monate unbeschwerte Unterhaltung, wenigstens das. | |
Wem, Ms Pally, werden Sie bei der Wahl Ihre Stimme geben? | |
Einem Demokraten. | |
Schwarzer Mann oder weiße Frau - wen sähen Sie lieber im Weißen Haus? | |
Vor dieser Entscheidung habe ich bisher nie gestanden, und um ehrlich zu | |
sein, wollte ich mich dazu auch nie zwingen. 1960 haben wir angefangen, | |
Antidiskriminierungsgesetze für Frauen und für Minderheiten zu erkämpfen. | |
Sinn dieser Gesetze war es, allen Minderheiten und den Frauen eine faire | |
Konkurrenz gegen die weißen Männer zu garantieren - wir haben damit nicht | |
gemeint, dass sie miteinander konkurrieren sollten! | |
Trotzdem: Entscheiden Sie jetzt! | |
Lassen Sie mich zuerst Folgendes sagen: Ich werde für die Demokraten | |
stimmen, weil ich mit ihren Positionen zu den heißen sozialen Themen | |
stärker übereinstimme: Reproduktionsrechte, homosexuelle Rechte, | |
homosexuelle Ehe et cetera. Und unter den gegenwärtigen Bedingungen in den | |
USA unterstütze ich auch ihre ökonomische Plattform eher als die der | |
Republikaner. | |
Aber wer von den beiden Kandidaten wäre als Symbol der politischen | |
Emanzipation wirkungsvoller? | |
Da beide Kämpfe - um die Rechte der Frauen und die der Schwarzen - in den | |
Vereinigten Staaten seit so langer Zeit geführt werden, sind beide | |
Kandidaten gleichermaßen bemerkenswert. Wir haben eine starke schwarze | |
professional class in allen Arenen, auch in der Regierung, der | |
Gerichtsbarkeit, der Wissenschaft und in den juristischen Berufen. Das ist | |
eine Entwicklung in die richtige Richtung und muss auch als solche benannt | |
werden. Außerdem: Ein nichtweißes Gesicht, das Symbol einer person of | |
color, könnte die aktuellen schlechten Beziehungen im außenpolitischen | |
Kontext aufstören - und Wege öffnen für bessere Beziehungen. | |
In den USA gab es aber auch eine starke Frauenbewegung. | |
Die ersten Nutznießer der Antidiskriminierungsgesetze waren weiße Frauen. | |
Es hat zwanzig, dreißig Jahre gebraucht, bis die afroamerikanische | |
Community aufholen konnte. Die Präsenz einer Frau und eines schwarzen | |
Mannes im Vorwahlkampf heißt aber noch lange nicht, dass einer von beiden | |
die Präsidentschaftswahlen gewinnen wird. Es könnte einen republikanischen | |
Präsidenten geben, entweder aus politisch programmatischen oder aus | |
hässlicheren Gründen: dass die Nation immer noch nicht bereit ist, einen | |
schwarzen Mann zu wählen oder eine Frau. | |
Die Schriftstellerin Doris Lessing ruft dazu auf, Hillary und Obama nur als | |
Paket zu wählen - weil sonst die Gefahr zu groß sei, dass Obama einem | |
Attentat zum Opfer fällt. | |
Wenn sie das so gesagt hat, finde ich es verwirrend. Sie hat Angst, dass | |
Obama umgebracht wird? Von wem, von Clinton? Und sie denkt, um das zu | |
verhindern, sollten die beiden als Paket auftreten - das heißt immer | |
gemeinsam? Als Team? Wie soll ein Wahlkampf als Team einen Attentatsversuch | |
verhindern? Wenn Lessing das denkt, denke ich: Sie liest zu viele Thriller. | |
Gut, dann wünschen wir allen dreien jetzt ein langes, glückliches Leben. | |
Aber könnte eine Frau als Präsident nicht ein kleines Erdbeben auslösen? | |
Es gab kein Erdbeben mit Thatcher | |
Nein, aber Sie schreiben doch selbst, die USA sind "das Land mit den | |
größten Kanonen" | |
Die erste Frau als Präsidentin der Vereinigten Staaten wird sehr strikt | |
daran arbeiten müssen, als oberste Kommandantin des größten Militärapparats | |
der Welt anerkannt zu werden. Sie muss zeigen, dass sie fähig ist, harte | |
Entscheidungen zu fällen ohne jegliche Sentimentalität. | |
Hillary - sentimental? | |
Natürlich nicht. Mit Macht kennt sie sich gut aus. Aber es gibt etwas, was | |
ihr fehlt. Bill Clinton und natürlich Obama haben diesen Predigerton und | |
einen Rhythmus in ihren Reden, der warm ist und alle einbezieht und funny | |
und folksy ist. Und sie geben dir das Gefühl, sie sprechen wirklich zu dir, | |
sie meinen dich. Und das kriegt sie nicht hin. | |
Finden Sie diese Predigerei in der Politik nicht beängstigend? | |
Sie dürfen nicht vergessen, dass der Evangelikalismus zu einer der | |
Hauptquellen der amerikanischen Mentalität geworden ist. Das ist der Punkt, | |
auf den man achten muss. Der Evangelikalismus war die dominante Religion in | |
den USA von der Kolonialzeit bis zum Ersten Weltkrieg - und zwar unabhängig | |
von jeder Regierung. Deshalb konnte er sich ein positives Renommee | |
erhalten. | |
Haben Sie deshalb die "Vereinigten Gottesstaaten von Amerika" zum Thema | |
Ihres neuen Buches gemacht? | |
Das ist ein schön provozierender Begriff, aber die USA sind keine | |
Theokratie, weit entfernt davon. Sie haben sehr starke säkulare | |
Institutionen. Aber auch die religiösen Institutionen waren schon immer | |
sehr stark. Die USA sind also kein säkulares Land - genauso wenig wie | |
irgendein europäisches Land. In den USA haben wir eine pluralistische, | |
keine säkulare Zivilgesellschaft. | |
Aber sollten die Evangelikalen nicht lieber in der Kirche bleiben - und | |
sich aus der Politik raushalten? | |
Menschen entkommen ihren Kulturen nicht, und wenn, dann nur um Millimeter. | |
Religion, insbesondere die evangelikale, ist eines der Hauptfundamente der | |
amerikanischen Politik. Das gilt sogar für unsere Außenpolitik, die ihre | |
Wurzeln zum Teil in der evangelikalen Mentalität hat. | |
Die Evangelikalen haben die Politik erfolgreich missioniert? | |
Der Evangelikalismus ist aus England und Deutschland in die USA | |
herübergekommen. Mit anderen Worten: Ihr seid schuld! Euer europäischer | |
Evangelikalismus ist verschmolzen mit dem Selbstverständnis der Pioniere, | |
dem isolierten und kargen Leben damals, in dem ständig die | |
Unternehmungskraft des Einzelnen betont wurde: Mach was draus! Verlass dich | |
nur auf dich selbst, wenn du überleben willst! Es gab natürlich | |
Institutionen und Communities, aber im Vergleich zu Europa war der Einzelne | |
viel mehr auf sich selbst angewiesen. Er hatte aber auch mehr | |
Möglichkeiten, sich zu entfalten und zu entwickeln, und stand weniger unter | |
staatlicher Beobachtung. | |
Hat die fehlende Obrigkeit die Form der Religiosität beeinflusst? | |
Der Evangelikalismus, der aus Europa kam, war antiautoritär: Lies die Bibel | |
- du selbst! Und interpretiere sie gleich auch selbst, auf deine Art. | |
Dieses sehr starke antihierarchische, individualistische Element im | |
Evangelikalismus war wie gemacht für das amerikanische Siedlerleben damals. | |
Und der liebe Gott? Der oberste Pionier hatte nur noch Statistenrolle? | |
Oh, er war überall, aber die Pioniere liebten diese evangelikale | |
Verschiebung: Aus "Gott entscheidet!" wurde "Der Mensch entscheidet!" Deine | |
Entscheidung für Jesus bringt dich auf den Pfad der Erlösung! Auch das ist | |
eine in hohem Maße anspornende, individualistische Ausrichtung: Es kommt | |
auf dich an! Das hat aus den Amerikanern so hervorragende Kämpfer gemacht: | |
Du schaffst das! Die Grenzgebiete besiedeln, das Land aufbauen, die | |
Entwurzelung der Immigration ertragen | |
Schufte oder stirb | |
und kümmer dich um deine Sünden. Der dritte Aspekt im evangelikalen Kontext | |
ist die Idee, dass Sünden nicht nur vergeben werden können, sondern dass | |
der Mensch gänzlich frei von Sünde werden kann. Das ist die Doktrin der | |
Perfektionierbarkeit des Menschen: Vielleicht erreichst du es nie, aber du | |
kannst danach streben, dein Leben perfekt zu machen und das deiner Familie. | |
Und die Amerikaner haben sich nicht nur auf sich selbst gestürzt mit diesem | |
Gedanken der Vervollkommnung, sondern auch auf andere Völker | |
Das ist ja auch die perfekte Ideologie für den Kapitalismus - und | |
imperialistische Ziele. | |
Wir müssen uns darüber Sorgen machen, wie die heutige amerikanische | |
Außenpolitik an die Mentalitätsgeschichte der Evangelikalen von 1780 und | |
1880 anknüpft. An das Phänomen, das ich "missionierenden Liberalismus" | |
nenne. Wir reden von einem kulturgeschichtlichen Hintergrund, der immerhin | |
schon dreihundert Jahre alt ist. Er hat brillante und vernichtende | |
Ergebnisse hervorgebracht. Und heute, 2008, gilt immer noch: Es ist sehr | |
unwahrscheinlich, dass ein Präsidentschaftskandidat, egal wer, aus diesen | |
kulturellen Wertvorstellungen herausspringen und an dieser Stelle eine | |
radikale Veränderung bewirken kann. | |
Also sind wir zur Hoffnungslosigkeit verdammt - keine echten Veränderungen | |
in Sicht? | |
Deutschland und Europa sollten sehr realistisch sein, was den Spielraum in | |
der amerikanischen Außenpolitik angeht. Denn der ist minimal. Die | |
amerikanische Außenpolitik ist aber auch nicht die Wurzel allen Übels in | |
der Welt. Es gibt noch andere Bad Guys, die in der Weltgeschichte | |
herumlaufen. Jede Außenpolitik orientiert sich am Eigeninteresse. Aber | |
doch, es gibt Hoffnung, gerade weil die Amerikaner, tatsächlich und | |
aufrichtig, an diese optimistische "Hey, wir schaffen das!"-Pflicht zur | |
Befreiung anderer glauben. | |
Letzten Endes sind Sie Amerikaner doch immer die Guten | |
Wir können die Berliner Luftbrücke als das eine Extrem nehmen und Napalm | |
als das andere. Welche Politik auch immer aus dieser Mentalität entstanden | |
ist - aus Unbeweglichkeit und Weltanschauungsgründen wird sich die | |
US-Außenpolitik mit hoher Wahrscheinlichkeit auch weiterhin innerhalb | |
dieses Rahmens bewegen. | |
Macht Sie das nicht zornig? | |
Wenn man, wie ich, die guten Dinge bewundert, die aus der amerikanischen | |
Mentalität entstehen können - und manchmal auch entstehen -, dann ist man | |
sehr enttäuscht von der Kehrseite der Medaille, den tragischen Dingen, die | |
sich daraus entwickeln. Die Dinge, die wir bewundern an der amerikanischen | |
Außenpolitik, und die Dinge, die wir verabscheuen, stammen aus der gleichen | |
Quelle. Und ein wichtiger Teil dieser Ursprungsquelle ist die evangelikale | |
Mentalität. Wenn das so ist, dann ist es sehr, sehr schwer, das eine ohne | |
das andere zu bekommen - das Gute ohne Risiko des Schlechten. | |
Mit dieser amerikanischen Janusköpfigkeit hat niemand bisher so perfekt | |
gespielt wie George W. Bush und die Neocons. | |
Das ist ein Irrtum! Es gibt eine Richtung in der politikwissenschaftlichen | |
Analyse, die sich distanzieren will von den Neocons und sie deshalb als | |
außergewöhnlich bezeichnet. Das ist Weißwäscherei und selbstgefällig. Ich | |
denke nicht, dass die Neocons eine Ausnahme darstellen, ich halte auch Bush | |
nicht für außergewöhnlich. Ich mag seine Außenpolitik nicht, aber er ist | |
keine Besonderheit in der US-Tradition. Foltereinsatz und Manipulation von | |
Beweismaterial eingeschlossen. Wir haben Folter eingesetzt, um die | |
Unabhängigkeit auf den Philippinen zu unterdrücken, und wir haben über | |
Generationen auch in Lateinamerika gefoltert | |
Zurück nach Washington: Seit vielen Jahren sind die Evangelikalen | |
verlässliche Partner für die Republikaner und zuletzt Bush. Könnten sie je | |
Verbündete der Linken werden? | |
Wir haben ganz einfach keine Linke in dem Sinne wie in Europa - mit einer | |
eigenen ökonomischen und politischen Geschichte. Aber viele Evangelikale | |
sind Bündnispartner, wenn es um eine Strategie geht, die den Armen und den | |
Arbeiterklassen in den USA und den Armen in Übersee zugutekommt. | |
Kann man überhaupt von den Evangelikalen sprechen? | |
Sie sind immer eine sehr heterogene Gruppe gewesen. Es gibt viele | |
verschiedene Kirchen, viele verschiedene Theologien - aber inzwischen auch | |
viele verschiedene ökonomische Plattformen. Einige der Kirchen haben sich | |
nun von der Wirtschaftspolitik der Republikaner distanziert. Die Koalition | |
zersplittert. Und die Ökonomie ist nun mal Brot und Butter der | |
republikanisch-evangelikalen Koalition. Wenn die Koalition an dieser Stelle | |
auseinanderbricht, dann bricht sie ganz. | |
Was treibt diesen Teil der Evangelikalen weg von den Republikanern? | |
Der Vizepräsident der National Association der Evangelikalen hat vor kurzem | |
gesagt: Es steht nichts in der Bibel, das mir vorschreibt, in | |
wirtschaftlichen und politischen Fragen ein Konservativer zu sein. Diese | |
Evangelikalen sind glühende Antimilitaristen, sie sind Konsum- und | |
Globalisierungsgegner aus religiösen Gründen: Folge Jesus und seinem Weg, | |
er hat sich den Armen gewidmet, und das solltet auch ihr tun! Deshalb gibt | |
es evangelikale Pfarrer, die sagen: Hört auf, die Vereinigten Staaten ein | |
christliches Land zu nennen. Wir sind vielleicht Christen, aber wir sind | |
kein christliches Land - wir müssen aufhören, militärische Abenteuer zu | |
glorifizieren. | |
Könnten diese Evangelikalen zum Motor einer neuen Politik werden? | |
Sie ähneln sehr den "Social Gospel"-Evangelikalen des späten 19. und frühen | |
20. Jahrhunderts. Das waren Menschen, die dem Weg Jesu folgten und es auf | |
sich nahmen, mit den Armen zu arbeiten und zu leben, um deren | |
Lebensstandard zu verbessern. Diese "Social Gospel"-Evangelikalen | |
entwickelten eine tiefe Kritik am Kapitalismus - obwohl sie nicht | |
linksgerichtet waren. | |
Sie sind also antimilitaristisch, konsumkritisch, aber - konservativ? | |
Konservativ in den sozialen Themen - das sind keine Hippies. Sie sind gegen | |
Sex außerhalb der Ehe, gegen Abtreibung, gegen homosexuelle Ehen, | |
allerdings nicht gegen Bürgerrechte für Homosexuelle, besonders die jüngere | |
Generation nicht. Ich bin sehr gespannt, wie diese Gruppe sich bei den | |
Wahlen im November entscheiden wird. | |
Was ist mit den nichtreligiösen Wählern? Was steht für sie bei der | |
Präsidentschaft im Vordergrund? | |
Interessanterweise haben die USA eine lange Tradition, in der | |
gesellschaftliche Gruppen gegen ihre eigenen ökonomischen Interessen | |
wählen. Ronald Reagan hat seine zweite Wahl grandios gewonnen, obwohl es | |
der Mehrheit der Amerikaner während seiner Regierungszeit wirtschaftlich | |
nicht gut ging. Auf der vordersten Herdplatte der Amerikaner steht zwar der | |
Topf mit den wirtschaftlichen Interessen. Aber es gibt natürlich noch | |
andere Prioritäten: ethische und soziale Interessen und das Bedürfnis nach | |
einer Führungsperson, die das amerikanische Selbstbild des | |
energiegeladenen, nach vorne schauenden Befreiers projiziert. | |
Die Frage ist doch: Um welche Freiheit geht es? Die Steuersenkungspolitik | |
von Reagan und Bush zum Beispiel hat nur den Reichen genutzt. | |
So denken Amerikaner nicht. Amerikaner denken eher: Die Regierung soll sich | |
lieber aus meinen Angelegenheiten raushalten. Wenn ich ein bisschen mehr | |
Geld kriege, stell ich damit auch was Gutes an - die Regierung bringt bloß | |
alles durcheinander, ich doch nicht! Ein wenig mehr Geld, dann gehts mir | |
ein kleines bisschen besser, und ich habe die Chance, etwas Großes zu | |
machen! Das ist ein sehr wichtiger Teil der amerikanischen Mentalität: | |
Guckt euch Bill Gates an! Guckt euch Bill Clinton an! Alleinerziehende | |
Mutter, aufgewachsen in einer Familie der unteren Mittelschicht - wird | |
Präsident der Vereinigten Staaten! | |
Aber das ist Tellerwäscher-Hollywood, der amerikanische Traum. Das | |
Alltagsleben der meisten Amerikaner sieht anders aus. | |
Es ist ein Traum, ja. 2002 waren 19 Prozent der Amerikaner überzeugt, sie | |
gehörten zu dem einen Prozent der obersten amerikanischen Einkommenssparte. | |
Das heißt: 18 Prozent haben sich in ihrer Einschätzung geirrt! Sie haben | |
ihren eigenen Wohlstand überschätzt. Weitere 20 Prozent glaubten, sie kämen | |
bald in diesem obersten Prozent an. 38 Prozent der amerikanischen | |
Öffentlichkeit dachten also, sie wären sehr reich und würden von der | |
republikanischen Politik profitieren. Das war 2002 - in einer Rezession! Im | |
gleichen Jahr waren 80 Prozent der Collegestudenten der Überzeugung, | |
reicher zu werden als ihre Eltern - obwohl das Durchschnittseinkommen seit | |
langem im Wesentlichen stagniert. 59 Prozent dachten, sie werden irgendwann | |
Millionär. | |
Nichts ist so schwer auszurotten wie ein Mythos. | |
Das ist die Kraft dieses optimistischen "Wir schaffen das!". Wenn man daran | |
glaubt, dass die Verhältnisse sich bessern lassen, dann tut man auch was | |
dafür, dass sie wirklich besser werden. Das ist das, was wir unter anderem | |
von den Evangelikalen gelernt haben. Das führt manchmal zu einer dummen | |
Politik, weil die Menschen für politische Konzepte stimmen, die nicht die | |
Resultate bringen, die sie erwarten. | |
Was ist das bloß mit Ihnen und den Evangelikalen? Gibt es für Sie | |
biografische Gründe, sich mit diesem Thema so lange zu befassen? Wie halten | |
Sies denn mit der Religion? | |
Ist das was Deutsches, diese Frage zu stellen? | |
Das ist was Journalistisches. | |
Amerikanische Journalisten würden fragen: Wie bist du über dieses Thema | |
gestolpert, was hat das mit deinem Denken zu tun? Nicht unbedingt: Ist das | |
vorbestimmt durch etwas in Ihrem Lebenshintergrund? Ich habe festgestellt, | |
dass ich aus dem Bauch heraus abwehrend reagiere auf diese deutsche Frage. | |
Finden Sie, die Frage geht zu weit? | |
Nicht zu weit, nein. Aber mein Bauchgefühl ist, dass es mehr um Vorfahren | |
oder stammesgeschichtliche Verbindungen geht als darum, was mich in meiner | |
Vorstellung, in meiner Fantasie fesselt an dieser Geschichte. Ich will | |
einfach nicht in irgendeiner Schublade landen. Und diese Frage hat was | |
davon. | |
Sie wollen diese journalistische Frage im German style also nicht | |
beantworten? | |
Dafür gern die Frage, wie ich dazu gekommen bin, dieses Buch zu schreiben. | |
Bitte! Sie planen ja sogar ein weiteres Buch über die Evangelikalen. Gibt | |
es nicht zig spannendere Themen? | |
Ich bin geschockt, dass Sie nicht wissen, wie abenteuerlich die Geschichte | |
der Evangelikalen ist! Diese Burschen sind enorm aufregend, besonders die | |
Evangelikalen aus dem 19. Jahrhundert, die verrückt waren. Verrückt! Diese | |
durchgedrehten Wanderprediger sind der Stoff, aus dem amerikanische | |
Folklore gemacht ist. Sie denken, die Cowboys waren Ikonen? Und diese | |
Wanderprediger etwa nicht? Die Tausende von Meilen abgeklappert haben, hoch | |
zu Pferde bei jedem Wetter, und jung gestorben sind? Wir reden schließlich | |
über die amerikanische Pionierzeit, und was machte man damals? Man schoss | |
sich gegenseitig über den Haufen. Und warum? Wegen Streitigkeiten zwischen | |
den Methodisten und den Baptisten! Das waren ziemlich wilde Charaktere. Die | |
weiblichen Prediger eingeschlossen. | |
Es gibt Tausende von Filmen über Cowboys und den Westernmythos. Aber hier | |
in Europa interessiert sich kein Mensch für die Evangelikalen. | |
Im Ernst: Das ist ein Fehler! Dieses Thema verspricht einen großen | |
Erkenntnisgewinn, wenn man Gegenwart und Vergangenheit der US-Politik | |
verstehen will. Und die Zukunft. Und, was diese unglaublichen Geschichten | |
mit den verrückten Predigerfiguren angeht - ich hoffe, ich kann die | |
Filmrechte verkaufen. Daraus könnte man tolles Kino machen. | |
Der Westernmythos war so erfolgreich, weil er sich um eine optimistische | |
Zukunft dreht. Jemand geht in den Westen und siegt über alle Gefahren. Die | |
Evangelikalen liefern keine optimistische Zukunftsvision für nichtreligiöse | |
Leute. | |
Die Evangelikalen hatten die gleiche Obsession mit den Möglichkeiten einer | |
besseren Zukunft wie alle anderen Immigranten der USA. Sie haben diese | |
amerikanische Obsession mitbeeinflusst und sich wiederum auch von ihr | |
beeinflussen lassen. | |
Ja, klar, aber das langt doch nicht! | |
Warum nicht? | |
Kein Sex, keine Verbrechen | |
Haha! | |
und nur gesegnete Gewehre | |
Dafür aber reichlich davon! Und es gab auch Sex, nicht ganz so reichlich. | |
Das waren jedenfalls keine Mönche. | |
Aber sexy ist was anderes | |
Nachdem ich, um dieses Buch zu schreiben, fünf Jahre in Bibliotheken und | |
Archiven gearbeitet und mich mit der amerikanischen Außenpolitik | |
beschäftigt habe, muss ich ehrlich sagen, am meisten Spaß hat es gemacht, | |
die Evangelikalen zu lesen. Es ist wirklich eine aufregende Geschichte. Und | |
wenn die hier in Deutschland unbekannt ist, dann hoffe ich, das mit meinem | |
Buch zu ändern. Das richtig spannende Zeug hat sich im späten 18. und 19. | |
Jahrhundert abgespielt. Die Predigten, die Tagebücher und Briefe aus dieser | |
Zeit sind sehr, sehr lebendig und bunt - auch die Widersprüche, die | |
verschiedenen Gruppen, die Aufsplitterungen, all das. | |
Ihr ganzes Land ist ein Paradies für Widersprüche. Was für ein Amerika | |
hätten Sie gern? | |
Ich wär natürlich gern Königin. Das vorausgesetzt, würde ich von allen | |
Amerikanern verlangen, dass sie mehrere Jahren außerhalb der USA arbeiten. | |
Arbeiten - nicht rumreisen. Um auf der intellektuellen Ebene, aber auch im | |
Bauch ein Gespür für zwei Dinge zu bekommen: wie die Menschen außerhalb der | |
USA Amerika wahrnehmen. Und wie unterschiedlich die Menschen weltweit leben | |
und denken. | |
Sie sind ja selbst Teilzeitflüchtling. | |
Schon lange! Ich lebe und arbeite mehrere Monate im Jahr in Berlin - das | |
hält mich davon ab, stupid zu werden. Ich denke, es ist sehr wichtig, an | |
einem Ort zu leben und zu arbeiten, an dem das, was man als | |
selbstverständlich voraussetzt, nicht das ist, was die Leute um einen herum | |
für selbstverständlich halten. Letztlich für jeden, besonders aber | |
vielleicht für Amerikaner. Mich jedenfalls hält es wach. Und diese | |
Erfahrung wünsche ich allen Amerikanern. Wäre ich also Königin, würde ich | |
mein Volk, sagen wir mal für fünf Jahre, zur Arbeit außerhalb der USA | |
verdonnern. Nicht alle auf einmal natürlich, dann wäre ja der halbe | |
Kontinent leer | |
das würde einige andere Probleme lösen | |
und Sie würden eine Menge von Amerikanern kriegen, über die Sie gar nicht | |
glücklich wären. | |
INTERVIEW: BASCHA MIKA UND GABY SOHL | |
Marcia Pally: "Warnung vor dem Freunde. Tradition und Zukunft | |
US-amerikanischer Außenpolitik". Parthas, Berlin 2008, 200 Seiten, 19,80 | |
Euro | |
13 Mar 2008 | |
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Großbritannien | |
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