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# taz.de -- Prozess gegen Mutter neun toter Babys: Der Vater bleibt unbehelligt
> Im Berufungsverfahren gegen die Mutter der neun toten Babys aus
> Brandenburg wird das Urteil erwartet. Obwohl sie ihren Mann belastete,
> wurde gegen ihn keine Anklage erhoben.
Bild: Stellen die Richter bei Sabine H. eine verminderte Schulfähigkeit fest, …
FRANKFURT(ODER) taz Sabine H. freut sich auf ihre Kinder. Sie schickt ein
Lächeln durch den Saal. Tränen rinnen über ihre Wangen. Sie will den
Kindern in die Augen schauen, buhlt um einen Blick, ein Zwinkern, eine
Sekunde Nähe.
Doch die junge Frau und ihre beiden Brüder starren geradeaus. Nacheinander
zwängen sie sich in die Zeugenbank. Sorgsam meiden sie den Blick hinüber zu
ihrer Mutter. Alle drei tragen dunkle Oberteile zu blauen Jeans, als
wollten sie schon durch ihre Kleider sagen: Wir gehören zusammen. Wir sind
eine Familie. Auch ohne die zierliche Frau mit dem adrett frisierten Haar,
die dort drüben auf der Anklagebank sitzt. Das Gericht nennt die Frau eine
"gute Mutter", es nimmt zu Protokoll, dass Sabine H. ihre älteren Kinder
geliebt und umsorgt hat. Es ist dieselbe Frau, die neun ihrer Kinder als
Säuglinge sterben ließ.
Das Landgericht in Frankfurt (Oder) verhandelt zum zweiten Mal gegen die
42-Jährige Frau. Im Juni 2006 hatte die Strafkammer sie zu 15 Jahren Haft
verurteilt - wegen "Totschlags durch Unterlassen" in acht Fällen, ein
neunter Fall ist verjährt. Im Berufungsverfahren geht es nun um die Frage,
ob die Mutter voll schuldfähig war. Für heute wird das Urteil erwartet.
Sabine H. hatte im ersten Prozess beharrlich geschwiegen. Jetzt aber äußert
sie sich zu den Taten. Zum ersten Mal gibt sie Einblick in die Umstände des
Falls, der einzigartig ist in der deutschen Rechtsgeschichte.
Sabine H. richtet sich auf, schaut der Richterin in die Augen, soll
begreifbar machen, wie die Taten hineinpassen in ihr Selbstbild als
liebevolle Mutter. "Ich verstehe mich doch selbst nicht", sagt Sabine H.
Sie spricht leise, wendet sich ab vom Saal. Die Hände, die mehr verraten
könnten, behält sie unter der Bank. Nur ihre Schultern zucken, drehen sich
vor und zurück, als wollten sie sich herauswinden aus diesem Saal, diesem
Gericht, diesem Leben. Oft sagt sie "man", wenn sie von sich spricht, nicht
"ich" oder "wir". Als wäre ihr Leben etwas, was außerhalb von ihr
stattgefunden hat.
Vielleicht hätte man mehr über ihre Gedanken erfahren, wenn in dem neuen
Prozess eine Gutachterin die Mutter beurteilt hätte und nicht ein
Gutachter. Wenn Sabine H. all die Details über Geburt und Schmerz und
Eheprobleme mit einer Frau hätte besprechen können statt mit einem Mann im
Pensionsalter.
Bislang aber werden allenfalls die Begleitumstände fassbar. Dass Sabine H.
sich eingesperrt fühlte in einem Alltag als Hausfrau und Mutter. Dass sie
zermürbt war von einer freudlosen Eheroutine. Mit ihrem Mann tauschte sie
kaum mehr ein Wort aus, legte sich aber Nacht für Nacht zu ihm ins Bett.
Ein- oder zweimal pro Woche hätten sie Sex gehabt, "ich denke, wie in jeder
Ehe".
Sabine H. wächst in Brandenburg auf. Sie ist ein begabtes Kind. "Die Schule
ist mir leichtgefallen", sagt sie der Richterin. Die Lehrer drängen sie,
Abitur zu machen. Sie meldet sich für die Erweiterte Oberschule an, geht
dann aber doch nicht hin. Zum ersten Mal zeichnet sich ein Muster ab, das
sich durch ihr Leben zieht - dass der Weg, den sie eigentlich wählen will,
so nahe liegt und sie ihn doch nicht geht.
Sie wird Zahnarzthelferin, obwohl sie lieber einen anderen Beruf ergriffen
hätte. Sie heiratet einen Mann, der sie schon vor der Ehe betrügt und mit
dem sie kaum einen Gedanken austauscht. Als junge Mutter bleibt sie
ganztags zu Hause, obwohl sie gar keine Hausfrau sein wollte, obwohl sie
sich gelangweilt und unterfordert fühlt und "die Kinder in der Kita gut
aufgehoben gewesen wären". Immer hemmungsloser trinkt sie gegen die
Einsamkeit an, in die sie sich gedrängt sieht. Oft kippte sie drei Flaschen
Klaren am Tag.
"Ich habe getrunken, weil ich unfähig war, Probleme zu lösen", sagt sie der
Richterin. Gefangen sei sie gewesen, in einer Ehe ohne Worte. "Heute würde
ich die Sicherung vom Fernseher rausdrehen und sagen: Reden wir mal!"
Damals aber habe sie sich in den Alkohol geflüchtet. "Es war leichter. Dann
hats mich nicht mehr gestört, dass mein Mann nicht mit mir geredet hat."
Der Kreislauf des Sterbens begann 1988. Sabine H. will erst spät bemerkt
haben, dass sie schwanger war. Ihrem Ehemann sagte sie nichts. Denn er, der
nur zwei Kinder gewollt habe, hatte schon bei der Geburt des dritten Kindes
getobt. Sie habe gehofft, er werde sie von selbst ansprechen, gab sie
später an.
Eines Nachts wacht sie auf, geht zur Toilette und hört es plumpsen. Noch
heute sieht sie dieses Bild, sagt sie, wie ein Blitz erscheine es vor ihren
Augen, ein blauhäutiges Kind in einer Keramikschüssel. Sie nimmt das Baby
aus der Toilette, wickelt es in ein Handtuch, bringt es ins Wohnzimmer und
trinkt eine Flasche Wein. Die Leiche vergräbt sie in einem unbenutzten
Aquarium.
Das nächste Kind kam 1992, als Sabine H. auf einem Lehrgang war. Sie gebar
einen Sohn, ließ ihn unversorgt zwischen ihren Beinen liegen. Als ihre
Kollegin ins Zimmer kam, deckte sie ihn zu. Zu Hause vergrub sie das tote
Baby in einer Plastikbadewanne auf dem Balkon.
Immer wieder wurde Sabine H. in den Folgejahren schwanger. Einen
Gynäkologen suchte sie nie auf. Sie fürchtete, er könne die heimlichen
Geburten bemerken. Mit ihrem Mann sprach sie nie über die
Schwangerschaften. Sie fürchtete, er könne sie verärgert verlassen und die
Kinder mitnehmen. Bald verfestigte sich ein Schema: Sobald die Wehen
einsetzen, betrank sie sich, presste den Säugling aus ihrem Körper und ließ
ihn liegen. Ohne Decke, ohne Wärme, ohne Muttermilch. Wenn das Baby nicht
mehr atmete, vergrub sie es in einem Eimer, einer Wanne oder einem
Weidewäschekorb. Die Gefäße stellte sie auf den Balkon. Manchmal pflanzte
sie Petersilie über das Grab.
Als ihr Mann sich schließlich von ihr trennt, muss sie aus der Wohnung
ausziehen. Sie stellt die Gefäße auf dem Grundstück ihrer Mutter ab. Dort
entdeckten Verwandte dann zufällig die Leichen der Babys. Warum hat Sabine
H. sie nicht versteckt? Warum behielt sie die toten Babys immer in ihrer
Nähe? Warum beteuert sie im Gericht, sie habe sich auf "jedes der Kinder
gefreut" - und ließ sie doch sterben?
Dies alles lässt sich nur mutmaßen. Nähert sich das Gespräch den Geburten,
fehlen der Angeklagten, deren Sätze eben noch gewandt dahinglitten,
plötzlich die Worte. Ihre Sätze brechen ab, zerreißen zu Fetzen, lassen
kaum mehr einen Sinn erkennen. "Wenn ich da mehr " "Ich kenn nicht " "Was
meinen Mann betrifft, du wirst es doch " Als ob sich etwas in ihr sträubt,
in das Vergangene einzutauchen. Sie könne sich nicht erinnern, beteuert sie
immer wieder.
Oliver H., 45, einst bei der Stasi beschäftigt, heute arbeitssuchend, ist
der Vater aller toten Kinder. Anders als seine Exfrau saß er bislang nicht
auf der Anklagebank. Er habe von alledem nichts bemerkt, versicherte er der
Polizei. Eine Aussage, die Zweifel aufwirft: Wie realistisch ist es, dass
ein Mann nicht merkt, dass die Frau, mit der er regelmäßig schläft, neunmal
hintereinander immer dicker wird? Wie wahrscheinlich ist es, dass er nie
einen Blutfleck sah, nie ein Stöhnen hörte, wenn seine Frau ein Kind gebar?
Warum wurden Kolleginnen auf die Schwangerschaften aufmerksam - aber er
will nichts geahnt haben?
Erst jetzt, im zweiten Prozess, rückt der Vater stärker ins Blickfeld. Die
Staatsanwälte ermitteln. Denn nun hat Sabine H. ihren Mann doch noch
belastet: Bei einem Streit 1999 oder 2000 habe Oliver H. gesagt, sie solle
bloß nicht glauben, er habe von den Schwangerschaften nichts gewusst. So
sagt sie es der Staatsanwältin. Später gab sie zu Protokoll, schon Anfang
der Neunziger habe er in einem Gespräch gemutmaßt, sie hätte heimlich ein
Kind abgetrieben - auch das ein Hinweis darauf, dass er die Veränderungen
im Körper seiner Frau bemerkt haben könnte.
Stimmen diese Aussagen, dann würde umso rätselhafter, was tatsächlich in
der Wohnung der Wöchnerin geschah. Bisher hatten die Richter angenommen,
Sabine H. sei trotz der Schnäpse und Weine voll schuldfähig gewesen. Sonst
hätte sie nicht so sorgsam alle Spuren verwischen können, dass nicht einmal
der eigene Mann die Geburten bemerkte. Was aber, wenn das gar nicht stimmt?
Wenn der Kindsvater sehr wohl etwas sah, vielleicht sogar mit anpackte, um
die Säuglingsleichen zu verstecken? Dies wird sich bis zum Urteil kaum
klären lassen. Den Antrag des Verteidigers, das Verfahren so lange
auszusetzen, bis die Rolle der Vaters von insgesamt 12 Kindern der Sabine
H. abschließend beurteilt ist, lehnte das Gericht am vergangenen Montag ab.
Die neuen Hinweise aber werfen auch ein neues Licht auf die Beweggründe der
Mutter. Die Staatsanwältin bohrt nach, pocht auf die Logik. Wenn ihr Mann
ohnehin etwas wusste - welchen Sinn hatte es da, die Geburten vor ihm zu
verheimlichen? Wenn sie die Kinder gewollt hatte - warum versuchte sie nie,
mit dem Mann zu sprechen, den tödlichen Ablauf zu durchbrechen?
Die Frau zuckt mit den Schultern, starrt durch den Saal, am Kopf der
Staatsanwältin vorbei auf die Fensterfront. "Ich würde das gern meinen
großen Kindern erklären können", sagt sie, senkt die Lider und seufzt.
7 Apr 2008
## AUTOREN
Cosima Schmitt
## TAGS
Mutter
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