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# taz.de -- Integration: Erste Hilfe für Frauen wie Hatun
> Seit gut einem Jahr hilft der Verein "Hatun und Can e. V." Frauen, die
> von Gewalt und Zwangsverheiratung bedroht sind, ein neues Leben
> anzufangen
Bild: im Schutz der Anoymität erstmal raus aus der Gefahrenzone
Nesrin Y. (Name geändert) mag das Wort Opfer nicht. "Aber ich bin schon
eins", sagt sie. Die Anfang-zwanzig-Jährige sollte in die Türkei
zwangsverheiratet werden. Ihre Eltern sperrten sie in der Wohnung ein. Sie
wurde rund um die Uhr überwacht. Per SMS nahm Nesrin Kontakt zu dem
Berliner Verein "Hatun und Can e. V." auf. Dessen Vorsitzender Andreas
Becker rief die Polizei. Die befreite Nesrin aus der Wohnung.
Andreas Becker war mit der Deutschkurdin Hatun Sürücü befreundet. Sürücü
fiel 2005 einem Ehrenmord zum Opfer. Ein Bruder der jungen Frau erschoss
sie auf offener Straße. Ihm gefiel der Lebenswandel seiner Schwester nicht.
Sürücü war gegen ihren Willen verheiratet worden. Sie ließ sich scheiden
und lebte allein mit ihrem Sohn Can in Berlin. "Hatun wollte damals weg aus
Berlin", sagt Becker. Sie habe aber kein Geld gehabt. Es sei unmöglich
gewesen, die Auflagen des Sozialamts zu erfüllen. Nach dem Mord an Sürücü
gründete Becker "Hatun und Can", um andere Frauen vor dem gleichen
Schicksal zu bewahren. Der Verein hilft seit Februar 2007 Frauen, die von
Gewalt oder Zwangsehen bedroht sind.
Becker ist stolz auf die unbürokratische Arbeitsweise seines Vereins. "Das
Einzige, was in so einer Situation hilft, ist ein schneller Ortswechsel",
sagt er. "Erstmal müssen die Frauen raus aus der Gefahrenzone", bekräftigt
seine Mitstreiterin Zolzer, die ihren Vornamen aus Anonymitätsgründen nicht
nennen will. Alles andere könne man auch später regeln. "Hatun und Can"
besorgt Zugtickets für Hilfesuchende und vermittelt ihnen eine sichere
Bleibe für die ersten Tage. Manchmal schaltet Becker auch die Polizei ein,
wie in Nesrins Fall.
Wenn die Hilfesuchenden ihre Familien verlassen haben, lässt "Hatun und
Can" sie zunächst im Melderegister sperren. Angehörige können so nicht mehr
erfahren, wo sie sich aufhalten. Außerdem hilft der Verein beim zur Wahrung
der Anonymität nötigen Wechsel der Versicherung und dem Neuanfang in einem
selbstständigen Leben. Das kann die Beantragung von Hartz IV sein oder die
Suche nach einer eigenen Wohnung. Dabei sollen die Frauen so viel wie
möglich alleine schaffen. "Wenn sie vorher in einer Art goldenem Käfig
gelebt haben, ist das eine große Umstellung", sagt Zolzer. Der Verein
helfe, soweit das Budget dies zulasse. Laut Becker konnte bisher in 135
Fällen Soforthilfe geleistet werden. Meistens wenden sich Frauen an den
Verein. "Wir haben aber auch einem schwulen Pärchen geholfen, das von den
Familien bedroht wurde", sagt Zolzer. Finanziert wird die Arbeit
ausschließlich durch private Spenden. 70.000 Euro sind im letzten Jahr
zusammengekommen. "Eine Spende erreichte uns sogar aus Japan", sagt Becker.
Die Mitarbeiter von "Hatun und Can" helfen ehrenamtlich. Ein Kern von 17
Mitgliedern kümmert sich bundesweit um bedrohte und verfolgte Frauen.
Becker ist ein Praktiker. Er hat Jura studiert, aber nicht abgeschlossen.
"Ich war jahrelang in einer Kanzlei der Mann fürs Praktische", sagt er. Er
kümmerte sich vor allem um die Behördenkontakte. Die sind für "Hatun und
Can" ebenfalls wichtig. Auch in der Betreuung der jungen Frauen setzt
Becker zuerst auf Praxiserfahrungen. Keiner der Helfer bei "Hatun und Can"
ist ausgebildeter Sozialpädagoge. "Wir haben durch unsere Arbeit eine Menge
Erfahrungen gesammelt", sagt er. Das reiche aus. Seine Kollegin Zolzer
sieht dies gerade als Plus. "Wir gehen als Menschen auf die Frauen zu",
sagt sie. "Wir dringen nicht ein."
Für viele Frauen ist das Alleinsein nach der Flucht das größte Problem.
"Wenn sie plötzlich auf sich gestellt sind, klappen viele einfach
zusammen", sagt Zolzer. Allein kann "Hatun und Can" die Frauen jedoch nicht
auffangen. Der Verein arbeitet deshalb zunehmend mit professionellen
Hilfseinrichtungen zusammen. "Wir kooperieren mit dem Weißen Ring und haben
Kontakte zu Frauenhäusern in ganz Deutschland", sagt Zolzer.
In Berlin arbeitet "Hatun und Can" außerdem mit der deutschtürkischen
Einrichtung "Papatya" zusammen. Die Kriseneinrichtung bietet jungen
Migrantinnen Schutz, die von ihren Familien bedroht werden. "Hatun und Can"
vermittelt häufiger Hilfesuchende an "Papatya" weiter. "Die Helfer sind
keine Fachleute", sagt eine Mitarbeiterin von "Papatya", die aus
Sicherheitsgründen persönliche Anonymität wahrt. "Aber der Verein ist eine
vorbildliche Initiative von Bürgern. Vor allem in der kurzfristigen
finanziellen Unterstützung ist er klasse."
Nesrin lebt seit ihrer Flucht aus einer westdeutschen Kleinstadt allein. Zu
ihrer Familie hat sie keinen Kontakt mehr. "Hatun und Can" hat ihr in
Berlin eine Wohnung vermittelt und die Einrichtung finanziert. Sie komme
gut zurecht, sagt Nesrin. Sie ist immer in Bewegung. Tagsüber arbeitet sie
in einer Werbeagentur. Danach geht sie ins Fitnessstudio. Bis um
Mitternacht manchmal. Am nächsten Morgen wieder zur Arbeit. "Ich versuche,
mein Leben zu genießen."
Es sind Kleinigkeiten, die sie glücklich machen. Sich morgens zu schminken
zum Beispiel. Nach außen will sie sich ihre Wut und den Schmerz nicht
anmerken lassen. "Aber natürlich denke ich viel nach", sagt Nesrin. "Ich
frage mich, warum meine Familie das gemacht hat. Aber ich werde nie eine
Antwort bekommen." Für die Zwangsehe ihrer Tochter sollte Nesrins Familie
mehrere tausend Euro kassieren. "Geld ist Macht", sagt Nesrin resigniert.
Die Angst, dass ihre Familie sie finden könnte, ist immer präsent. Aber
daran mag Nesrin nicht denken. "Wenn sie kommen, kann ich immerhin sagen,
ich hab es versucht."
9 Apr 2008
## AUTOREN
Lisa Thormählen
## TAGS
Fußball-WM
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