# taz.de -- 40 Jahre Attentat auf Rudi-Dutschke: Dreifache Aggression der Westb… | |
> Die Studentenbewegung um Rudi Dutschke wollte das Volk mitreißen,doch das | |
> reagierte mit Hass. Und der war nirgends stärker als in Westberlin. | |
Bild: Eine Westberliner Geschichte: Rudi Dutschke. | |
Früher, als man sich noch mit der Geschichte revolutionärer Bewegungen | |
beschäftigte, fiel, wenn es um historische Parallelen zur Berliner | |
Studentenbewegung der Sechzigerjahre ging, oft der Name Narodniki, aus dem | |
Russischen narod, dem Volk. Dieser Vergleich zielte darauf ab, eine | |
wesentliche Gemeinsamkeit zu verdeutlichen: die vergebliche Sehnsucht. | |
Die Narodniki, russische Revolutionäre des 19. Jahrhunderts, hatten in den | |
Bauern eine unverfälschte, revolutionäre Kraft erblickt, die sie aus der | |
Ohnmacht und der Passivität aufwecken wollten. Die Narodniki waren fast | |
durchweg Kinder der gebildeten Kleinbourgeoisie, die die verhasste | |
zaristische Autokratie stürzen wollten. In Gruppen zogen sie aufs Land, um | |
die landlosen Bauern zur Revolte aufzurufen. Aber ihre Erfolge blieben | |
bescheiden. Oft wurden sie denunziert, oft verprügelt und verjagt. Zwar | |
hatten die Bauern keinerlei Illusionen über ihre elende, auswegslose Lage. | |
Aber das Vertrauen in die gottgewollte Herrschaft des Zaren und der | |
Orthodoxie obsiegte. Aus den Reihen der Narodniki entwickelte sich später | |
die geheime terroristische Organisation Narodnaja Wolja, die vergeblich | |
versuchte, mit Attentaten auf hohe Angehörige der Elite die Massen zur | |
revolutionären Aktion aufzurütteln. | |
Trotz der offensichtlichen historischen Unterschiede ist der Vergleich der | |
Studentenbewegung mit den Narodniki insofern aufschlussreich, als er | |
Einblicke in die Mentalitätsgeschichte eröffnet, also auf die Ideen, | |
Haltungen und Gefühle aller beteiligten Akteure. | |
Das Attentat auf Rudi Dutschke am Gründonnerstag des Jahres 1968 ist nur | |
erklärbar, wenn man es als Zuspitzung einer Geschichte sieht, die von | |
enttäuschten Hoffnungen und Frustrationen, von Angst und von Aggressionen | |
handelt. Diese Geschichte spielt in Westberlin, und nur von dieser Stadt | |
soll nachfolgend die Rede sein, denn nirgendwo sonst kam der Antagonismus | |
zwischen den "Narodniki" und der Bevölkerungsmehrheit so deutlich zum | |
Ausdruck wie hier. | |
Versuchen wir, uns zu vergegenwärtigen, woher der beispielslose Hass kam, | |
mit dem die große Mehrheit der Westberliner Bevölkerung "ihre" Studenten | |
überzog. Denn die Hetze des Springerkonzerns im Vorfeld des Attentats auf | |
Rudi Dutschke konnte nur auf einem bereits bestellten Feld starker | |
Emotionen gedeihen. | |
Die Nachkriegsgeschichte der Westberliner kristallisierte sich in zwei | |
zentralen Daten: der Berliner Blockade durch die Sowjetunion im Jahr 1948 | |
und dem Bau der Mauer im Jahr 1961. 1948 bietet das Material für eine | |
Heldengeschichte, die von Mut und Standhaftigkeit angesichts eines | |
scheinbar übermächtigen Angreifers handelt. Diese Heldengeschichte prägt | |
das Selbstbild der Westberliner Bevölkerung. Man fühlt sich im Zentrum des | |
Weltgeschehens, des Ost-West-Gegensatzes, und ist es eine Zeit lang | |
tatsächlich. 1961 aber muss die Berliner Bevölkerung hinnehmen, dass die | |
amerikanische Schutzmacht den Mauerbau nicht verhindern kann und in der | |
Folge die öffentliche Aufmerksamkeit für Westberlin stetig abnimmt. Dies | |
ist die erste große Frustration. | |
Westberlin erlebt in der Nachkriegszeit einen zunächst schleichenden, nach | |
1961 dann reißenden Prozess der Deindustrialisierung. Die steuerlichen | |
Begünstigungen, die Investitionszulagen orientieren sich nicht an der | |
Wertschöpfung, sondern am Umsatz. Oft wird nur die letzte Fertigungsstufe | |
nach Berlin gegeben, um dort die Staatszuschüsse abzugreifen. Die Stadt | |
wird zur verlängerten Werkbank, traditionelle industrielle Fertigungen | |
werden verlagert, nur der öffentliche Sektor wächst unaufhörlich. | |
Westberlin wird zum Kostgänger des Bundes. Aber die Bundesrepublik, "die | |
Westdeutschen", wie sie hier genannt werden, mag man hier trotzdem oder | |
gerade deswegen nicht. Sie gelten als Produkte einer satten Geistesart, | |
sind das faule Fleisch zu Bonn, das sich um die Freiheit der Berliner nicht | |
schert. Hier ist die zweite große Frustration. | |
Angesichts der Abwanderung, der schmählichen Flucht so vieler | |
Wissenschaftler und Künstler nach 1961 aus Westberlin kommt den | |
verbliebenen Institutionen der Lehre und Forschung besondere Bedeutung für | |
das Selbstbewusstsein zu. Die Freie Universität Berlin ist selbst insofern | |
Bestandteil des Heldenepos von 1948, als sie sich von der unter | |
sowjetischer Kontrolle befindlichen Humboldt Universität lossagt und eine | |
Neugründung in Westberlin wagt. Mit amerikanischer Hilfe entsteht eine | |
Institution, die sich dem kritischen Forschergeist verschreibt, begrenzte | |
studentische Mitwirkung in den Gremien zulässt und last but not least einer | |
Reihe von Professoren, die von den Nazis in die Emigration gezwungen | |
wurden, eine neue Heimstatt bietet. | |
Mochte die Studentenbewegung anfangs noch mit einer verwunderten Neugier | |
beäugt werden, so ändert sich dies schlagartig, als der studentische | |
Protest sich auf die Straßen der Westberliner Innenstadt verlagert und die | |
Aufmerksamkeit der Medien auf sich zieht. Schier unerträglich wird das | |
studentische Treiben aber, als mit dem Protest gegen den Krieg der | |
Amerikaner in Vietnam die Westberliner ihr Selbstbild an einer zentralen | |
Stelle bedroht fühlen. Da ihre Selbstbehauptung nur mit Hilfe der USA | |
gelungen war, gilt es jetzt, den Amerikanern beizustehen. Deshalb wird die | |
Kritik an der amerikanischen Intervention in Vietnam als Verrat angesehen, | |
als Verrat an den USA und als Verrat an Westberlin. Der sich ausweitende | |
Protest gegen den Vietnamkrieg ist die dritte große Frustration. | |
Es war diese dreifache Frustration, die die Aggression so vieler | |
Westberliner gegen die studentischen Rebellen befeuert. | |
Die Studentenschaft aller Berliner Universitäten und Hochschulen rekrutiert | |
sich von Anfang an unter politischen Vorzeichen. Dazu gehört neben dem | |
demokratischen Leumund von FU und TU vor allem jener Zuzug männlicher | |
Studenten, die sich der 1957 in der Bundesrepublik eingeführten allgemeinen | |
Wehrpflicht entziehen wollen. Das Kunterbunt der Dialekte auf dem Campus | |
wie in der Stadt (mit Oberton des Schwäbischen) stört die Westberliner | |
Insulaner zunächst nicht, dies um so mehr, als sie sich in der Trauer um | |
den ermordeten amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy mit den Studenten | |
vereint wähnen. Später aber, als diese Studenten nach dem Tod von Benno | |
Ohnesorg ausschwärmen, um der Bevölkerung ihre politischen Ziele zu | |
erklären, wird die westdeutsche Herkunft der Studenten zu einem weiteren | |
Element der Fremdheit und Ablehnung. | |
Woher rührte das erstmals nach dem 2. Juni 1967 sichtbar gewordene | |
Bedürfnis der linken Studenten, sich einer Bevölkerung zu erklären, deren | |
Feindseligkeit so offensichtlich war? Woher kam dieses Narodnikitum? | |
In der Frühzeit der Studentenrevolte hing deren linker Kern, hauptsächlich | |
der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS), einer Vorstellung von | |
Produzentendemokratie an, die sich von den jugoslawischen Arbeiterräten | |
ebenso beeinflussen ließ wie von den israelischen Kibbuzim. Im Verlauf der | |
Studentenbewegung festigte sich die Kritik an der repräsentativen | |
Demokratie. Die positive Erfahrung mit den studentischen Vollversammlungen | |
und Teach-ins, wo trotz massenhafter Teilnahme in den ersten Jahren ein | |
funktionierender Entscheidungsprozess ablief, lieferte ein positives Bild | |
zu den als erstarrt empfundenen Vertretungsformen in Staat und | |
Gesellschaft. Zum treibenden Motiv wurde der Gedanke der gesellschaftlichen | |
Selbstorganisation, den es nun den Lohnabhängigen zu vermitteln galt. 1968 | |
entwickelte sich in Berlin die Bewegung der Basisgruppen, die, meist an | |
Großbetriebe angelehnt, im Bündnis von Studenten und Arbeitern Keimformen | |
der proletarischen Selbstorganisation schaffen wollten. | |
Die rebellierenden Studenten unterstellten bei der arbeitenden Bevölkerung | |
ein Bedürfnis nach selbstbestimmter Arbeit, das bislang nur durch | |
Resignation und Gefühle der Ohnmacht gefesselt gewesen sei. Deshalb sollte | |
die Studentenbewegung an den Unis ein Beispiel sein, ein "Lehrstück". | |
Zugleich sollte das studentische Engagement in den Betrieben, | |
Lehrwerkstätten, Krankenhäusern, Schulen die Unruhe in die Institutionen | |
tragen und die Basis der Revolte verbreitern. Dieser Motivschub war eben | |
deshalb so stark und so anhaltend, weil er auf Selbstbestimmung setzte und | |
zunächst eine Reihe von Anfangserfolgen zeitigte. Vorschnell wurde aus | |
jedem dieser Erfolge eine gesellschaftliche Tendenz abgeleitet. | |
In dieser Situation, in der starke Aggressionen und starke Hoffnungen | |
gegeneinander standen, spielte in Westberlin die etablierte Politik sowie | |
die vom Springerkonzern dominierte Massenpresse eine unheilvolle Rolle. | |
Diese Politik verstärkte die in der Westberliner Gesellschaft virulenten | |
Bestrafungs- und Reinigungswünsche, wobei das Bild vom ungewaschenen | |
"langhaarigen Affen" die gewünschte Wirkung zeigte. Auch die stereotype | |
Ausschlussformel "Geht doch nach drüben!" fand offiziöse Billigung. Darin | |
zeigte sich eine Zwangszuordnung zum Feind (den ostdeutschen Kommunisten) | |
und die Hoffnung, die Realsozialisten würden den Rebellen schon Mores | |
lehren. Am folgenreichsten aber war der kaum verhüllte Aufruf zur | |
Selbstjustiz, der sich in der Springer-Presse ebenso fand wie in den Reden | |
führender Westberliner Politiker. | |
Den Meinungsmachern reichte es bei dieser innerstaatlichen Feinderklärung | |
nicht aus, die linken Studenten als Kommunisten abzustempeln. Sie mussten | |
außerdem noch Nazis sein, "rotlackierte Faschisten". Warum? Rot gleich | |
Braun, das entsprach der staatstragenden Totalitarismusthese und diente | |
dazu, zögernde Liberale in die Diffamierungsfront einzugliedern. | |
Diese Propaganda war nicht allzu erfolgreich, rief aber empörte Reaktionen | |
bei Altnazis hervor, die es, wie ein Leserbriefschreiber des Schwarzwälder | |
Boten, von Anfang 1968 zurückwiesen, "mit den Teufels, Dutschkes und | |
anderen ungewaschenen LSD-Schluckern in einen Topf geworfen zu werden. Die | |
SA war der Aufstand der Anständigen gegen den damals auf allen Gebieten | |
zutage getretenen Zerfall". | |
Ein alter SA-Mann und ehemaliger Kampfflieger war auch der kriegsversehrte | |
Rentner Friedrich-Wilhelm Wachau, der Dutschke in der Weihnachtsnacht 1967 | |
in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche mit seiner Krücke traktierte und am | |
Kopf verletzte. Vor dem Osterattentat gab es mehrerer solcher Angriffe von | |
Nazis und Rechtsradikalen auf Dutschke. Sie zeigten, dass mörderische | |
Energien erst zu einem Zeitpunkt freigesetzt wurden, als die Täter sich als | |
Vollstrecker eines durch Medien und Politiker ausgesprochenen vorgeblich | |
allgemeinen Willens fühlen konnten. Wie es der Philosoph Theodor Adorno und | |
13 seiner Kollegen nach dem Attentat formulierten: "So isoliert die | |
Hintergründe des Mordanschlags auf Rudi Dutschke auch scheinen mögen, sie | |
enthüllen den Zustand unserer Gesellschaft. Angst und mangelnde | |
Bereitschaft, die Argumente der studentischen Opposition ernstzunehmen, | |
haben ein Klima geschaffen, in der die gezielte Diffamierung einer | |
Minderheit zur Gewalttätigkeit gegen sie aufreizen muss." | |
11 Apr 2008 | |
## AUTOREN | |
Christian Semler | |
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