# taz.de -- Pro - Warum uns ein Dutschke fehlt: Utopie und subversive Praxis | |
> Auch wenn der Pathos von damals überholt ist: Langfristige Utopien und | |
> zivilen Ungehorsam können wir nach zwanzig Jahren neoliberaler Politik | |
> gut gebrauchen. | |
Bild: Wollte kein Experiment unversucht lassen: Rudi Dutschke. | |
Historische Vorbilder sind nicht wirksam, weil wir sie kopieren wollen oder | |
können. Sie sind wirksam, weil wir uns an ihnen orientieren, weil sie uns | |
Modelle und Möglichkeiten zeigen. So wurde Rosa Luxemburg zu einer | |
Symbolfigur der Linken, weil sie voll revolutionären Elans war und doch nie | |
ihre Humanität verlor. In den Zeiten des barbarischen Ersten Weltkrieges | |
und in den brutalen Wochen des deutschen Bürgerkrieges 1918/19 bewahrte sie | |
Menschlichkeit, Mitleid und Empathie. Ähnliches gilt für Rudi Dutschke. Er | |
war radikaler Tribun, er war auch wütend und verbittert, und verlor doch | |
nie seine Zärtlichkeit. Genau darin ist er bis heute ein Vorbild: Er | |
verband radikale Politik mit Sanftmut. | |
Faszinierend an Dutschke ist bis heute auch seine ethische Grundfestigkeit. | |
Die hat mit seinem protestantischen Hintergrund zu tun, aber auch mit der | |
Tatsache, dass er Unfreiheit in Ost und West erlebte, ihr zu entfliehen und | |
sie zu bekämpfen suchte. Wer wäre Dutschke heute? Es gibt viele Beispiele | |
dafür, wie sehr die Zeit Personen verändert. Doch Dutschke war so sehr von | |
einer emanzipatorischen Ethik durchdrungen, dass man sich ihn auch mit viel | |
Fantasie nicht als Minister vorstellen kann, der Hartz IV durchsetzt oder | |
Angriffskriege plant. | |
"Es bedarf in der Tat der Hoffnung, Phantasie und des Traums, um die | |
bestehenden Verhältnisse transzendieren zu können", schrieb er in den | |
späten 70ern. Ja, er war ein Radikaler und ein Utopist - und beides ist | |
heute noch ebenso wichtig wie damals, vielleicht sogar noch wichtiger. Es | |
gilt gerade heute radikal, bis an die Wurzeln gehend, die Ungerechtigkeit | |
der herrschenden Verhältnissen zu analysieren. Sind nicht gerade in Zeiten, | |
in denen der lange dominante Diskurs des Neoliberalismus kriselt, | |
utopische, vorwärtsweisende Gegenvorschläge gefragt? | |
Dutschke verband seine Utopie mit einer subversiven Praxis, die im Hier und | |
Jetzt einen Bruch mit repressiven Verhältnissen markiert. Die bewusste | |
Grenzüberschreitung, der zivile Ungehorsam, den Dutschke durchdacht und | |
praktisch verwirklich hat, ist bis heute ein Leitfaden für jede soziale | |
Bewegung, die die Verhältnisse zum Tanzen bringen will. Was wären die | |
Proteste gegen den G-8-Gipfel in Heiligendamm 2007 ohne die massenhaften, | |
zuvor angekündigten Blockadeaktionen gewesen? Kritisches Engagement braucht | |
subversiven Ungehorsam, so wie ihn Dutschke vorgedacht - und gelebt hat. | |
Dreh- und Angelpunkt seines Denkens war die Selbstemanzipation der | |
Menschen. Dutschke steht für eine Linke, die nicht staatsfixiert ist, die | |
auf die Fähigkeit der Menschen setzt, sich selbst und so auch die | |
Gesellschaft zu verändern. In seinem Text "Keiner Partei dürfen wir | |
vertrauen" benutzt er die Formulierung von einer "sozialen Demokratie von | |
unten und für unten", die sich als Leitformel für emanzipatorische Politik | |
eignet. Diese Spur findet sich in der globalisierungskritischen Bewegung | |
und im Geiste des Weltsozialforums von Porto Allegre wieder. | |
Vieles, was Dutschke und seine GenossInnen umstürzen wollten, wurde | |
umgestürzt, oft ohne dass sie es damals schon merkten. Vieles, was sie für | |
möglich hielten, war jenseits des Realistischen. Das Pathos der damaligen | |
Reden und auch Dutschkes ungebremster Voluntarismus sind uns heute eher | |
fremd. Doch man darf nicht übersehen, dass Dutschke vor allem langfristig | |
dachte. Gerade weil es um grundlegenden Wandel ging, verband er Radikalität | |
mit Geduld. Manches bei Dutschke ist überholt. Doch die Idee, eine auf | |
unmittelbarer Subversion basierende kritische Praxis mit einer | |
langfristigen Tranformationsperspektive für die Gesellschaft zu verknüpfen, | |
ist für die neupolitisierte Globalisierungsgeneration goldrichtig. | |
Dutschke unterschied sich in einem wesentlichen Punkt von dem | |
linksradikalen Mainstream der 70er- und 80er-Jahre: Er wollte nie die | |
Abschottung des eigenen Milieus, sondern dessen Öffnung. Er suchte | |
gesellschaftliche Bündnisse und hielte stets an der Idee fest, die | |
sogenannten normalen Bürger zu erreichen. Dieses Projekt musste in der von | |
Antikommunismus und Sozialpartnerschaft tief geprägten Bundesrepublik der | |
60er- und 70er-Jahre scheitern. Doch heute, nach zwanzig Jahren | |
neoliberaler Politik und in Zeiten von Hartz IV und der Debatte über Armut, | |
steht genau dieses Projekt auf der Tagesordnung - nämlich kein Experiment | |
unversucht zu lassen, um die "einfachen Leute" für emanzipatorische Politik | |
zu begeistern. | |
11 Apr 2008 | |
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