# taz.de -- Was in Istanbul alles geht: Neid auf die türkische Dynamik | |
> Von Istanbul lernen - heißt das, diesen Bürgerbeteiligungsscheiß zu | |
> lassen und überall Betonburgen hinzuklotzen? | |
Bild: Istanbul: Etwas Öderes als Berlin kann man sich dort nicht vorstellen. | |
Ich begegne Ulus auf der Straße. Ich saß nach dem Genuss eines labbrigen | |
Cheeseburgers noch einige Minuten im Neonlicht und las eine alte BZ. Als | |
ich aus dem Imbiss komme, telefoniert er gerade und zeigt in Richtung der | |
Gaststätte Ankerklause. Dort bestellen wir große Becher Bier und plaudern | |
darüber, wie wir unsere Tage verbringen; wir sind uns nicht sicher, ob das | |
Leben in Berlin noch anders ist als dort, wo wir nicht mehr sein wollten: | |
in Mörfelden-Walldorf oder Hamburg-Eppendorf. | |
Ulus meint, es sei eine Zeit des Kräftesammelns - es gibt gerade nichts zu | |
tun. Wir legen bloß Archive an mit allem, was wir am Wegesrand finden. "In | |
der Filmförderung gibt es mehr Mittel als bei der Literatur." Ein | |
wertvoller Hinweis, ich schreibe ihn aber nicht in meinen Notizblock. | |
Abwarten. Ulus trifft morgen eine Türkin, die er auf einem Portal der | |
Berlinale kennen gelernt hat und die zu den türkischen Filmwochen in der | |
Stadt ist. Ich grinse und frage ihn, ob er nach seinen Wurzeln suche - so | |
wie in den Fatih-Akin-Filmen. Der Witz versagt. Ich selbst bin etwas | |
verärgert über mich, weil meine Istanbuler Übernachtungsadressen infolge | |
mangelnden Networkings rar geworden sind. | |
Während die Türken hier von den selbsternannten Ureinwohnern nur noch als | |
Gemüsehändler wahrgenommen werden, die nicht mehr kommunistisch, sondern | |
islamistisch drauf sind, retten die Einwandererenkel und Kreativen aus | |
Istanbul hier die Stimmung im Kiez. Schon ihren Eltern blieb nichts anderes | |
übrig, als Händler zu werden, nachdem man sie aus den Berliner Betrieben | |
rausgeschmissen hat. Derweil mausert sich das deutsche Kreuzberg zu einer | |
dauertrunkenen Parallelgesellschaft in Kellerkneipen, wo halbgebildete | |
DuMont-Leser ihren Rassismus hinter dämlichen Bemerkungen, wie "die Türken | |
in Istanbul sind ja auch viel moderner als unsere" tarnen. Sie warten, dass | |
alles (wieder) gut wird. Gleichzeitig wird hier pseudo-bürgerbeteiligt eine | |
Restauration nach der anderen zwischen die ökologischen "Hausprojekte" | |
gestampft, deren Bewohner das genauso wenig interessiert wie all die | |
hirnverbrannten Großbauten der Stadt und die Menschen, die darin nur stören | |
können. | |
In Istanbul, das demnächst genauso großkotzig restaurativ aussieht wie | |
Berlin - nur dass es dort schneller geht, weil man sich nicht so um Mieter- | |
und Anwohnerprobleme zu kümmern hat wie hier -, bleibt die Stimmung | |
(aus-)gelassener. Partizipatorische Spekulation ist noch ein Fremdwort, das | |
dort gerade von zahlreichen Berliner Urbanisten eingeführt wird, um | |
Projekte zu verwirklichen, weil es hier so langweilig geworden ist. Mal | |
wird versucht, die Vertreibung von tausenden Roma zu verhindern, dann | |
wieder bekämpft eine Gruppe den Abriss eines alten Bezirks, der | |
Luxusapartments weichen soll. Doch eigentlich neiden wir der Stadt diese | |
Dynamik. "Learning from Istanbul" heißt, diesen ganzen | |
Bürgerbeteiligungsscheiß einfach zu ignorieren und überall Betonfelsen | |
hinzuklatschen. | |
Im vergangenen Jahr lebte ich mit zwei Mädchen in Istanbul zusammen. | |
Ständig schliefen junge Leute aus ganz Europa bei uns und der Hausmeister | |
rächte sich, indem er die Zwiebelernte seines Bruders auf unserer Terrasse | |
trocknete und eine Benutzung damit unmöglich machte. Überall schossen | |
Hochhäuser samt illegaler Stockwerke in den Himmel. An der U-Bahn entstand | |
das größte Shopping-Center Europas, das vom "Raumschiff Enterprise" aus | |
gesehen aussieht wie die Hauptstadt vom Planeten Vulkan und neben dem die | |
letzten bäuerlichen Gebäude wie kleine Boote wirken, die auf hoher See an | |
einem Dampfer zerschellen. | |
Wir trafen uns mit Leuten, die das Verschwinden gewachsener, kleinteiliger | |
Strukturen bekämpften, eine Bekannte wiederum nahm ein Praktikum in einem | |
der expandierenden Architekturbüros an, das mit Sir Norman Foster im Norden | |
der Stadt eine neue "City" baut. Musti schmiss sein Architekturstudium in | |
diesen Tagen und Saydam wollte mitziehen, weil er den Uni-"Kindergarten" | |
nicht mehr ertrug und fand, dass man keinen Abschluss brauche, "du kannst | |
einfach arbeiten". | |
Es gibt einen Aufstiegszwang, "dem man sich hier nicht verweigern kann", | |
wie mir Murat sagte, der bei Siemens Istanbul arbeitet. Er plant einen | |
Perspektivwechsel, denn er soll nach Deutschland gehen, um weiterzukommen, | |
und da will er auf keinen Fall hin, schon gar nicht nach Berlin. Etwas | |
Öderes kann man sich dort nämlich gar nicht vorstellen. Hier macht einem | |
die abschmierende Mittelschicht schlechte Laune, weil man sie dauernd zum | |
Bier einladen muss, während sie sich in Istanbul gerade einem | |
ausschweifenden Konsumismus hingibt. Nur Seyrans Schwester soll bald zum | |
Drogenentzug nach Berlin kommen. Aber keiner will sie begleiten. | |
15 Apr 2008 | |
## AUTOREN | |
Antonia Herrscher | |
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